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Die Natur als Quelle von Poesie
1972 zog sich die damals 27 Jahre alte US-amerikanische Autorin Annie Dillard völlig in die Natur zurück. In den Wäldern der Blue Ridge Mountains in Virginia übte sie sich im Betrachten der Natur - und schrieb darüber ein Buch, das den Pulitzer-Preis bekam.
Für die einen war Henry David Thoreau ein Spinner, für die anderen ein Visionär. Am 12. Juli 2017 jährt sich sein Geburstag zum zweihundersten Mal. Thoreau gilt nicht nur als Vordenker der amerikanischen Umweltbewegung, sondern auch des sogenannten Nature Writing.
Im angloamerikanischen Sprachraum ist die Tradition der literarischen Naturerkundung bis heute ungebrochen. Im Deutschen gibt es für diesen Begriff nicht einmal eine Entsprechung. Und doch ist auch die Natur bei uns plötzlich wieder in aller Munde - man denke nur an die Reihe "Naturkunden" des Verlages Matthes & Seitz Berlin. Das Nature Writing ist eine wild wuchernde Buchlandschaft. Das Feature begibt sich in ihr auf Spurensuche, unter anderem mit Annie Dillard und Robert MacFarlane, mit Esther Kinsky und Raoul Schrott.
Annie Dillards ekstatische Befragung des Lebens
1972 zieht sich die US-amerikanische Autorin Annie Dillard, 1945 in Pittsburgh geboren, mit Mitte Zwanzig in die Einsamkeit der Natur zurück. Noch kämpfen amerikanische Soldaten in Vietnam. Die Bilder des Grauens und die Schreckensnachrichten der Politik machen es Dillard, die eigentlich von einem überquellenden Lebensgefühl getragen ist, nicht leicht, weiterhin ungebrochen an die Sinnhaftigkeit des Daseins zu glauben. Doch in den Wäldern rund um den Tinker Creek lernt die junge Frau neu sehen.
"Heute ist einer jener wunderschönen teilweise bewölkten Januartage, an denen das Licht ein unerwartetes Stück Landschaft auswählt und mit Gold überzieht, das dann von Schatten weggewischt wird. Du spürst, dass du lebst."
Monarchfalterpuppen an Wolfsmilch
Tag für Tag durchstreift sie die Natur. Von Anfang an richtet sie ihren Blick auf das Kleine und Kleinste, auf das Unscheinbare und das, was fast unsichtbar ist.
"Ich halte ständig Ausschau nach Ameisenlöwentrichtern in sandigem Boden, nach Monarchfalterpuppen an Wolfsmilch, nach Dickkopffalterlarven in Robinienlaub. Diese Dinge sind absolut gängig, und ich habe sie noch nie gesehen."
Zwei Jahre später, 1974, bündelt Annie Dillard die Eindrücke in ihrem ersten Prosawerk: "Pilger am Tinker Creek". Das Buch wird ein enormer Erfolg: 1975 erhält es den Pulitzerpreis. Und ist bis heute ein Klassiker der unsentimentalen Naturbeschreibung – obwohl Annie Dillard ihre Beobachtungen in eine ekstatische Befragung des Lebens überführt. Vom ganz Kleinen, einer Amöbe, kommt sie auf das große Ganze: die Unauslotbarkeit jeglicher Existenz.