Nur über Jesus wurden mehr Bücher geschrieben
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Napoleon kam aus dem Nichts, eroberte in wenigen Jahren Europa und endete allein auf der Atlantikinsel St. Helena. Sein Auf- und Abstieg fasziniert bis heute. Retter und Reformer oder blutrünstiger Tribun? Jede Zeit schaut neu auf den berühmten Franzosen.
Wer vor Napoleons Grab steht, muss sich verbeugen oder zu ihm aufsehen – anders geht es nicht: Der rotbraune Sarkophag aus russischem Quarzit ist 13 Tonnen schwer. Er steht auf einem rechteckigen Sockel aus dunklem Granit, gelegen in der Krypta im Untergeschoss des Invalidendoms in Paris. Genau mittig platziert unter dessen 100 Meter hohen Kuppel. Die Krypta ist von oben einsehbar: Man blickt aus dem offenen Kreisraum unterhalb der Kuppel auf den Sarkophag hinab, indem man sich über einen breiten Mauerrand hinunterbeugt.
Napoleon wollte an den Ufern der Seine bestattet werden
Wer zur Krypta herabsteigt, sieht ihn von unten. Im Rund um den Sockel des Sarkophages: Eine Säulengalerie mit zwölf Siegesgöttinnen, welche die gewonnenen Schlachten Napoleons feiert, an den Wänden Marmorreliefs, die im Stil der Antike an seine Reformen erinnern, auf dem Boden ein riesiger Lorbeerkranz.
Eine noch monumentalere Grablege kann man sich schlechterdings nicht vorstellen, und sie wirkt bis heute: Viele stehen stumm, fotografiert wird nur dezent, niemand spricht laut.
Napoleon wollte ausdrücklich "an den Ufern der Seine" bestattet werden. Nach seinem Tod auf der britischen Besitzung St. Helena brauchte es 19 Jahre der Verhandlungen, bis die englische Regierung erlaubte, den Leichnam nach Paris zu überführen.
Am 15. Dezember 1840 wurde er in einer Seitenkapelle des Invalidendoms beigesetzt, die Aushebung der Krypta zog sich hin: Erst am 2. April 1861 wurden die sterblichen Überreste des ersten "Kaisers der Franzosen" in den Sarkophag im Untergeschoss eingelassen.
Napoleon führte 1802 die Sklaverei wieder ein
Der Invalidendom ist Teil eines großen Militärareals, des "Hôtel des Invalides", mitten in Paris. König Ludwig XIV. hatte es zur Aufnahme und Versorgung von Kriegsversehrten errichten lassen. Auch an eine Heldengedenkstätte hatte er dabei gedacht, für sich und seine Nachkommen. Doch erst Napoleon machte tatsächlich eine daraus: 1800 erklärte er den Invalidendom zum militärischen Pantheon – bis heute wurde er zur letzten Ruhestätte vieler französischer Militärs.
Napoleon I. ist der berühmteste unter ihnen, der Invalidendom wurde ein Wallfahrtsort für seine Bewunderer. Der Mythos lebt fort: Staatspräsident Emmanuel Macron, der als erklärter Reformer angetreten war, bezog sich dabei ein ums andere Mal ausdrücklich auf den Reformer Napoleon, nennt ihn immer wieder - neben General de Gaulle - als eines seiner zwei großen Vorbilder.
Es gibt auch andere Lesarten, etwa die des Historikers Henri Guillemin, für den Napoleon ein blutrünstiger Tribun war, der aus persönlicher Machtgier Kriege führte und für anderthalb Millionen Tote Franzosen verantwortlich war. War es nicht auch Napoleon, der die in Frankreich schon abgeschaffte Sklaverei wieder einführte, 1802? An seinem Grab stehend, kommen einem solche Gedanken.
Napoleon Betrachtung wandelt sich mit der Zeit
Napoleons Wahrnehmung wandelt sich mit der Zeit. Stets ist die Zuschreibung historischer Größe eine Frage des Blickwinkels. Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten, und so findet sich bei jedem Großen auch Kleines, je nach dem, worauf man den Scheinwerfer richtet. Würde heute Friedrich von Preußen, der in Schlesien einmarschierte, bloß weil er das Bedürfnis nach Ruhm verspürte, noch als Großer getauft? Man darf es bezweifeln.
Unsere Zeit geht skeptisch mit historischer Größe um, was gewiss auch mit dem ungeheuren Machtmissbrauch des 20. Jahrhunderts zu tun hat. In der Geschichtswissenschaft geriet das Muster "Männer machen Geschichte" aus der Mode. Man wollte nur noch das Soziale am Werk sehen und degradierte den personalen Einfluss auf den Gang der Dinge zur Fußnote.
Dass diese Sichtweise genauso übertrieben ist wie ihr Gegenteil, zeigt das Beispiel Napoleon. Auch 200 Jahre nach seinem Tod beschäftigt Napoleon die Geister. Die Französische Nationalbibliothek hat berechnet, dass Jahr für Jahr an die 30 Bücher über den Korsen in den Handel kommen – allein in Frankreich. Nur über Jesus Christus wurde mehr geschrieben.
Schon die Zeitgenossen überhäuften Napoleon mit Superlativen. Goethe verlieh ihm den Titel "Kompendium der Welt", Hegel sah in ihm den "Weltgeist zu Pferde". Ähnlich maßlos urteilten seine Feinde wie Ernst Moritz Arndt, der Napoleon "den ältesten Sohn Satans" nannte. Right or wrong: Der Mann mit dem Hut war der Stupor mundi, ein Akteur, der die Welt in Staunen versetzte, wie jemand von einem anderen Stern.
Napoleon besaß keinen Stammbaum
Für das Staunen der Zeitgenossen genügte schon sein kometenhafter und alle Regeln sprengende Aufstieg. Anders als Alexander der Große, als Cäsar oder Karl der Große, mit denen sich Napoleon gern verglich, anders auch als die gekrönten Häupter um ihn herum, besaß er keinen Stammbaum. Er war Gründer, nicht Erbe. Sohn eines Kleinadligen aus Korsika, gleichsam gekommen aus dem Nichts, schuf er sich selbst: als Kriegsgott, als Kaiser der Franzosen, schließlich als König der Könige.
An den Schalthebeln der Macht saß Napoleon ganze 15 Jahre. In dieser knappen Zeit entthronte er Fürsten, schuf neue Reiche, schlug eine Unmenge von Schlachten und verwandelte Frankreich in einen zentralistischen und handlungsstarken Verwaltungsstaat. Heute werden jenseits des Rheins seine Leistungen als Reformator und Administrator höher bewertet als seine Kriegstaten. Napoleon hat das übrigens selbst getan. Den Code Civil, das von ihm eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch, stellte er im Rückblick sogar über Austerlitz, die schönste seiner Schlachten.
Jede Zeit schaut auf das historische Personal mit eigenen Augen. Im krisengeschüttelten Frankreich mit seiner sterilen Links-Rechts-Spaltung gewinnt aktuell das Bild Napoleons als "Sauveur", als "Retter", Beachtung. Viele Franzosen wünschen sich eine autoritätsstarke Persönlichkeit an der Staatsspitze, die über den Parteien steht. Diese Rolle, die einst de Gaulle einnahm, würde der amtierenden Präsident Macron nicht von sich weisen.
Deutschland sieht Napoleon heute als Reformer
Geändert hat sich auch das Napoleon-Bild der Deutschen. Im Vordergrund steht nicht mehr der Eroberer, der Preußen quälte, sondern der große Beweger, der überall, wo er auftrat, fortschrittliche Gesetze im Gepäck hatte. Deutschland, das er neu ordnete, verdankt ihm einen erheblichen Modernitätsschub.
Letztlich findet sich die Erklärung für die ungebrochene Faszination, die von Napoleon ausgeht, weniger in der Summe seiner Taten, vielmehr im Kunstwerk seines Lebens. Wäre Napoleon im Zenit der Macht gestorben, wäre er heute eine schweigsame Marmorstatue von anno dazumal. Erst durch die Verstoßung aus dem Olymp, erst im Scheitern, das so grandios war wie der Aufstieg, gewann sein Lebensdrama die Eindringlichkeit eines Gleichnisses. Eines Gleichnisses, das uns Heutigen von den Möglichkeiten, aber auch von den Grenzen des Menschseins berichtet.