Einfrieren allein reicht nicht
Am 19. September 1991 entdeckten Spaziergänger in den Ötztaler Alpen einen Leichnam - der seit rund 5300 Jahren dort im Eis lag. Die besterhaltene Mumie der Welt wurde unter dem Namen Ötzi berühmt - und ist für die Wissenschaft ein Jahrhundertfund. Ihn möglichst gut zu erhalten, ist eine Herausforderung.
Alltag im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen. Eine Schulklasse hat Wandertag, Touristen sind wegen der 5300 Jahre alten Gletschermumie gekommen. Auch 25 Jahre nach der Entdeckung strömen jährlich mehr als 230.000 Menschen hierher, um den Mann aus dem Eis zu sehen, den die meisten unter dem Namen Ötzi kennen. Niemand kennt Ötzi besser als Eduard Egarter-Vigl. 1997 wurde der Gerichtsmediziner zum Konservator ernannt. Seither widmet er sich dem berühmten Mordopfer.
"Das Todesszenario ist ganz klar: Er wurde von einem Pfeil in den Rücken getroffen, so weit ist das gerichtsmedizinisch bewiesen. Der Tod ist durch Blutverlust eingetreten. Ursache ist die Schussverletzung und die Verletzung der Arterie in der Achselhöhle."
Der Schaft des Pfeils wurde aus dem Schusskanal gezogen. Es sei unwahrscheinlich, dass Ötzi dies selbst getan hat.
"Die weit größere Wahrscheinlichkeit ist, dass der Schütze diesen Pfeilschaft aus dem Schusskanal herausgezogen hat und dabei ist die Pfeilspitze vor Ort geblieben."
Vermutlich wollte der Täter seine Spuren verwischen. Ötzi ist nach der Schussverletzung zusammengebrochen und direkt gestorben. An dieser Stelle blieb er 5300 Jahre lang liegen, von Eis und Schnee bedeckt, bis ihn 1991 die Gletscherschmelze freigab.
Ötzi Superstar. Kaum ein Superlativ kann beschreiben, was dieser Fund der Wissenschaft bedeutet. Denn er gilt als eine Art Schnappschuss aus der späten Jungsteinzeit. Die Entdeckung der Mumie war so wichtig, dass sogar ein Institut für den Fund gebaut wurde.
Mit immer besseren Methoden immer mehr Dinge herausfinden
Nur wenige Kilometer südlich des Archäologiemuseums in Bozen befindet sich das EURAC-Institut für Mumien und den Iceman, wie viele ihn auch nennen. Institutsleiter Albert Zink hat die Forschung an Ötzi vorangetrieben, vor allem in der Genetik.
"Was uns natürlich dabei zugutegekommen ist, sind auch neue Sequenziermethoden. Also neue Methoden, die diese wenigen Reste, die an DNA noch vorhanden sind - und das ist natürlich beim Ötzi auch der Fall, da sind nur noch sehr viele kleine Bruchstücke vorhanden, die können aber mit den neuen Verfahren alle mit einem Ansatz erfasst werden. Und dann kann man die in mühevoller Kleinarbeit zusammensetzten und sozusagen ein komplettes Genom mehr oder weniger rekonstruieren."
Es sollte mehrere Jahre dauern, bis die Forscher das Genom der Gletschermumie rekonstruieren konnten. 2012 war es schließlich soweit.
"Der Ötzi ist ja wirklich eines der ersten Beispiele auch, wo man sagt, man hat wirklich ein Komplett-Genom, also ein riesiges Buch an irrsinnig vielen Informationen, das man eben nicht nur benutzen kann, um eben über ihn mehr zu erfahren, sondern das eben auch eine viel breitere Anwendung findet. Und ich denke, das ist auch die Zukunft, dass man diese Untersuchung dahingehend auslegt, dass man mehr vergleichend arbeitet und das eben mehr versucht mit der heutigen Zeit zu verbinden, mit den Erkenntnissen und da ist das für alle ein irrsinnig großen Mehrgewinn, den man da hat."
Wer denkt, dass Ötzi ausgeforscht ist, irrt gewaltig, so Albert Zink.
"Wir untersuchen den Mann aus dem Eis immer noch, weil sich immer neue Fragestellungen ergeben."
Denn mit immer besseren Methoden können sie immer mehr Dinge herausfinden. Heute wissen die Forscher, dass Ötzi kein Einwanderer war, sondern schon lange vor seinem Tod in Südtirol gelebt hat, dass er braune Augen und Blutgruppe Null hatte – und heute vermutlich ein gefragter Blutspender wäre. In den kommenden Jahren wollen Genetiker mithilfe von Ötzis Genom vor allem die großen Wanderungen am Ende der Jungsteinzeit und beginnende Kupferzeit klären, als Europa nach und nach von Ackerbauern und Viehzüchtern besiedelt wurde.
Einfrieren allein reicht nicht
Zurück im Museum. Wer Ötzi sehen will, muss durch eine Scheibe aus acht Zentimeter dickem Glas schauen. So wird verhindert, dass die Körperwärme der Besucher die Temperatur in dem geschlossenen System der Kühlzelle verändert. Denn nur tiefgekühlt bleibt die Mumie erhalten. Ötzi verlässt seine Kühlkammer nur selten, etwa 2010. Da fand eine der größten wissenschaftlichen Untersuchungen an der Gletschermumie statt. Dazu musste der Leichnam aufgetaut werden. Dabei wurde auch Ötzis Mageninhalt samt Henkersmahlzeit in Form von Steinbockfleisch entnommen, so Eduard Egarter-Vigl.
"Der Mageninhalt betrug nahezu 250Gramm und den haben wir entleert, weil es nicht denkbar ist, dass man in der nächsten Zukunft noch mal den Körper auftaut."
Um Ötzi auch in den kommenden Jahrzehnten untersuchen zu können, bedarf es einer optimalen Konservierung. Aber, was heißt optimal? Einfrieren allein reicht nicht. In den ersten Jahren lag der Gewichtsverlust durch Verdunstung bei täglich 60 Gramm. Das änderte sich erst in Bozen. Ötzis Konservator konnte den Gewichtsverlust der knapp 14 Kilogramm schweren Mumie auf zwei Gramm pro Tag reduzieren, etwa indem er Eisfliesen an den Wänden den Kühlzelle anbrachte, Ötzi mit einer Eisschicht überdeckte, die Luftfeuchtigkeit in der Kühlzelle erhöhte und die Temperatur konstant bei minus 6,5 Grad Celsius hielt. Jetzt muss Ötzi nur noch viermal pro Jahr mit Wasser besprüht werden, um die Verdunstung auszugleichen. In den vergangenen Jahren trieb die Forscher auch die Frage um, ob sie Zersetzungsprozesse ausschließen können.
"Es ist durchaus denkbar, dass in langen Zeiträumen - sprich jetzt nicht von zehn Jahren oder 50 Jahren, aber noch längeren - von einem Menschen nicht überschaubaren Perioden, es unweigerlich zu Oxidationsprozessen an komplexen Proteinstrukturen kommen muss."
Zwar hat die Suche nach der optimalen Konservierung für Eduard Egarter-Vigl eine hohe Priorität, jedoch sei dies kein Grund zur Eile.
"Der Mann überlebt uns alle – das ist sicher. Wir müssen halt für die nachfolgenden Wissenschaftsgenerationen versuchen, diesen Körper so zu erhalten, dass Forschungen mit den Möglichkeiten, die in der Zukunft die Naturwissenschaft schaffen wird, er noch einigermaßen in gutem Zustand ist."