200 Blätter für 200 Notizen
Das Buch, in das der Erzähler der "Journalgeschichten" seine Gedanken schreibt, ist durchnummeriert. Es hat 200 Seiten. Und da jeder Eintragung eine Seite vorbehalten sein soll, bietet es Platz für 200 Notizen. Ausdauernd erkundet Jürgen Becker die Bereiche des Vergessens, in denen die eigene Lebensgeschichte lagert.
Das in grünes Leinen gebundene neue Buch von Jürgen Becker "Die folgenden Seiten. Journalgeschichten" gleicht jenem, das ein namenloser Erzähler im Buch erwähnt, und das zu einer Sammlung von unbeschriebenen Heften und Journalen gehört. Für jedes neue Buchvorhaben verwendet der Erzähler eines dieser Exemplare, um darin seine Erinnerungen, Eindrücke und Beobachtungen festzuhalten.
Das Buch, in das er seine neuen Geschichten zu schreiben gedenkt, ist durchnummeriert. Es hat 200 Seiten und da jeder Eintragung eine Seite vorbehalten sein soll, bietet es Platz für 200 Notizen. Die Nummerierung wurde in der Buchausgabe beibehalten, allerdings nicht die Anzahl der Seiten.
Jürgen Becker ist ein Erzähler, der sich nicht allein auf einem Erzählpfad bewegt, sondern gern folgt er Nebenwegen und nimmt Umleitungen. Das Abweichen hat bei ihm Methode. Zu den Besonderheiten dieses Erzählens, das auf einen Plot verzichtet und Pointen verweigert, gehört, dass der Erzähler nicht nur einen, sondern ganz unterschiedliche Erzählräume in Augenschein nimmt.
Auf geschichtliche Ereignisse wie das Ende des Zweiten Weltkrieges oder den 17. Juni 1953 lässt er sich ebenso ein wie auf den Garten, in dem ihm ein Mikrokosmos auffällt, der sich in einer Schubkarre gebildet hat. Es ist ein vollkommenes Bild, das sich dem Beobachter zeigt, aber zu diesem Bild gehört am Schluss auch der Schatten des Gärtners, der auf die Szene fällt.
Assoziativ reiht Becker Geschichten lose aneinander, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheinen. Denn es handelt sich um ein Erzählen, das Spuren folgt und Beobachtungen festhält. Dabei geht es jenen Wegen nach, die, ausgehend von Wahrnehmungen, in Erinnerungsbereiche führen, die sich plötzlich und ganz unvermittelt zeigen.
Die "Journalgeschichten" blenden zwar wie in einem Erinnerungsfilm einzelne Bilder ein, aber vielmehr noch als diese Bilder, die das Gedächtnis bewahrt hat, ist Beckers Interesse auf den fehlenden Rest gerichtet. Ausdauernd erkundet er die Bereiche des Vergessens, zieht es ihn in jene mit "Früher" überschriebenen Räume, in denen die eigene Lebensgeschichte lagert. Aber immer wieder stößt Becker beim Erzählen auf jene Reste, die sich dem Erinnern und damit dem Erzählen entziehen. Manchmal öffnen sich Zugänge zu diesen Gedächtnisleerstellen, aber wem sie sich öffnen sollen, der muss geschult sein in der Kunst des Wartens.
In den "Journalgeschichten" treffen wir auf einen Erzähler, der vom Nebeneinander der Widersprüche weiß. Immer wieder wird dieser Erzähler in die Geschichte hineingezogen, begegnet ihm Verschwiegenes, Unaufgeklärtes, Verheimlichtes. Da seine alleinige Perspektive für die Rekonstruktion des Geschehens nicht zu genügen scheint, lässt Becker in "Die folgenden Seiten" neben dem Erzähler-Ich einen weiteren Erzähler, einen Kommentator, "H" und Jörn zu Wort kommen.
Dabei ist Jörn Winter, des Dichters Alter Ego, dem man bereits in "Der fehlende Rest" (1997) und "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999) begegnen konnte, ein vertrauter Bekannter.
Es gibt nur wenige Erzähler in der deutschen Literatur, die so vehement wie Jürgen Becker gegen das Vergessen anschreiben, und die trotz der Sisyphosarbeit, die sie in Lethes Reich verrichten, weiterhin der magischen Kraft des Wortes vertrauen.
Rezensiert von Michael Opitz
Jürgen Becker: Die folgenden Seiten. Journalgeschichten.
Suhrkamp Verlag. 156 Seiten. 17,80 Euro.
Das Buch, in das er seine neuen Geschichten zu schreiben gedenkt, ist durchnummeriert. Es hat 200 Seiten und da jeder Eintragung eine Seite vorbehalten sein soll, bietet es Platz für 200 Notizen. Die Nummerierung wurde in der Buchausgabe beibehalten, allerdings nicht die Anzahl der Seiten.
Jürgen Becker ist ein Erzähler, der sich nicht allein auf einem Erzählpfad bewegt, sondern gern folgt er Nebenwegen und nimmt Umleitungen. Das Abweichen hat bei ihm Methode. Zu den Besonderheiten dieses Erzählens, das auf einen Plot verzichtet und Pointen verweigert, gehört, dass der Erzähler nicht nur einen, sondern ganz unterschiedliche Erzählräume in Augenschein nimmt.
Auf geschichtliche Ereignisse wie das Ende des Zweiten Weltkrieges oder den 17. Juni 1953 lässt er sich ebenso ein wie auf den Garten, in dem ihm ein Mikrokosmos auffällt, der sich in einer Schubkarre gebildet hat. Es ist ein vollkommenes Bild, das sich dem Beobachter zeigt, aber zu diesem Bild gehört am Schluss auch der Schatten des Gärtners, der auf die Szene fällt.
Assoziativ reiht Becker Geschichten lose aneinander, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheinen. Denn es handelt sich um ein Erzählen, das Spuren folgt und Beobachtungen festhält. Dabei geht es jenen Wegen nach, die, ausgehend von Wahrnehmungen, in Erinnerungsbereiche führen, die sich plötzlich und ganz unvermittelt zeigen.
Die "Journalgeschichten" blenden zwar wie in einem Erinnerungsfilm einzelne Bilder ein, aber vielmehr noch als diese Bilder, die das Gedächtnis bewahrt hat, ist Beckers Interesse auf den fehlenden Rest gerichtet. Ausdauernd erkundet er die Bereiche des Vergessens, zieht es ihn in jene mit "Früher" überschriebenen Räume, in denen die eigene Lebensgeschichte lagert. Aber immer wieder stößt Becker beim Erzählen auf jene Reste, die sich dem Erinnern und damit dem Erzählen entziehen. Manchmal öffnen sich Zugänge zu diesen Gedächtnisleerstellen, aber wem sie sich öffnen sollen, der muss geschult sein in der Kunst des Wartens.
In den "Journalgeschichten" treffen wir auf einen Erzähler, der vom Nebeneinander der Widersprüche weiß. Immer wieder wird dieser Erzähler in die Geschichte hineingezogen, begegnet ihm Verschwiegenes, Unaufgeklärtes, Verheimlichtes. Da seine alleinige Perspektive für die Rekonstruktion des Geschehens nicht zu genügen scheint, lässt Becker in "Die folgenden Seiten" neben dem Erzähler-Ich einen weiteren Erzähler, einen Kommentator, "H" und Jörn zu Wort kommen.
Dabei ist Jörn Winter, des Dichters Alter Ego, dem man bereits in "Der fehlende Rest" (1997) und "Aus der Geschichte der Trennungen" (1999) begegnen konnte, ein vertrauter Bekannter.
Es gibt nur wenige Erzähler in der deutschen Literatur, die so vehement wie Jürgen Becker gegen das Vergessen anschreiben, und die trotz der Sisyphosarbeit, die sie in Lethes Reich verrichten, weiterhin der magischen Kraft des Wortes vertrauen.
Rezensiert von Michael Opitz
Jürgen Becker: Die folgenden Seiten. Journalgeschichten.
Suhrkamp Verlag. 156 Seiten. 17,80 Euro.