Der sanfte Riese, der Russland verabscheute
Henry James nannte ihn einen „Dichter für Dichter“, für Ernest Hemingway war er schlicht der "größte Schriftsteller, den es je gegeben hat": Als einer der ersten russischen Autoren erlangte Iwan Turgenjew auch im Westen Anerkennung.
"Ihre Aufzeichnungen eines Jägers machen mir Lust, in einer wackligen Kutsche auf verschneiten Feldern den Wölfen beim Heulen zu lauschen", schreibt Gustave Flaubert im März 1863 seinem Freund Iwan Turgenjew. Er hat gerade dessen Erzählungen aus dem alten Russland gelesen. Die "Aufzeichnungen eines Jägers", die seit 1847 in Fortsetzung in der liberalen Zeitschrift "Sowreménnik" ("Der Zeitgenosse") veröffentlicht worden waren, hatten den jungen Iwan Turgenjew in Russland schlagartig berühmt gemacht.
Abschied von Russland
"Mir scheint, dies Buch wird mein Scherflein sein, das ich zur Schatzkammer der russischen Literatur beigetragen habe", so Iwan Turgenjew an einen Freund. Am 9. November 1818 als zweiter von drei Söhnen in einer Familie von altem Adel und sagenhaftem Reichtum geboren, flieht Iwan Turgenjew als junger Mann zum Studium nach Berlin, aus einem Russland, das ihm in seiner Rückständigkeit unerträglich ist:
"Jenes Leben, jenes Milieu und vor allem, jene Umgebung, welcher ich angehörte, jene Umgebung des Gutsherrentums und der Leibeigenschaft, repräsentierte nichts, das mich hätte halten können", erklärt er in seinen 1868 in Baden-Baden niedergeschriebenen "Literatur- und Lebenserinnerungen".
"Im Gegenteil – fast alles, was ich ringsum beobachtete, rief in mir ein Gefühl der Bestürzung, Empörung und schließlich des Abscheus hervor. Ich konnte nicht lange zaudern. Ich stürzte mich kopfüber in 'das deutsche Meer', das mich reinigen und wiedergebären sollte, und als ich endlich aus meinen Wogen wieder auftauchte, war ich ein 'Westler' geworden und bin es für immer geblieben."
Seine Liebe galt der Literatur - und einer Sängerin
Zurück in der Heimat nimmt Iwan Turgenjew nach Abschluss des Studiums eine Stellung im Innenministerium an, doch er versieht seinen Dienst schlecht und nachlässig, denn seine Liebe gilt der Literatur. Und der Sängerin Pauline Viardot-García, der er 1843 begegnet war.
Die Schwester der früh verstorbenen berühmten Diva Maria Malibran feiert Erfolge an allen bedeutenden Bühnen. Nach der ersten Begegnung mit ihr begreift Turgenjew, dass er ihr verfallen ist: "Ihnen auf meinem Weg zu begegnen, war das größte Glück meines Lebens", gesteht er ihr später. "Mein Gott, ich möchte mein ganzes Leben als Teppich unter Ihre lieben Füße, die ich 1.000 mal küsse, breiten."
Fast alle Reisen, die Turgenjew von nun an unternimmt, und seine häufigen Domizilwechsel hängen mit dem Wunsch zusammen, in ihrer Nähe zu sein. Ihren um fast zwanzig Jahre älteren Ehemann Louis Viardot nennt Iwan Turgenjew einen Freund, die beiden verbindet die Liebe zur Jagd und später eine schöpferische literarische Zusammenarbeit:
"Ich habe in ihnen meine Familie gefunden, eine fremde Familie, aber wir leben so zusammen, dass eine Trennung für uns unmöglich wäre", resümiert Iwan Turgenjew später.
Überzeugter Westler mit liberaler Gesinnung
Nach 1856 lebt er hauptsächlich in Westeuropa. Hier entstehen seine wichtigsten Werke, die Romane "Ein Adelsnest", "Am Vorabend", "Väter und Söhne", "Rauch" und seine großen Erzählungen wie "Erste Liebe".
Vor allem in seinen Romanen befasst sich der Schriftsteller mit Russland und den Umbrüchen, die seine Heimat in der Epoche der Reformen und der Reaktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu bewältigen hat. Als überzeugter "Westler" von liberaler Gesinnung steht Turgenjew immer wieder im Zentrum heftiger ideologischer Auseinandersetzungen. Doch anders als Tolstoj und Dostojewski geht es ihm nicht um die Verkündung einer dogmatischen Lehre:
"Ich kann Ihnen versichern, dass mich nur eine einzige Sache und nichts anderes interessiert: die Physiognomie des Lebens und deren wahrhafte Wiedergabe", erläutert Iwan Turgenjew sein literarisches Programm.
Würdigung des "sanften Riesen"
Als der "sanfte Riese" 1883 knapp fünfundsechzigjährig in Bougival bei Paris stirbt, ist er einer der bekanntesten russischen Schriftsteller, ja überhaupt der erste russische Schriftsteller, dem im Westen allgemeine Anerkennung zuteil wurde. Joseph Conrad hebt hervor:
"Hätte er all seine Personen nur erfunden und auch jeden Stock und Stein, jeden Bach und Hügel und jedes Feld, worin sie sich bewegen, sie wären genauso wahr und beeindruckend in ihren erstaunlichen Lebensumständen. Sie gehören ganz ihm und sind gleichzeitig universell."