Vom Zuschauer zum Autor
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Dieser Tage diskutieren in Berlin Theatermacherinnen und Theatermacher über das postdramatische Theater. Eine Tagung in der Akademie der Künste behandelt das Thema ebenso wie ein Festival im Berliner HAU - mit einer Premiere von She She Pop.
"Das Licht ging aus und es wurde ganz still. Und die Erwartung im Raum war mit Händen zu greifen."
Die Erwartungen des Publikums im Berliner HAU gestern Abend bei der Premiere von "Kanon", dem neuen Stück von She She Pop. Und der da in der zweiten Reihe, Platz 4, die Gedanken von 240 Zuschauern ausspricht, ist Sebastian Bark, der einzige Mann im Performance-Kollektiv.
"Und dann erklang dieses Duett aus der West Side Story - 'Tonight Tonight' - und es geschah nichts."
Einen Halbsatz später nimmt Bark das Publikum mit auf eine Erinnerungsreise an einen ganz anderen Theaterabend, der für ihn Teil seines persönlichen Kanons ist.
"Dies ist die Performance: 'Kanon', heute Abend werden wir eine Liste erstellen, auf der jeder Eintrag gilt, der von so einem Ereignis berichtet", erklärt Ilia Papatheodorou wenig später auf der Bühne. Das wir schließt das Publikum ein und macht uns alle zu Mitautoren.
René Pollesch beklagt Arbeitsteilung am Theater
Theater als kollektiver Prozess- davon erzählen auch die Theatermacher auf einem international besetzen Podium in der Akademie der Künste am Nachmittag. Der zukünftige Intendant der Berliner Volksbühne, René Pollesch, beklagt die Arbeitsteilung zwischen Stückeautor, Regisseur und Schauspielern im hergebrachten Theaterbetrieb:
"Die Praxis finde ich ein Problem. Ich bin jetzt in der glücklichen Position, dass ich zwar zuhause sitze und schreibe, aber danach auf eine Probe gehen kann und mich mit den Leuten darüber unterhalten kann."
Eine ziemlich offene Angelegenheit sei das postdramatische Theater, pflichtet ihm sein Kollege Falk Richter bei.
Das schließt auch die Möglichkeit des Scheiterns ein, auch bei der She She Pop-Premiere: Wenn die Performerinnen die nacherzählten Erinnerungen ihrer Kolleginnen - mehr oder weniger gewollt - unbeholfen nachspielen, wirkt das unfreiwillig komisch.
Spannend wird der Abend dann, wenn die Zuschauer und Zuschauerinnen aufgefordert werden, sich gegenseitig ihre eigenen Theater-Gänsehautmomente zu erzählen. In den auf der Bühne erzählten Erinnerungen geht es fast immer um Momente, wo die vierte Wand zwischen Publikum und Bühne verschwand oder weggeblasen wurde, wortwörtlich während einer Aufführung in Avignon, die in einem Gewittersturm unterging oder in der Geschichte von Sebastian Bark, der sich an eine Aufführung von Jerome Bells "The Show Must Go On" erinnert:
"Das war, als dieser Nr. 1 Hit aus den 80ern gespielt wurde, da kamen dann alle Akteure an die Rampe und haben ins Publikum geschaut und einer von ihnen hat mich angeschaut, den ganzen Song lang."
Keine geschlossene Handlung, keine Heldinnen und Helden
Postdramatisches Theater erzählt keine geschlossene Handlung und verzichtet auf eindeutig identifizierbare Rollen. Höchstens Heldinnen und Helden des Alltags haben auf seiner Bühne Platz. Die großen Dramen finden längst ganz woanders statt: Im Hollywood-Kino und in Netflix-Serien. Hier werden Gruppen-Identitäten gestiftet und Heldinnen und Helden präsentiert, die zur Identifikation einladen. Das Postdramatische taugt dazu nicht, erst recht nicht zur Pflege nationaler oder regionaler Identitäten. Das erlebt gerade die freie Szene in Belgien - mit Gruppen wie etwa "Needcompany" eine der Keimzellen des postdramatischen Theaters.
Eine Kürzung der Fördermittel um 60 Prozent hat die rechtskonservative Regionalregierung von Flandern angekündigt, berichtet Alexander Karschnia von "Andcompany & Co" auf dem Podium in der Akademie der Künste.
"Warum verabscheuen diese Leute postdramatisches Theater?", fragt Karschnia. Weil es gegen Identität steht. Gegen nationale Identität, oder gegen einen nationalen Bildungskanon. She She Pop zum Beispiel setzt dagegen auf das Teilen individueller Erinnerungen. Auf dem Nachhauseweg geht mir die Frage nach meinem persönlichen Theaterkanon nicht aus dem Kopf. Ich bin Teil eines kollektiven Prozesses geworden, genannt: "postdramatisches Theater".