20 Jahre nach dem Fall der Mauer

Moderation: Florian Felix Weyh |
Nur wenige welthistorische Ereignisse geschahen so unerwartet wie der Mauerfall vor 20 Jahren. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk schildert in seinem Buch "Endspiel" die Revolution von 1989 in der DDR. Die Autorin Susanne Schädlich beschreibt in ihrem Buch "Immer wieder Dezember" ihre Kindheit in der DDR und erzählt über ihre Familie und die jahrelange Stasi-Bespitzelung durch ihren Onkel. Ilko-Sascha Kowalczuk und Susanne Schädlich stellen im Gespräch mit Florian Felix Weyh ihre Bücher vor.
Nur wenige welthistorische Ereignisse geschahen so unerwartet wie der Mauerfall vor 20 Jahren. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk schildert in seinem Buch "Endspiel" die Revolution von 1989 in der DDR. Die Autorin Susanne Schädlich beschreibt in ihrem Buch "Immer wieder Dezember" ihre Kindheit in der DDR und erzählt über ihre Familie und die jahrelange Stasi-Bespitzelung durch ihren Onkel. Ilko-Sascha Kowalczuk und Susanne Schädlich stellen im Gespräch mit Florian Felix Weyh ihre Bücher vor.

Florian Felix Weyh: Zu Gast im Studio bei dieser Lesart Spezial am Ostersonntag sind die Schriftstellerin und Übersetzerin Susanne Schädlich, schönen guten Tag, Frau Schädlich, und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Er arbeitet in der Birthler-Behörde und war Mitglied der Enquetekommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur". Beide Gäste leben in Berlin. Beide haben dieses Frühjahr neue Bücher herausgebracht, die thematisch viel miteinander zu tun haben, so habe ich es beim Lesen jedenfalls empfunden, und es wird sich sicher ein interessantes Gespräch für die nächste halbe Stunde ergeben.

Ich nenne kurz die Titel, damit wir eine Orientierung haben. "Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich" von Susanne Schädlich ist im Droemer Verlag erschienen. Ein seltsamer Titel, Frau Schädlich wird ihn bestimmt gleich erläutern. Und "Endspiel", auch das hat bei mir sofort eine literarische Assoziation ausgelöst, das Endspiel von Samuel Beckett, "Die Revolution von 1989 in der DDR" von Herrn Kowalczuk ist im Verlag C.H. Beck erschienen.

In Ihrem Buch, Herr Kowalczuk, bin ich auf ein Zitat gestoßen, das ich bisher nur als Graffiti kannte, und ich war absolut erstaunt darüber, dass das einen historischen Hintergrund hat. Das lautet nämlich: "Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant." Woher kommt der Satz?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Das ist ein Zitat von Hoffmann von Fallersleben aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das ist ein Zitat, ein Spruch, der in Diktaturen, zumal in der SED-Diktatur, sehr verbreitet war und den – ich will nicht sagen, jedes Kind, aber doch viele Menschen kannten und auch immer wieder flott auf der Lippe führten.

Weyh: In welchem Zusammenhang ist der entstanden? War das ein Freiheitslied um die 48er Revolution herum?

Kowalczuk: Es ist von 1841, praktisch aus dem Vormärz. Aber das hat natürlich auch etwas mit der Verfolgung durch die politische Polizei im Vormärz zu tun.

Weyh: Wir sehen, das Denunziantenproblem ist kein junges Problem, sondern ein sehr altes unter den Menschen. Genau da kommen wir sofort zum Buch von Frau Schädlich mit dem seltsamen Titel "Immer wieder Dezember". Dann löst es sich ein bisschen auf: "Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich". Was sind das für Figuren? Worum geht es in dem Buch?

Susanne Schädlich: Es ist einerseits eine Familiengeschichte. Die erzählt meine, unsere Ausreise aus der DDR 1977 in den Westen. Es hat sozusagen mehrere Ebenen. Dann erzählt es die Bespitzelung durch die Stasi, den Verrat meines Onkels, Bruder des Vaters an der Familie, und seine Machenschaften, die schon 75 begannen, 78, ein halbes Jahr nach unserer Ausreise, aber er den Auftrag erhielt, den Vater zu versuchen in die DDR zurückzuholen. Das hat er dann später auch bei mir noch probiert. Es erzählt aber auch die Schwierigkeiten von uns Kindern, sich im Westen zurechtzufinden, zu orientieren, weil wir ja keine Wahl hatten wegzugehen. Es beschreibt also die Platzsuche einer Generation zwischen Ost und West.

Weyh: Man muss nachtragen, Ihr Vater ist ein berühmter Autor, Hans-Joachim Schädlich, Mitunterzeichner der Petition bei der Biermann-Ausbürgerung. Damit begann das Unheil für die Familie.

Schädlich: Damit begann das Unheil für die Familie, ja, sicherlich mit der Biermann-Ausbürgerung oder vielleicht schon ein bisschen vorher. Die Stasi war natürlich auch schon aufmerksam geworden, auch der Bruder meines Vaters, durch die Schriftstellertreffen, die 1974 begannen im Hause Bernd Jentzschs. Grass hatte das initiiert zusammen mit Bernd Jentzsch. Die waren natürlich ständig überwacht. Das war also vielleicht auch schon Auslöser.

Weyh: Der Untertitel "Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich" ist ja eine personale Beziehung, also, Sie und der Onkel. Dieser Onkel ist der wirklich Traurige und Abgefeimte und erschütternd in der Darstellung. Man sieht, wie sehr er verrät von sich aus, ohne gepresst zu werden - das nimmt einen sehr mit. Er ist aber auch ein sehr Vertrauter von der Familie und von Ihnen. Wann ist herausgekommen, dass der Onkel noch im Westen bespitzelt hat? Man hörte schon davon, die Stasi hat auch im Westen ihre Leute gehabt, aber dass Sie als operativer Vorgang weiter behandelt wurden, ist doch für Westdeutsche eher erstaunlich gewesen.

Schädlich: Heraus kam das eigentlich erst 1992, als mein Vater als einer der ersten in die damalige Gauck-Behörde gehen konnte – zusammen mit etlichen anderen, wie Fuchs und Biermann und Gerd Poppe usw., Katja Havemann war dabei – und seine Akten einsah und per Zufall sozusagen über seinen Bruder stolperte, der als IM Schäfer auch im Westen aktiv war.

Weyh: In einer Kritik stand: "Ein Schäfer, der seine Schäfchen ans Messer lieferte." Diese IM-Bezeichnungen sind ja oft sehr seltsam perfide. Hat die Stasi diese Bezeichnungen gewählt oder die IM selber gewählt?

Kowalczuk: Da gab es beide Varianten. Einerseits haben die Führungsoffiziere Vorschläge gemacht, aber ganz oft haben die Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit sich diese Namen auch selber ausgesucht. Da gab es auch teilweise ziemlich perfide Namen als IM. Ich habe jetzt einen gefunden, dass sich eine Frau den Decknamen "Anne Frank" gegeben hat, was also ziemlich böse ist. Manche haben sich "Judas" genannt.

Weyh: Das ist aber schon fast schizophren, sich Judas zu nennen.

Kowalczuk: Man darf nicht vergessen, dass viele IM durchaus auch Krankheitssymptome im psychologischen Sinne hatten. Die haben ganz oft in einer schizophrenen, zweigeteilten Welt gelebt. Viele dieser Namen legen davon auch Zeugnis ab.

Weyh: Ich glaube, dieser Hinweis ist ganz wichtig. In jedem Fall ist Ihr Onkel ja extrem zweigeteilt. Man erlebt ihn als vertrauenswürdige Verwandtschaft, auf Sie als Kind und junge Frau zugehendes Familienmitglied. Gleichzeitig nimmt er sich hier gar nichts, um bei der Stasi auch eine Freundin anzuschwärzen, dass die Fluchthilfe begeht, damit er sie los wird. Können Sie sich solche Sachen psychologisch erklären? Können Sie es überhaupt erklären?

Schädlich: Ich kann es mir psychologisch gar nicht erklären, ich will es mir auch nicht erklären bzw. habe ich auch immer die Befürchtung, dass das als entschuldigendes Moment herangezogen wird. Der konnte ja nichts dafür, der war verrückt. Das halte ich für extrem gefährlich. Das wird ja auch in der Presse betrieben und im Moment viel darüber gesprochen, so dass dann die Umkehrung stattfindet. Die Opfer werden zu Tätern.

Ich halte ihn für einen Täter. Er hat sich dafür entschieden. Er hat es gemacht. Welche psychologischen Krankheitssysteme – wenn es denn überhaupt welche gab – dahinter stehen, kann ich nicht beurteilen.

Weyh: 1992 ist das rausgekommen. Die Familie wusste es seit dem Zeitpunkt. Nun haben wir jetzt 2009. Was ist dazwischen passiert? Warum haben Sie das Buch erst jetzt herausgebracht?

Schädlich: Wenn so was herauskommt, hat man nicht gleich den Impuls darüber ein Buch zu schreiben. Es waren natürlich auch noch andere Sachen im Leben, die wichtig waren. Und ich habe andere Bücher geschrieben. Außerdem dauert es eine Weile, bevor man überhaupt darüber sprechen kann. Das sehe ich auch jetzt immer wieder, wenn mir Leute begegnen, die anfangen, erst jetzt darüber zu reden, was ihnen widerfahren ist. Es ist ein Trauma.

Anlass waren eigentlich die Artikel, die 2006 über ihn erschienen, als öffentlich wurde, dass er IM Schäfer war und im Westen Grass bespitzelt hatte. Der zweite ausschlaggebende Punkt waren dann nach seinem Tode die Veröffentlichungen in der Presse, dass er ja ein "Gentleman-IM" war und eigentlich niemandem geschadet hat, ein "Opfer des Systems". Das hat halt einfach eine Weile gedauert und es musste bestimmte Anlässe geben.

Weyh: Das ist aber auch ein Muster, das ich in Ihrem Buch wiedergefunden habe. Es gibt einen Ablauf. Sie sagen "4 Punkte", wie auch immer die Negationsstrategie der IMs ist. Haben Sie noch parat, welche vier Punkte das sind?

Kowalczuk: Zuerst wird geleugnet. Das ist das erste Muster. Dann wird so viel zugegeben, wie gerade in der Öffentlichkeit bekannt ist. Dann kommt der Klassiker schlechthin, "ich habe ja niemandem geschadet", was kein IM von sich selbst aus einschätzen kann, weil ein IM Informationen geliefert hat, womit die Staatssicherheit dann z.B. Psychogramme erstellt hat.

Um ein Beispiel zu sagen: Wenn man bei einer Frau oder einem Mann, die ordnungsliebend sind, jeden Tag klammheimlich in die Wohnung geht und die Handtücher im Badezimmer nur vertauscht, zerbrechen daran Seelen. Diese Person kann darüber in der Öffentlichkeit auch nicht reden, weil jeder sagen wird, du bist doch total verrückt. So etwas konnte die Staatssicherheit nur machen mit solchen kleinen Informationen.

Das Vierte ist dann in der Regel, dass sie versuchen das dann auch zu vertuschen bzw. kleinzureden. Ich will vielleicht an der Stelle noch eine Sache sagen:

Im Vergleich mit vielen anderen IM-Akten, die ich ja aufgrund meines Jobs in der Birthler-Behörde kenne, dieser IM Schäfer, dieser Karl-Heinz Schädlich, den ich immerhin auch persönlich kannte, ist schon ein wirklich dicker Fisch. Da muss ich Frau Schädlich auch vollkommen unterstützen. Was teilweise in der Presse geschrieben wurde, auch jetzt in ein paar Rezensionen zu ihrem Buch ist das noch mal gekommen, "da war ja gar nichts", das ist wirklich geradezu absurd. Das war wirklich eine ganz besonders üble Nummer.

Schädlich: Es kommt auch immer noch diese Nötigung zu verzeihen dazu. Das haben wir jetzt extrem erlebt. Das war auch in der Presse.

Weyh: Wir müssen vielleicht kurz nachreichen: Er hat sich umgebracht.

Schädlich: Er hat sich im Dezember 2007 erschossen.

Weyh: Was letztlich auch eine Nötigung der Opfer ist.

Schädlich: Ja, das ist noch mal so ein Nachtritt gewesen. So habe ich das empfunden, weil er sich dadurch absolut dem Gespräch entzog und weil natürlich genau die Reaktionen kamen, mit denen er vielleicht auch gerechnet hatte. Es war ein inszenierter Tod. Diese Nötigung zur Versöhnung oder Vergebung und zu Verzeihen haben wir besonders erlebt. Es kamen etliche Anrufe. Jetzt in den Rezensionen wird mir auch nachgesagt, "sie hat ja nicht mal darüber nachgedacht, ihm nach dem Tode zu verzeihen". Tja, Tod macht auch nichts ungeschehen.

Weyh: Also, Sie bekamen in der Öffentlichkeit auch die Karte zugespielt: Warum haben Sie die 15 Jahre nicht genutzt, um in der Familie wieder eine Beziehung aufzubauen? So lasen sich etliche dieser Nachrufe.

Schädlich: Er hat sich nicht bekannt. 1992 waren ja schon drei Jahre vergangen. Mein Vater hat ihn enttarnt. Er hat ihn kontaktiert, hat ihm dann nahe gelegt, sich bei einigen zu melden. Die hat er dann auch angerufen, die vielleicht sowieso wussten, dass er es war. Ansonsten fand überhaupt kein Gespräch statt. Er hat nie den Schritt unternommen, uns zu kontaktieren. Erst kurz vor seinem Tod schrieb er ein paar Zeilen an meinen Vater, die aber – wie wir herausfanden – auch etliche andere variiert erreichten, so dass man das auch nicht ernst nehmen konnte. Ich habe eigentlich erwartet, dass er den ersten Schritt unternimmt. Ich muss nicht darum betteln, dass er mit mir spricht.

Weyh: Was Herr Kowalczuk beschrieben hat, diese wirklich wörtlich zu nehmende "Zersetzungsstrategie", eine Familie zu zersetzen, ist Ihnen ja sogar im Westen passiert. Genau so etwas beschreiben Sie. Man kommt aus dem Urlaub zurück. Ihre Mutter ist Lektorin, sehr ordnungsliebend und hat ein Regalsystem, wo Manuskripte abgelegt, und sagt: Ich weiß genau, dass dieses Manuskript da nicht lag, sondern woanders. Da sind Stasimitarbeiter im Westen in die Wohnung eingedrungen und haben Unheil gestiftet.

Schädlich: Ja. Sie sind eingedrungen. Sie haben auch Plakate, die ich hängen hatte – Beatles, das waren so die ersten Aufbrüche in die westliche Musik -, fein säuberlich auf mein Bett gelegt. Sie haben auch nicht davor zurückgescheut, uns Kinder zu verunsichern. Der obligatorische Schlüssel lag auf dem Küchentisch. Es gab Anrufe. Meine Mutter wurde auch an dubiose Stellen in Berlin bestellt. Sie sollte da und da hinkommen. Die haben sich dann auch vor unserer Wohnungstür in Westberlin gezeigt. Da gab es also diese Zersetzungsmaßnahmen, wie sie heißen. Man wurde einfach verunsichert. Da man das nicht genau greifen, fassen konnte, hat man sich auch für paranoid gehalten und dachte, das kann man sowieso niemandem hier erzählen. Die denken alle, die haben den DDR-Spleen. Man war eigentlich allein damit.

Weyh: Das möchte ich aufgreifen. Man könnte als ignoranter Westdeutscher, der nie was mit der DDR in dieser Zeit zu tun gehabt hat, sagen: Na ja, die war elf oder zwölf Jahre alt. Das ist wie ein Schulwechsel. Das passiert anderen Kindern auch. Da muss man halt mal die Freunde wechseln usw. Sie war ein Kind, wieso ist die heute noch Opfer? Das stimmt nicht, weil Sie sehr genau schildern, wie Ihre ganze Biographie dadurch zerstört wurde. Die Familie ist auseinander gebrochen. Sie sagen selbst, Sie sind heimatlos geworden. Sie mussten eigentlich in Amerika leben, um Abstand zu diesen deutsch-deutschen Verhältnissen zu gewinnen?

Schädlich: Meine Biographie ist nicht "zerbrochen", aber sie war sicherlich gestört. Ich war verstört durch den Wechsel von Ost nach West. Man war orientierungslos. In der Fremde fiel man in Westdeutschland nicht auf, denn man sprach dieselbe Sprache. Aber wir kannten uns nicht aus. Man musste seinen Platz finden und die Sprache neu erlernen. Das hat sich an ganz vielen Kleinigkeiten festgemacht. Diese Spaltung zwischen Ost und West, die ich gespürt habe, auch die Sehnsucht zurück – ich hatte schließlich diesen lieben Onkel, der war enger Vertrauter. Mein Halbbruder lebte noch in der DDR, also, der ganze Rest der Familie. Das musste ich abschütteln, indem ich noch mal weit weg gehe, und zwar aus eigenen Stücken, und selbst entscheide, wann und wohin.

Weyh: Das endet dann 89. Sie zitieren an manchen Stellen aus den Stasi-Akten, wo einem natürlich erst mal sprachlich der kalte Schauer runter läuft, wie das sprachlich gehandhabt und protokolliert wird. Dann schreibt der Offizier da als Abschluss der Akte: "Offene ehrliche Zusammenarbeit, Abbruch der Verbindung wegen Perspektivlosigkeit."

Das ist ja irgendwie ein wahnwitziger Zynismus, dass die Stasi im Dezember 89 sagt, na ja, jetzt haben wir leider keine Perspektive mehr da weiter zu forschen, das schließen wir jetzt so ab. Warum hat sich der Onkel nicht 89 umgebracht? Gab es viele Leute, die einen Schlussstrich gezogen haben oder ist das ein Mythos?

Kowalczuk: Das ist ein Mythos, den die Kommunisten praktisch bis zum heutigen Tage in die Welt setzen. Wenn man sich überlegt, was da 89 passiert ist, da ist ein ganzes politisches System zugrunde gegangen, ist weg revolutioniert worden. Es war ja praktisch ein Prozess bis hin zum Zerfall der Sowjetunion. In der DDR gab es ab November 89 etwa bis zum Frühjahr 1992 rund 50 Suizide von Funktionären, auch von einigen Staatssicherheitsgeneralen und SED-Funktionären – für so einen gewaltigen Umbruch eine erstaunlich geringe Zahl. Das muss man einfach sagen. Also, diese Selbstmordwelle gab es so nie.

Und die Staatssicherheit hat im Dezember 1989 viele solcher IM-Akten, genau mit solchem Wortlaut beendet – "Perspektivlosigkeit". Das ist nicht nur komisch, weil dahinter zwei Dinge stehen, die man wissen muss. Zum einen ist das halt die kalte Sprache der Bürokratie. Aber zum anderen hatten die ein großes Reservoir an IM behalten, mit denen sie auch zukünftig weiterarbeiten wollten.

Weyh: Also muss man auf der anderen Seite immer mitlesen: Nur ein Teil war perspektivlos. Es gab für andere noch eine Perspektive?

Kowalczuk: Sie haben sozusagen noch Mitte Dezember die Pläne diskutiert. Sie wollten ja einen Verfassungsschutz gründen, praktisch einen neuen Namen in die Welt setzen. Da wollten Sie schon mit einem Teil dieser früheren IM auch weiterarbeiten, aber nur mit einem relativ kleinen Teil. Das muss man einfach dazu wissen. Völlig undurchsichtig ist, warum die also auch so erfolgreiche IM – in Anführungsstrichen -, wie eben IM Schäfer, alias Karl-Heinz Schädlich, dann "archiviert" haben, wie der bürokratische Begriff heißt. Die Motivationen dafür liegen in der Regeln nicht offen. Man kann davon ausgehen, dass das für diejenigen, die im Dezember 1989 praktisch ins Archiv gesperrt worden sind, nicht geschehen ist, weil der IM nun sagte, "ich will nicht mehr". Aus der Sicht der Staatssicherheit gab es da ganz oft ein Sicherheitsproblem. Das ist das Problem.

Weyh: Aber Ihr Onkel hat, zumindest vermuten Sie das, nicht damit gerechnet, dass das auffliegt? Deswegen hat er auch stillgehalten, weil er dachte, seine Akte sei geschreddert worden?

Schädlich: Das hatte man ihm gesagt. Das hatte er meinem Vater noch 1992 erzählt, dass er mit seinem Major Kuschel ein ziemlich enges Verhältnis hatte und der ihm versichert hatte, dass er keine Angst zu haben brauche, seine Akten würden in den Schredder wandern.

Weyh: Kommen wir mal zum Endspiel von Herrn Kowalczuk – 600 Seiten, das Ende der DDR. Sie setzen ungefähr 85, 87 an, erzählen in drei Teilen den Untergang der DDR, nämlich zunächst die Bilder einer Gesellschaftskrise. Dieser Block ist 300 Seiten lang. Dann kommen "Von der Gesellschaft- zur Diktaturkrise", 100 Seiten, und "Untergang einer Diktatur" auch 100 Seiten. Sie haben sich was dabei gedacht, warum Sie dieses Maßverhältnis einsetzen. Die Gesellschaftskrise war das Problem?

Kowalczuk: Das Problem ist, wenn wir heute über 1989 sprechen, dann haben wir in der Öffentlichkeit nicht nur die etwas schiefe Diskussion darüber, wie man diese Vorgänge eigentlich bezeichnet. Ich sage das schon im Titel ganz klar. Es war eine "Revolution". Eine Revolution wird von Menschen gemacht. Und zu jeder Revolution gehört auch ein Zusammenbruch, gehören veränderte internationale Rahmenbedingungen dazu. Es ist einfach vollkommen selbstverständlich. Erklären Sie mal in einem Universitätsseminar die 48er Revolution oder die Revolution von 1918 ohne die Berücksichtigung der internationalen Rahmenbedingungen. Da kommen Sie überhaupt nicht weit. Also, das ist sozusagen die eine Geschichte.

Auf der anderen Seite wird immer so getan, als wenn der Herbst 1989 aus einem geschichtslosen Himmel fiel und vorher alle irgendwie kuschelig miteinander rumgemacht hätten. Deswegen habe ich sehr großen Wert darauf gelegt, in einem doch – wie ich glaube – sehr breitem Panorama zu zeigen, wie dieser Staat funktionierte, auch wie viele Menschen mitmachten. Auch das gehört zu einer Diktatur dazu. Heute muss man ja staunen, dass irgendwie ja gar keiner mehr mitgemacht haben will.

Ich zeige eben, dass dieses System von millionenfacher Unterstützung gelebt hat, zeige aber dann, warum dieses System praktisch auch an sein alternativloses Ende gekommen ist, wie die Wirtschaft nicht mehr funktionierte, warum die nicht mehr funktionierte, wie die Ökologie völlig kaputt war, wie die innerstädtischen Quartiere gewissermaßen verrottet waren. Und viele solche anderen Seiten versuche ich mit vielen Beispielen aufzuzeigen, um dann aber auch zu zeigen: Auf der einen Seite gab es diese Millionen Unterstützer oder Dulder dieses Regimes, aber auf der anderen Seite gab es auch immer viele mutige Menschen, die gesagt haben: Nein, halt, ich mache hier nicht mit. Da gehe ich sehr breit auf die Opposition ein, die ja dann in der zweiten Hälfte der 80er Jahre immer größer wird, mit vielen Rückschlägen, und zeige eben zum Beispiel auch, dass die Gruppe, auf die das kommunistische Projekte, das Zukunftsprojekt, am stärksten setzte, nämlich die Jungend, auch die ersten waren, die praktisch massenhaft ausscherten und sagten, wir wollen in diesem langweiligen betongrauen blödsinnigen vormundschaftlichen Staat nicht weiter leben. Viele fuhren weg, reisten aus, gingen in die Bundesrepublik – ein völlig legitimer Weg. Viele andere sagten, ich bleibe zwar hier, aber ich steige aus und suche mir meinen eigenen Weg, meinen eigenen Pfad, finde Gesinnungsfreunde, mit denen ich hier ein selbstbestimmtes Leben versuchen kann umzusetzen – eine mindestens genauso große Herausforderung für diese alten Männer, wie die vielen gut ausgebildeten jungen Menschen, die in die Bundesrepublik ausreisten. Das versuche ich in diesen ersten 300 Seiten zu entfalten, um dann eben auch zu zeigen, das war nicht alles Zufall. Und es hat schon gar nicht – wie es ja immer gern gesagt wird – so wahnsinnig viel mit diesem Gorbatschow zu tun. Gorbatschow war genauso ein Getriebener, wie all die anderen. Der war ja gewissermaßen die letzte Hoffnung der Kommunisten, dass der noch retten kann, was zu retten ist.

Weyh: Das ist ein richtiges Gesellschaftspanorama, das Sie auf 300 Seiten entwickeln. Manchmal liest es sich wie ein Roman. Das ist wirklich sehr, sehr spannend, aber es ist für ein historisches Buch doch etwas Auffallendes darin, nämlich ihre eigene Position. Man kann immer wieder Sätze – manchmal ironische Anmerkungen, manchmal ganz klare Bewertungen, moralische Bewertungen – lesen. Hin und wieder reflektieren Sie auch die Stellung des Zeithistorikers. Warum machen Sie das? Haben Sie Angst, dass Ihnen Ihre Zunft ans Bein pinkelt und sagt, der macht das nicht richtig, weil er zu nahe dran ist? Oder was ist der Hintergrund?

Kowalczuk: Ich bin schon davon überzeugt, dass ich das richtig mache. Ich bin nur ehrlicher als viele meiner Historikerkollegen. Wissen Sie, wenn man versucht Geschichte zu rekonstruieren, dann gibt es auf der einen Seite die Methoden, die man im Universitätsseminar lernt, wie man sich z.B. mit Quellen auseinandersetzt, wie man Quellenarbeit betreibt, wie man sich mit Forschungsliteratur auseinandersetzt, wie man auf Debatten reagiert. Das ist gewissermaßen das Handwerk des Historikers.

Aber wenn man solche Bücher schreibt, wenn man Geschichte rekonstruiert – und wir können immer nur Ausschnitte aus der Vergangenheit nehmen, und seien sie noch so wichtig und fundamental -, steckt in dieser Auswahl, in dieser Komposition eines Buches natürlich auch ein hohes Maß an Subjektivität. Meine Fragen sind heute hoffentlich andere als die, die ich in 20 Jahren habe. Schon allein dieser simple Umstand, den gerne Kollegen der Zunft, die von Objektivität reden, leugnen, bedingt diese Subjektivität. Ich habe keinen Objektivitätsglauben bei der historischen Rekonstruktion. Dazu bekenne ich mich in meinem Vorwort sehr deutlich und sage eben auch, dass es mittels wissenschaftlicher Rekonstruktion letztendlich aber nur meine Sicht ist. Das ist ein Angebot. Ich hoffe, dass das angenommen wird, dass man darüber diskutieren kann. Das ist vielleicht meine Wahrheit, aber auf keinen Fall eine historische Wahrheit. Denn die kann es nicht geben.

Ich würde mich natürlich freuen, wenn sich in der deutschen Öffentlichkeit der Revolutionsbegriff für 1989 endlich durchsetzen würde, wenn wir nicht mehr so unsinnige Debatten wie von diesem Ministerpräsidenten aus Mecklenburg-Vorpommern führen müssten, dass die DDR kein Unrechtsstaat gewesen sei. Das ist ganz klar. Das war eine kommunistische Diktatur.

Das sind für mich so Punkte. Aber wenn man dann so ein bisschen so da runter schaut, hat auch jeder Einzelne, der dort gelebt hat, ein Recht auf seine eigene Erinnerung. Mein Buch ist aber kein Erinnerungsbuch. Aber daran können sich andere mit ihren Erinnerungen gewissermaßen reiben.

Weyh: Sie beschreiben das sehr schön an einer Stelle: Historische Wissenschaft, wenn sie es denn raumgreifend machen wollte, würde sie 40 Jahre brauchen und eine 60-bändige Edition herausgeben. Aus diesem Material würden sich dann 300 Jahre lang die Doktoranden ernähren.

Was mir aufgefallen ist und was mir auch sehr gut gefallen hat an dem Buch, ist, dass Sie den Fokus immer mal wieder auf Stellen lenken, die nicht sehr bekannt sind. Zum Beispiel sagen Sie: Ein Großteil der mutigen frühen Revolution in der DDR hat in dem kleinen Städtchen Plauen stattgefunden. Das hat der Westen nur nicht mitgekriegt, weil da keine Medien waren.

Kowalczuk: Genau. Am 7. Oktober fand eine große Gegendemonstration in Plauen statt. Der 7. Oktober war der 40. Jahrestag der Gründung der DDR. Bekannt ist, dass es an diesem Tag zu Protestdemonstrationen in Ostberlin, in Leipzig und in Dresden kam. Weniger bekannt ist, dass es etwa in 40 bis 50 weiteren Städten zu Protestdemonstrationen gegen das Regime kam. So einen Republikgeburtstag hatte die DDR bis dahin nicht erlebt. Das eigentliche Erdbeben fand in Plauen statt, einer Stadt im Vogtland ganz in der Nähe der damaligen innerdeutschen Grenze mit 60.000 Einwohnern. Da gab es eine mittlerweile auch gewachsene Opposition. Und es gab einen sehr mutigen Generalsuperintendenten, der da eine ganz wichtige Rolle spielt. An diesem Tag waren bis zu 20.000 Menschen im Plauen auf der Straße und haben gegen das Regime protestiert und haben, was viele nicht wissen, damals schon die deutsche Einheit gefordert. Was auch dazu gehört, die deutsche Einheit sei erst dann und dann auf den Tagesplan gekommen, jeder, der hinter Stacheldraht und Mauern lebte, zumal in Berlin, der hat sich tagtäglich mit der deutschen Frage auseinander gesetzt, jeden Tag, und sei es nur, ob man nun an Mars ran kommt oder nicht. Das ist sozusagen die Frage der deutschen Einheit. Das versuche ich da auch zu zeigen, dass es realpolitisch sehr vernünftig war, dass im Spätsommer, im Herbst 1989 eben gefordert wurde "Demokratie jetzt" und nicht "Einheit jetzt". Auch mit dieser Forderung "Einheit jetzt" wären wir nicht nur im Osten ausgelacht worden, man wäre vor allem viel stärker im Westen ausgelacht worden, weil da natürlich die Jalta-Nachkriegsordnung genauso in den Köpfen der Politiker zementiert war, wie bei allen anderen. Das ist auch angesichts der Nachkriegsentwicklung selbstverständlich.

Plauen ist eben für mich so ein Beispiel, bei dem man dann halt formulieren kann: Viele der Eindrücke von 1989 sind natürlich medial vermittelt. Die Fernsehbilder aus Ostberlin oder Leipzig lügen nicht, aber sie sagen auch keinesfalls die Wahrheit. Sie zeigen gar nicht die Realität, die sich da abspielte. Mein Buch ist gewissermaßen der Versuch, andere Realitäten diesen medialen Bildern nicht entgegenzusetzen, sondern sie damit anzureichern.

Weyh: Das trifft übrigens für beide Bücher zu, über die wir heute geredet haben. Das sind zwei sehr wichtige Bücher und zwei sehr lesenswerte Bücher. Ich könnte jetzt noch stundenlang über dieses Thema reden, es ist ja auch unerschöpflich. Wir werden dieses Jahr auch noch öfter an vielen Stellen darüber reden. Aber mit ist im Buch von Herrn Kowalczuk aufgefallen, dass das Wort "Herrschaftslogik" immer wieder wie ein Leuchtturm aufleuchtet, dass also sozusagen das Denken der SED-Oberen eigentlich nur noch herrschaftslogisch zu begreifen war.

Aber ein Faktum passt überhaupt nicht: Warum gab es überhaupt eine Kirche in der DDR? Von der Herrschaftslogik her war das ja sozusagen die Unterminierung der SED-Herrschaft schlechthin.

Kowalczuk: Dafür gibt’s eine ziemlich einfache Antwort: Das ist der sowjetischen Besatzungsmacht zu verdanken. Als die deutschen Kommunisten aus dem Moskauer Exil wiederkamen, hatten die viel radikalere Programme im Kopf. Die Russen wussten ja noch nicht so genau, wie das mit Deutschland nach 45 weitergehen würde. Die haben gewisse gewachsene Traditionen in Deutschland akzeptiert und haben gesagt: Wenn wir die da raus reißen, wenn wir zum Beispiel die Universitäten dicht machen, wenn wir die theologischen Fakultäten an den Universitäten dicht machen, die Kirchen dicht machen, dann kriegen wir diesen Laden hier nie unter Kontrolle und dann wissen wir auch nicht, was wir vielleicht in 10 Jahren – wenn die deutsche Frage vielleicht noch mal anders verhandelt wird – für eine Verhandlungsmasse haben. Auch dass insofern zum Beispiel die Kirchen im Radio Sendezeit hatten, geht auf die sowjetische Besatzungsmacht zurück. Insofern liegt da die Ursache.

Weyh: Unser Lesart Spezial am Ostersonntag neigt sich dem Ende zu. Wie immer, wenn wir Gäste haben, wollen wir wissen, welches Buch sie am liebsten den Hörern empfehlen. Frau Schädlich, was haben Sie uns mitgebracht? Welches Buch würden Sie gern den Hörern empfehlen?

Schädlich: Weil es auch um Verrat und Verzeihung geht, habe ich ein Buch von der Religionswissenschaftlerin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz mitgebracht. Das heißt "Verzeihung des Unverzeihlichen. Ausflüge in die Landschaft der Schuld und Vergebung", erschienen im Styria Verlag. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, was Vergebung für die Opfer bedeutet und ob es nicht einfach nur um die Psyche der Täter geht.

Kowalczuk: Ich habe etwas ganz anderes mitgebracht. Dieses Buch heißt "Mythen, Masken und Subjekte", im Untertitel "Kritische Weißseinsforschung in Deutschland", ist erschienen im Unrast-Verlag in Münster. Dieses Buch ist ein, wie ich finde, ganz wesentlicher Beitrag zur Frage von Rassismus in unserer Gesellschaft heute. Dieses Buch stellt immer wieder auf eine frappierende Art und Weise Selbstverständlichkeiten und Selbstgewissheiten, die wir hier in dieser Gesellschaft haben, infrage. Das kann ich nur jedem empfehlen, da mal reinzuschauen.

Weyh: Ich danke Ihnen sehr für dieses wunderbare anregende Gespräch. Das war Lesart Spezial am Ostersonntag, heute mit Susanne Schädlich und Ilko-Sascha Kowalczuk. Hier die Bücher unserer Gäste noch einmal mit ausführlichem Titel: Susanne Schädlich "Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich.", erschienen im Droemer Verlag, 240 Seiten. Ilko-Sascha Kowalczuk "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR", ist erschienen bei C.H. Beck und hat knapp 600 Seiten.

Auch morgen am Ostermontag wird es eine Lesart Spezial im Deutschlandradio Kultur geben. Schalten Sie um 12.30 Uhr doch wieder ein, wenn Sigrid Brinkmann mit Hubertus Knabe und Katja Kippling reden wird.

Ich bin Florian-Felix Weyh und wünsche Ihnen allen noch einen schönen Ostersonntag.