Schwere Geburt im Mai 1791
Sie gilt als erste große, moderne Verfassung Europas: Schon im Mai 1791 wurde sie vom polnisch-litauischen Reichstag verabschiedet. Der Weg zur europäischen, parlamentarischen Demokratie nahm in Polen seinen Anfang.
Auf eine "Allee des 3. Mai" trifft Alfred Döblin 1924 bei seiner Reise in Polen. Der Schriftsteller ist im Auftrag der "Vossischen Zeitung" unterwegs, er muss seinen deutschen Lesern die Bedeutung dieses Datums erklären: Am 3. Mai 1791 verabschiedete der polnisch-litauische Reichstag eine Verfassung – nach vier Jahren ununterbrochener Beratung.
Eine schwere Geburt, entstanden aus einer tiefen Krise. Der Bauernstand, so schreibt Döblin, war verkommen, ein Bürgerstand existierte kaum. Wo, so fragt man sich heute, soll da der zündende Funke für eine Verfassung, ein politisches Ideal von Freiheit und Menschenrecht entsprungen sein?
Martin Kirsch: "Es gibt auch in Polen Personen im geistlichen, bürgerlichen und teilweise adeligen Bereich, die an der Aufklärung beteiligt sind, die Gedanken der Aufklärung verstärken. Aber bei der Verfassung muss man sagen, dass sie doppelgesichtig ist. Sie guckt einerseits ins Ancien Régime zurück, das sieht man an der Struktur, wie stark der Adel ist. Und andererseits ist sie ganz wegweisend, weil sie die erste geschriebene Verfassung Europas ist und auch die erste, die tatsächlich das parlamentarische System einführt."
Das Wahlkönigtum wird abgeschafft
Martin Kirsch, Historiker aus Berlin, hat Verfassungen im europäischen Vergleich gesichtet und jene tieferen Ursachen erforscht, die zu Neufassungen und Veränderungen der Konstitutionen führten. In Polen wurde 1791 das Wahlkönigtum abgeschafft, eine Quelle der Korruption. Stattdessen sollte fortan "die freie polnische Nation" sich selbst Gesetze geben. Das war – ebenso wie Kontrollgewalt über Behörden und Beamte – ein erster Schritt auf dem Weg zur Volkssouveränität. Gerichtet aber war die Verfassung in erster Linie auf ein anderes Ziel.
Martin Kirsch: "Sich aufgrund der äußeren Bedrohung national zu stärken. Ein typischer Fall in der europäischen Verfassungsentwicklung, dass Verfassungen erlassen werden – egal wie modern oder nicht – um die Nation zu beschwören. Sie können Norwegen nehmen 1814, zur Trennung von Schweden, sie können Belgien nehmen 1831."
Zusammenhalt war in Polen geboten, weil zwei gierige Nachbarn auf der Lauer lagen: Russland und Preußen, Katharina II. und Friedrich II. Autoritär herrschende, zugleich sich aufgeklärt gebende Monarchen. In der Geisteswelt wurde die Zarin als weise "Semiramis des Nordens" gerühmt, der Preußen-König galt als "Philosoph von Sanssouci". Ihren Intellekt aber setzten die Monarchen mehr zur "Aufklärung" im militärischen Sinne ein, für die Suche nach Schwachstellen auf der anderen Seite der Grenze.
Sonderinteressen des polnischen Adels
Als Einfallstor erwiesen sich die nach wie vor bestehenden Sonderinteressen des überproportional großen, mit sieben Prozent Bevölkerungsanteil geradezu aufgeblähten polnischen Adels. In dieser Gesellschaftsschicht betrieb man Politik nach gewohntem Muster. Das galt insbesondere für das durch die Verfassung eigentlich abgeschaffte Privileg, jeden Reichstagsbeschluss zu blockieren mit nur einer Stimme, mit einem einzigen Veto.
Martin Kirsch: "Liberum veto, ein Mittel, würde ich sagen, wo große Gruppen von Adeligen Politik machen. Da gibt es ja immer Gruppen, die von außen Hilfe oder angebotene Machtbeteiligung wahrnehmen wollen. Und dann den falschen Freund oder Partner suchen, der dann dafür sorgt, dass man abgeschafft wird."
"Unter der falschen Flagge einer 'Republik' rottet sich in Polen der Adel als Liga der kleinen Despoten gegen das Volk zusammen." So spottete der Aufklärer Guillaume Thomas Raynal. Er war Franzose, in seiner Heimat kam der Adel nicht so ungeschoren davon.
Martin Kirsch: "In Frankreich haben sie die Situation, dass der Dritte Stand versucht, sich über diese Definition "Ich bin die Nation" politische Herrschaft innerhalb der Gesellschaft zu sichern und den König und vor allem den Adel zu entmachten."
Das Bürgertum bringt sich in Stellung
Der Dritte Stand, das Bürgertum, versucht sich zu positionieren, stellt in Frankreich sehr viel energischer die Machtfrage als in Polen. Ist das nur Eigeninteresse, politisches Kalkül – oder spielen da auch geistige Werte, Ideen eine Rolle?
Martin Kirsch: "Frankreich experimentiert, mit ganz unterschiedlichen Verfassungsmodellen: Wie kann man die Ideale der Revolution, also Gleichheit der Menschen und bestimmte Formen der Gewaltenteilung mit der Nationsidee versöhnen? Und sie scheitern eigentlich. Sie scheitern 1791, sie scheitern 1793, die ja gar nicht in Kraft getreten ist. 1795 funktioniert auch nicht. Und 1799 ist ja noch eine parlamentarische Beteiligung da, aber spätestens ab 1804 hat das Parlament fast nichts mehr zu vermelden."
Einiges hat sich um 1800 in Frankreich getan. Und mittendrin waren – viele Polen. 1793, nach der Aufhebung ihrer Verfassung und der Teilung des Landes zwischen Russland und Preußen ins Exil gegangen, zumeist nach Paris, manchmal auch nach London. Daher die enge Bindung, ja: Geistesverwandtschaft, sowohl in Hinsicht auf die Verfassungs- wie die Ideengeschichte.
Martin Kirsch: "Es gibt natürlich diese Verbindung, aber sie wird nicht so sehr erzählt. Es gibt ja nicht nur 1791, sondern es gibt auch 1807, die Verfassung vom Herzogtum Warschau, die französisch geprägt ist. Und die dann zurückwirkt auf die anderen napoleonischen Verfassungen. Die Verfassung von 1815 wird meistens nicht erzählt, auch in der polnischen Erzähltradition nicht, weil sie zu dieser großen Geschichte nicht passt: 130 Jahre waren wir ohne Staat."
West- und südeuropäische Ignoranz
Das bedeutet aber keineswegs, dass die Verfassungsgeschichte in dieser Region, überhaupt in Osteuropa damit obsolet, nicht weiter beachtenswert wäre. Ganz im Gegenteil. Der polnische Publizist Adam Krzeminski hat 2003 auf die Gefahren dieser "Kerneuropa"-Vorstellungen hingewiesen, wonach West- und Südeuropa als geistiger Motor den Osten – weil kulturell unterbelichtet – vorerst außen vor lässt.
Martin Kirsch: "Man muss insgesamt sagen: Ja, Krzeminski hat in der Hinsicht natürlich recht. Die polnische Geistesentwicklung ist ignoriert worden."
Diese Ignoranz beginnt schon bei Immanuel Kant. Er forderte zwar, dass "kein Staat sich in Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen" dürfe. Aber gegen die aggressive Politik seines Landesherrn, des preußischen Königs, in Polen hat der Philosoph aus Königsberg sich nie geäußert, geschweige denn protestiert. "Wie einst Kant, so heute Habermas", diesen provozierenden Titel hatte Krzeminski seinem Aufsatz gegeben. Ganz so scharf muss man es nicht formulieren. Aber es wäre an der Zeit, über das Ausmaß an Volkssouveränität, parlamentarischen Rechten und demokratischen Regeln in den Verfassungen – nein: nicht zu diskutieren oder gar zu streiten. Sondern sich überhaupt erst einmal zu informieren, aufzuklären.