20 Jahre Viagra

Zur Selbstoptimierung nur bedingt geeignet

In einer Handfläche liegen Viagra-Tabletten.
In einer Handfläche liegen Viagra-Tabletten. © picture-alliance / dpa - Jerzy Dabrowski
Stephan Schleim im Gespräch mit Dieter Kassel |
Lifestyle-Droge zur Selbstoptimierung oder Medikament? Schon als Viagra vor 20 Jahren auf den Markt kam, wurde darüber diskutiert. Psychologe Stephan Schleim glaubt nicht, dass Viagra in großem Stil zur Selbstoptimierung genutzt wird. Hier seien andere Medikamente einschlägig.
Dieter Kassel: Am 27. März 1998 ließ die amerikanische Food and Drug Administration zum ersten Mal ein Medikament zu, das Männern helfen sollte, die unter chronischen, körperlich bedingten Erektionsstörungen litten. Ungefähr ein halbes Jahr später wurde Viagra dann auch in Deutschland zugelassen. Und nach nun 20 Jahren sind die kleinen blauen Pillen ein für viele fast alltägliches Hilfsmittel in ihrem Sexualleben geworden. Über das Grenzgebiet zwischen Medikament und, na ja, Bio Enhancement wollen wir jetzt mit Stephan Schleim reden, assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen in den Niederlanden. Herr Schleim, schönen guten Morgen!
Stephan Schleim: Schönen guten Morgen auch nach Deutschland!
Kassel: Ist auch in Ihren Augen Viagra eigentlich jetzt in diesen zwei Jahrzehnten von einem reinen Medikament zu so einer Art Dopingmittel geworden?
Schleim: Na ja, es war schon zu Beginn des neuen Jahrtausends eine große Diskussion darüber, dass es eigentlich mehr als Lifestyle-Droge, als Lifestyle-Mittel verstanden werden soll. Deshalb weigern sich auch in ganz vielen Ländern größtenteils die Krankenkassen, das zu erstatten. Trotzdem hat es aber einen merklichen Anstieg gegeben, also zuletzt zum Beispiel in Großbritannien eine Verdreifachung auf drei Millionen Verschreibungen pro Jahr. Und da ist es jetzt sogar so, dass seit Anfang des Jahres das sogar apothekenpflichtig über den Schalter einfach verkauft werden kann, auch sogar ohne Rezept. Das ist eine ganz neue Entwicklung jetzt gerade.

Bei Viagra geht es nur begrenzt um Selbstoptimierung

Kassel: Es gab ja gleichzeitig – nicht ganz genau in diesem Zeitraum, aber auch schon eine Weile – ganz viel Diskussionen über Enhancement, also über nicht nur körperliche, sondern auch geistige Leistungssteigerung durch pharmazeutische Produkte. Viagra ist doch aber eigentlich ein Beispiel dafür, denn wenn es überhaupt je so gewesen ist, die Zeiten, wo nur wirklich ältere Männer oder Männer, die wirklich krank sind, das genommen haben, sind doch längst vorbei.
Schleim: Ja, wobei ich hier aber noch mal unterscheiden würde, weil sozusagen im Bett doch eine andere Art von Leistung ist, als – wenn wir jetzt über Enhancement reden – es doch meistens ums Funktionieren am Arbeitsplatz geht. Ich würde gerne das, was die Leute im Privatleben machen, trennen von dem, was wir so im Berufsleben oder vielleicht im Studium erleben.
Kassel: Aber gibt's diese Trennung denn wirklich noch, haben nicht viele von uns im Alltag ständig, egal ob privat oder so das Gefühl, man muss immer die maximale Leistung bringen, mit welchen Methoden auch immer?
Schleim: Ja, so was wie Selbstoptimierung und Verbesserung, Verfeinerung im Lebenslauf und so weiter und so fort, funktionieren im Allgemeinen sicherlich – ein Kennzeichen unserer Zeit –, aber ich würde gerne doch auch bei Viagra erwähnen, dass es da sicherlich auch viel Leiden gab bei Männern, älteren Männern, die wirklich nicht mehr so funktionieren können, wie sie das wollten. Und deshalb würde ich das nicht sozusagen über einen Kamm scheren, den Wunsch, einfach nur besser am Arbeitsplatz zu funktionieren, da sehe ich schon einen Unterschied dabei.

Es gibt einen großen illegalen Markt

Kassel: Aber ist es nicht tatsächlich einerseits sehr wichtig, diese Grenze zu ziehen, aber andererseits auch sehr schwierig, denn was Sie gerade gesagt haben, für wirklich kranke oder ältere Männer, die trotz des großen Wunsches kein vernünftiges Sexualleben mehr haben konnten vor Viagra, trifft das eine zu, für Leute, bei denen es ganz ordentlich lief, aber die es einfach noch besser haben wollten und die das heute nach jeder Party schlucken, gilt ja wieder was ganz anderes.
Schleim: Ja, wobei, wenn wir jetzt noch über Viagra reden, ist das meines Wissens eher die Ausnahme, also dass wirklich Leute das nehmen, oder ich sage jetzt mal, auch jüngere Leute, einfach nur, weil sie länger Sex haben wollten. Ich hab eine Studie gesehen, da ging es um fünf Prozent in etwa, aber es gibt natürlich eine sehr große Grauzone hier, die wir nicht genau wissen, wo es auch keine gute Forschung zu gibt. Sicher ist auch, dass es in eigentlich so gut wie allen Ländern auch einen großen illegalen Markt gibt, insofern ist eben dieser Schritt in Großbritannien jetzt, das als apothekenpflichtiges Medikament zu verkaufen, ganz interessant.
Aber ich denke doch, was am Arbeitsmarkt passiert, dass das ein etwas größeres gesellschaftliches Phänomen ist, oder auch, was bei Studenten passiert, und da hat die DAK ja vor ein paar Jahren in einer Folgestudie gezeigt, dass zwei Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland - sie haben regelmäßig, aber da muss man sagen mindestens zweimal im Monat eben Medikamente nehmen, um besser am Arbeitsplatz zu funktionieren. Das, denke ich, ist doch ein größeres Phänomen in unserer Zeit auch.

Man sollte andere Lösungen erwägen als Medikamente

Kassel: Aber wo ist denn für Sie – und jetzt reden wir wirklich nicht mehr über Viagra, sondern eben über zum Beispiel das Arbeitsleben –, wo ist denn für Sie eine Grenze? Ich meine, eins ist ja ganz klar, wenn ich jetzt morgens um drei einen Kaffee trinke, um wach zu werden, werden Sie wahrscheinlich sagen, na ja, mach ich auch, wenn man Medikamente nimmt, um die Nacht regelmäßig durchzuarbeiten, dann nicht mehr. Wo ist da die Grenze?
Schleim: Zum einen bei den Substanzen, Sie haben schon recht, das ist auch eine fließende Grenze, wobei wir jetzt zum Beispiel Koffein, Kaffee oder jetzt, was sehr viel verschrieben wird, Ritalin oder dann eben Drogen wie Amphetamin oder Crystal Meth, wo man ganz viel von hört, da gibt es schon noch mal gewisse qualitative Unterschiede, auch in der Stärke der Wirkung vor allen Dingen. Im Großen und Ganzen gibt es Mittel, mit denen man länger wach sein kann, das ist sicherlich so.
Was ich aber vom pharmakologischen und auch vom menschlichen Standpunkt aus wichtig finde, ist die Frage, ob man das sozusagen mal nimmt in einer Extremsituation – im universitären denkt man so vielleicht an Studenten in der Medizin oder Jura, die so ein Staatsexamen haben, also die über viele Jahre an Stoff geprüft werden, oder vielleicht in der Arbeitssituation, weil eine extreme Belastung, die von kurzer Dauer ist und die vorüber geht. Da könnte ich mir eher vorstellen, dass man mal zum Abfedern von Stress oder einfach vielleicht nur, um länger wach zu bleiben, solche Mittel auch nimmt als Hilfe.
Aber wer das wirklich regelmäßig nimmt, vielleicht sogar täglich, um einfach nur die Leistungen zu erbringen, die von ihm erwartet werden, da denke ich doch, dass man sich fragen sollte, ob man vielleicht selbst am falschen Ort ist oder vielleicht auch einfach die Anforderungen, in denen man funktionieren muss, ob die nicht mehr menschenangemessen sind. Und da sollte man andere Lösungen erwägen, als einfach nur Medikamente zu nehmen.

Der Wettbewerbsdruck nimmt zu

Kassel: Aber der Druck, der durch diese Möglichkeit ausgeübt wird, der wirkt ja auch bei denen, die es nicht nehmen oder eigentlich nicht nehmen wollen. Wenn ich jetzt jemanden hab, der neben mir ständig zwölf Stunden hoch konzentriert arbeiten kann mit so einem Mittel und ich kann vielleicht neun Stunden hoch konzentriert arbeiten, was ohne Mittel nicht schlecht ist, finde ich, dann stehe ich doch auch unter Druck, mir zu überlegen, um da mitzuhalten gegen den Konkurrenten, muss ich mal gucken, was der nimmt, und es mir auch besorgen.
Schleim: Das stimmt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Wettbewerb in vielen Bereichen fast so wie im Sport, wo das Doping ja auch schon seit langer Zeit besteht, wo dieser Wettbewerbsdruck zunimmt. Aber ich meine, diese Menschen, die uns individuell, aber auch in Organisationen, Arbeitnehmerverbänden zum Beispiel, auch verhelfen können zu so einem Druck. Und was ich doch einen beachtlichen Unterschied finde, ist, wenn man sich anschaut, wie zum Beispiel in den USA mit Ritalin, mit Methylphenidat-Medikamenten umgegangen wird. Und da ist es zum Beispiel so, dass der ganze Konsum der 90er-Jahre – das waren 100 Tonnen, mehr als auf dem ganzen Rest der Welt zum Beispiel –, der wird inzwischen jährlich übertroffen in den USA.
Also, in den USA wird jedes Jahr pro Jahr mehr davon konsumiert wie in den ganzen zehn Jahren der 90er-Jahre, und es gab damals schon Warnungen der Weltgesundheitsorganisation. Also ich denke schon, dass man in Europa und auch in Deutschland, auch wenn es da immer mehr zu Flexibilisierung hinneigt, man doch noch eher geneigt ist zu regulieren, was man auch zum Beispiel sieht bei Verschreibungen an Kinder, die auf wesentlich niedrigerem Niveau geblieben sind in Deutschland als in den USA oder zum Beispiel auch in den Niederlanden. Also es gibt schon Möglichkeiten, mit diesem Druck umzugehen.

Die Grenze zwischen "normal" und "gestört" ist fließend

Kassel: Nun gibt es aber auch immer das Argument, wenn das dann geht, warum soll man es nicht machen. Ich hab sogar schon den Vergleich gehört, man würde auch jemandem, der nicht gut gucken kann, nicht die Brille verweigern mit der Begründung, na ja, es können nicht alle Menschen gleich gut gucken. Also warum sollen nicht Menschen, denen es schwerer fällt, Leistungen zu bringen auf dem Arbeitsplatz, warum sollen die sich nicht helfen lassen von der Medizin?
Schleim: In der Ethik hat man lange Zeit an der Unterscheidung festgehalten, ob es sozusagen um die Korrektur einer Fehlfunktion oder einer Dysfunktion oder einer Erkrankung geht, Beispiel Brille, oder ob es darum geht, Menschen, die eigentlich normal funktionieren, besser zu machen. Und dann kann man sich vorstellen, wenn man sozusagen den Mittelwert immer höher verschiebt, indem man einfach gesunde Menschen behandelt, dass dann der Druck auch viel größer wird auf andere auch, um mehr zu leisten.
Jetzt ist aber das Problem, man kann eigentlich das Thema Enhancement nicht diskutieren, ohne sich auch über psychische Störungen, psychische Probleme Gedanken zu machen, weil die Grenze nämlich zwischen Normalen und psychisch sozusagen Gestörten funktionieren, die ist hier nämlich auch fließend und ist auch nicht objektiv feststellbar.
Und da sehen wir tatsächlich, dass die Anzahl der Diagnosen, zum Beispiel bei Depressionen, was ja auch damit zu tun, dass Leute antriebslos sind, dass sie sich nicht mehr gut fühlen, dass sie nicht mehr so gut funktionieren – gerade bei jungen Leuten in den letzten zehn Jahren hat sich das fast verdoppelt auf fast acht Prozent in Deutschland. Das halte ich also schon für einen sehr beachtlichen Punkt.
Man muss das eigentlich mit sehen, dass auch in diesem Bereich der psychischen Störungen sich ganz viel ändert und sehr viel mehr Menschen Hilfe suchen, was aber meines Erachtens kein Beispiel dafür ist, dass alle Befürworter von Enhancements sind, sondern dass mehr Menschen eigentlich Probleme haben, mit dem Leistungsdruck umzugehen.
Kassel: Vor 20 Jahren wurde in den USA Viagra erstmals zugelassen, von einem konkreten Medikament ist auch das zu einer Art Lifestyle-Droge geworden, und es gibt eine Menge Möglichkeiten, sich körperlich, aber eben auch psychisch leistungsfähiger zu machen. Was davon zu halten ist und welche Folgen es haben kann für unsere Gesellschaft, darüber haben wir uns mit Stephan Schleim unterhalten, Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen. Herr Schleim, vielen Dank fürs Gespräch!
Schleim: Ja, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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