25 Jahre Holocaust-Gedenktag

Erinnern für eine veranwortungsvolle Zukunft

06:56 Minuten
Bundespräsident Roman Herzog hält am 19. Januar 1996 während seiner vor dem Bundestag in Bonn, mit der er dazu aufruft, die Erinnerungen an die NS-Verbrechen wachzuhalten.
Der damalige Bundespräsident Roman Herzog am 19. Januar 1996 während seiner Rede vor dem Bundestag – damals noch in Bonn. © picture-alliance/dpa/Tim Brakemeier
Von Christiane Habermalz |
Audio herunterladen
Mindestens 1,1 Millionen Menschen sind im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden, das am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Dieses Datum nahm vor 25 Jahren der damalige Bundespräsident Roman Herzog zum Anlass, an den Massenmord zu erinnern.
Roman Herzog ist vielen Menschen vor allem durch seine Ruck-Rede in Erinnerung geblieben – jene Rede, mit der er die Gesellschaft dazu aufrütteln wollte, sich weniger auf den Sozialstaat zu verlassen und mehr Freiheit und Leistung zu wagen.
Weniger bekannt ist, dass er es war, der den 27. Januar zum nationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus erklärte. Herzog griff damals eine Anregung von Ignatz Bubis auf, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Auch wenn alle Parteien im Bundestag die Initiative unterstützten, reibungslos verlief sie nicht. Der Einführung des Gedenktages ging die Debatte voraus, ob der Tag auch ein gesetzlicher Feiertag werden sollte, man entschied sich letztlich dagegen, um dem Tag keine allzu offizielle Note zu geben. Es gehe darum, aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft werden zu lassen, erklärte Roman Herzog in seiner Rede im Bundestag am 19. Januar 1996.

"Gedenkstunden allein nehmen nur allzu leicht den Charakter von Pflichtübungen oder Alibiveranstaltungen an, und darum kann es nicht gehen. Die Bürger unseres Landes sollen wenigstens einmal im Jahr selbst über das damals Geschehene nachdenken, und vor allem über die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind, das wäre mein wichtigster Wunsch."
Die erste offizielle Gedenkstunde des Bundestages fand zudem nicht am 27. Januar, sondern bereits eine Woche vorher, am 19.1. statt – weil der Bundespräsident danach auf Reisen war, und in der Woche darauf keine Parlamentssitzungen stattfanden.
"Das führte auch zu Konflikten. Unter anderem mit der Kritik von Michel Friedman, der danach fragte, warum der Bundestag nicht mal das Datum respektiert, sondern aus Termingründen eine Woche vorher genommen hat", so der Historiker Martin Sabrow, Direktor des Leibniz-Instituts für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Eine große Rede im Deutschen Bundestag

Dennoch, der 27. Januar etablierte sich schnell – mit Gedenkveranstaltungen im ganzen Land, vor allem aber mit einer großen Rede im Deutschen Bundestag, die meist von Überlebenden des Holocaust gehalten wird. Unter ihnen waren Imre Kertész, Anita Lasker-Walfisch, Ruth Klüger und Marcel Reich-Ranicki.


Dessen berührende Ansprache, die der Literaturkritiker 2012 schon hochbetagt, mit 90 Jahren, hielt, gilt bis heute als eine Sternstunde der Rhetorik. Reich-Ranicki beschreibt, wie er am Tag der Auflösung des Warschauer Ghettos im Judenrat Protokoll führen musste, als der SS-Offizier den Deportationsbefehl diktierte. Während die Mitglieder des Judenrats oben im Gebäude das Todesurteil für die Ghetto-Bewohner entgegennahmen, vertrieben sich wartende SS-Offiziere auf der Straße die Zeit mit einem mobilen Grammophon.
"Unten hatte man inzwischen eine andere Platte aufgelegt. Nicht laut zwar, aber laut und deutlich konnte man den frohen Walzer hören, der von Wein, Weib und Gesang erzählte. Ich dachte mir, das Leben geht weiter. Das Leben der Nicht-Juden."
Literaturkritiker und Überlebender des Holocaust, Marcel Reich-Ranicki, am 27.01.2012 im Bundestag in Berlin.
Literaturkritiker und Überlebender des Holocaust, Marcel Reich-Ranicki, am 27.01.2012 im Bundestag in Berlin. © picture alliance dpa/Wolfgang Kumm

Der Massenmord und das kollektive Bewusstsein

Doch warum erst so spät ein nationaler Gedenktag, mehr als 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs? Es dauerte lange, bis der Massenmord an den Juden ins kollektive Bewusstsein der Deutschen vordrang.
Wie schwer man sich noch in den 80er-Jahren mit dem Gedenken tat, zeigt die Debatte um den 8. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation, der von Ludwig Ehrhard als der trostloseste Tag in der deutschen Geschichte bezeichnet wurde – bis Bundespräsident Richard von Weizäcker es 1985 zwar nicht als erster, aber in großer Deutlichkeit aussprach, dass der Tag keine Niederlage, sondern "für uns alle" eine Befreiung von der Terrorherrschaft bedeute.
Oder die missglückte Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger am 10. November 1988, dem 50. Jahrestag der Reichspogromnacht. Jenninger wollte deutlich machen, wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft den Nationalsozialisten folgen konnten – seine Gedenkrede wirkte auf diese Weise, anders als von ihm intendiert, wie eine monologische Rechtfertigung der Täter.


"Die Rede war in ihrer mangelnden Empathie ein solcher Schlag ins Gesicht des sich neu herausbildenden Trauerjubiläums, dass Jenninger über diese Rede stürzte und sich gleichzeitig damit eine neue Gedenkkultur festigte, die Scham und Bewältigung an die Stelle von Tradition und Vergangenheit gesetzt hat", erklärt der Historiker Martin Sabrow im Rückblick.
Philipp Jenninger (CDU) nach seiner Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht am 10. November 1988 im Deutschen Bundestag. Rechts die sichtlich erschütterte Schauspielerin Ida Ehre.
Philipp Jenninger (CDU) nach seiner Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht am 10. November 1988 im Deutschen Bundestag. Rechts die sichtlich erschütterte Schauspielerin Ida Ehre, die zuvor die "Todesfuge" von Paul Celan rezitiert hatte.© picture-alliance/dpa/Martin Athenstädt

Wandel mit Abgang der Täter

In den 90er-Jahren setzte ein Wandel ein. Die Tätergeneration trat von der politischen Bühne ab, die Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung brach mit dem Mythos, die deutschen Soldaten hätten sich nicht an dem Massenmord an den europäischen Juden beteiligt. Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, von Roman Herzog ins Leben gerufen, wurde schnell Teil einer Gedenk- und Erinnerungskultur, die über 20 Jahre lang von einem großen gesellschaftlichen Konsens getragen wurde.
Aufgebrochen erst durch die AfD, die 2017 in den Bundestag einzog – und eine 180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik forderte. Eine gefährliche Entwicklung, die gerade in einer Zeit einsetzt, in der nur noch wenige Zeitzeugen leben, und das Gedenken zu einem leeren Ritual zu werden droht. Doch Sabrow ist zuversichtlich: Man werde, sagt er, neue Formen des Gedenkens finden müssen.
"Beginnend mit Formen wie Inglorious Bastards von Tarantino, die ich früher furchtbar und auch nicht angemessen gefunden hätte, aber sie sind produktive neue Aneignungsformen. Wir haben Hologramme und Avatare, die in Ausstellungen Zeitzeugen-Unmittelbarkeit suggerieren. Insofern glaube ich, ist die Ritualisierungsgefahr nicht so stark."
Hinzu komme, so Sabrow, dass durch den erstarkenden Rechtspopulismus die Demokratie weltweit unter Druck gerate. Das gebe dem Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus eine ganz neue politische Aktualität.

Eine Collage aus Originaltönen der Gedenkstunden im Bundestag hat Tom Funke zusammengestellt:
Mehr zum Thema