Hat der Osten den Glauben in die Demokratie verloren?
Wer trägt heute die Demokratie im Osten, die vor 25 Jahren so massiv eingefordert wurde? Viele Menschen fühlen sich abgehängt, beteiligen sich nicht an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen - und bei kontroversen Themen dominieren Schreihälse und Wutbürger.
Reporter: "Guten Abend. Darf ich Sie mal fragen, was Sie persönlich für Gründe haben, hier zu stehen?"
DDR-Bürger: "Na ja, et geht hier um Freiheit und dass die SED nicht mehr die Macht hat, ..."
Nachrichtensprecher im Deutschlandfunk: "Nach einer Infas-Prognose, die unmittelbar vor dieser Nachrichtensendung in Berlin bekannt gegeben wurde, hat die 'Allianz für Deutschland' bei der DDR-Volkskammerwahl etwa 48 Prozent der Stimmen erzielt. ..."
Lothar de Maizière: "Am 09. November haben wir alle gesagt: 'Wahnsinn', heute wieder Wahnsinn."
Nachrichtensprecher im Deutschlandfunk: "Die SPD käme danach auf 21 Prozent, für die PDS, die Nachfolgepartei der SED, seien 15 Prozent der Stimmen abgegeben worden, auf die FDP fielen danach 6 Prozent der Stimmen."
18. März 1990. Überraschend deutlich gewinnt die "Allianz für Deutschland" mit ihrem CDU-Spitzenkandidaten Lothar de Maizière die ersten freien und geheimen Volkskammerwahlen in der DDR. Die Wahlbeteiligung liegt bei unglaublichen 93,4 Prozent. Ein Spitzenwert, der nie wieder erreicht wird. Am 2. Dezember 1990, bei den Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag, geben schon nur noch 74,0 Prozent der Ostdeutschen ihre Stimme ab. Seitdem sinkt die Wahlbeteiligung kontinuierlich.
Wenn heute in den fünf neuen Bundesländern gewählt wird, geht nicht einmal mehr jeder zweite zur Wahlurne. Ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution in der DDR scheinen die Ostdeutschen den Glauben in die Demokratie verloren zu haben.
"Wir wählen jetzt demokratisch wie die da drüben"
"Die erste Wahl war ja die einzige freie Wahl in der DDR, die Volkskammerwahl, und da war die Begeisterung groß, da ist man zur Wahl gegangen."
Klaus Schroeder, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Er leitet den Forschungsverbund SED-Staat und hat sich seit 1990 in vielen Studien mit dem Wiedervereinigungsprozess in Deutschland und den Folgen speziell für die fünf neuen Bundesländer beschäftigt.
"Das war auch, wenn man es ein bisschen flapsig formuliert, ein Event. 'Wir wählen jetzt demokratisch wie die da drüben'. Dann ging das zurück, als man merkte, irgendwie gibt es keine richtigen Alternativen. und dann haben die Leute irgendwann gesagt: ‚ob wir wählen gehen, es bleibt sich eh egal', ja, es ist eine Geringschätzung der Demokratie. Auf die Frage nach der praktizierten Demokratie sagen ja nur 40 Prozent, 40 Prozent stimmen zu, dass die parlamentarische Demokratie die beste Staatsform ist und es keine bessere gibt. Im Westen sind es 74 Prozent."
"Eigentlich war das mal das Ziel vor 25 Jahren: Demokratie zu haben, wo jeder seine Meinung äußern kann und erstmal nicht sofort mit der ideologischen Keule erschlagen wird."
Antje Hermenau, freie Unternehmensberaterin in Dresden. Für Bündnis 90/Die Grünen saß sie 14 Jahre im sächsischen Landtag und zehn Jahre im Bundestag. Anfang dieses Jahres trat sie aus der Partei aus. Viele lebenspraktische Fragen brauchen lebbare Antworten, sagt sie. Die Politik gibt sie nicht:
"Ich habe das damals ja auch erlebt als junge Politikerin im sächsischen Landtag, die ersten zwei Jahre haben wir sehr unbefangen interagiert, von CDU bis Linke, und das ging auch alles. Und dann kamen – Entschuldigung, wenn ich das jetzt vortrage – die Westberater und haben uns erklärt, dass die Parteien sehr unterscheidbar sein müssen, und jede muss bitte ihren eigenen Tanz tanzen. Das kann man ja mal machen, aber es gibt natürlich 80 Prozent der Dinge im Alltag und im Leben, die würden alle ungefähr gleich regeln. Und dann so zu tun, als ob man künstlich ganz anders sei, hat natürlich das Diskussionsklima vergiftet. Und jetzt geht es nur noch darum, ob man auf der richtigen oder auf der falschen Seite ist. Das ist wie früher. Sag mir, wo du stehst."
"Wahlfreiheit heißt halt auch: ich muss nicht wählen gehen. Ich kann mich der Sache enthalten."
Frank Richter, Theologe, seit 2009 Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung. 1989 war er einer der wichtigsten Vertreter der friedlichen Revolution in Dresden. 2014 sorgte er für Aufsehen, weil er – sozusagen zu Studienzwecken – mehrere Male an den Pegida-Demonstrationen teilnahm.
"Ich weiß gar nicht genau, was meine Stimme bewirkt"
"Manche, mit denen ich rede, die sagen mir: 'Ach wissen Sie, das System ist mir auch ein bissel kompliziert. Ich weiß auch gar nicht genau, was meine Stimme bewirkt. Bevor ich in die Wahlkabine gehe und dort Lotto spiele, enthalte ich mich lieber'. Viele Menschen tun das, was sie vor 26 Jahren getan haben, sie gehen auf die Straße und demonstrieren, und bringen, damit übrigens ein Grundrecht ausübend, ihre Frustration, ihre Probleme auf die Straßen, Das gefällt mir zu allergrößten Teilen nun wirklich nicht, was dort gesagt wird, aber es gilt abgeholt zu werden und von den politischen Parteien veredelt zu werden, um in den demokratischen Diskurs gebracht zu werden."
Doch fast zwei Drittel aller Deutschen geben an, dass sie den politischen Parteien eher nicht vertrauen. Und die Freie Universität Berlin veröffentlichte 2014 eine Studie, wonach auch die Mitgliederzahlen der deutschen Parteien auf breiter Front sinken. Seit 1990 um insgesamt 48,5 Prozent. In den neuen Bundesländern ist die Negativ-Entwicklung besonders dramatisch. Hier sank die Zahl der Parteimitglieder von 364.000 auf 107.000. Das sind gerade mal noch 29,4 Prozent des Wertes aus dem Jahr 1990. Allerdings sollte man die vielen SED-PDS-Mitglieder, die ihre Partei gleich nach der Wende verließen, nicht als Demokratie-Enttäuschte zählen.
An einer Hauptverkehrsstraße im Berliner Bezirk Pankow befindet sich das "Haus der Demokratie und Menschenrechte', hervorgegangen aus einem Beschluss des Zentralen Runden Tisches der DDR im Dezember 1989, der vorsah, den ostdeutschen Bürgerrechtlern einen Ort für ihre politische Arbeit zu geben. Die Oppositionellen von damals haben das Haus längst verlassen, heute beherbergt es ein breites Spektrum an alternativen, humanistischen und linksliberalen Initiativen. Das Haus ist eine Art basisdemokratisches Feuchtbiotop und in seiner Größenordnung in Deutschland einzigartig.
"Wir haben heute mehr als 60 Organisationen im Haus als Mieter und darüber hinaus noch Dutzende kleine, mittlere, größere Projekte, ..."
Hans-Andreas Schönfeldt ist Vorstandsmitglied der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte. Basisdemokratisch und Dialogorientiert soll die Arbeit der verschiedenen Bewegungen im Haus sein, sagt er, eine Plattform bieten für mehr politische Teilhabe.
"... eine unserer Zielstellungen besteht auch darin: wenn sich in Berlin politische Bewegungen zusammenfinden, neu entstehen, ihnen Raum und Möglichkeiten für die Arbeit zu geben, also wir können dann kurzfristig, wenn vorhanden, Räume zur Verfügung stellen, zumindest unsere Versammlungs- und Veranstaltungsräume, so dass sich die Aktivisten dann auf ihre politische Arbeit konzentrieren können und im Verwaltungsbereich – Raumsuche, was so alles dazu gehört – doch etwas entlastet werden."
Unmut vor allem gegen prominente Politiker jener Zeit
Von Zeit zu Zeit gelingt es der Stiftung, diesem selbst gesetzten Anspruch gerecht zu werden. Beispielsweise 2004, als in Berlin, Leipzig, Magdeburg und Eisenhüttenstadt montags wieder demonstriert wurde: gegen Hartz IV und Agenda 2010. Die Berliner Protestbewegung hatte ihren organisatorischen Sitz im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Hans-Andreas Schönfeldt war ihr Pressesprecher.
Das dokumentiert auch eine Fotoausstellung, die gerade im Veranstaltungsbereich zu sehen ist. Sie zeigt, dass sich der Unmut der Demonstranten vor allem gegen prominente Politiker jener Zeit richtete: Wolfgang Thierse, Joschka Fischer, Guido Westerwelle, Angela Merkel.
"Hier haben wir eine Szene vom Berliner Scherbengericht, das ist aus der griechischen Geschichte übernommen worden: Scherbengericht hatte im alten Griechenland die Funktion, unliebsame Politiker aus der Stadt zu verbannen, und die Berliner hatten eben auch die Idee, ein Scherbengericht durchzuführen, und man sieht hier den Sprecher des Scherbengerichts und hier die Demonstranten, wie sie gerade die Steine in vorbereitete Eimer werfen, die Steine waren farbig markiert, und ein paar Tage später sind dann den Betreffenden auch die Scherben vor die Haustür gekarrt worden."
Das Meinungsforschungsinstitut infratest dimap hat ermittelt: mehr als 60 Prozent der Bürger denken: in Deutschland herrscht keine echte Demokratie. Schuld ist der starke Einfluss der Wirtschaft auf die Politik, sie hat mehr zu sagen als der Wähler. Stimmt, sagt Hans-Andreas Schönfeldt, er kennt viele, die so denken. Sich selbst eingeschlossen. Auch das ist ein wichtiger Aspekt für den 56-jährigen ehemaligen FDJ-Funktionär. Der trotz fundierter juristischer Ausbildung auch beruflich nie Fuß fassen konnte im neuen System.
"Es sind Menschen gewesen, die 1989 die Luft von Freiheit geschnuppert haben. Die den Mut hatten, auf die Straße zu gehen. Die sich dieser Staatsgewalt entgegengestellt hatten. Und ganz plötzlich sind viele dieser Menschen in ne passive Rolle rein gedrängt worden. Das ist doch verständlich, dass so was die Leute fertig gemacht hat. Und auch abgeschreckt hat. Jemand, der so behandelt wird, der braucht schon einige Kraft, um woanders in einem politischen System politisch aktiv zu sein oder ehrenamtlich aktiv zu sein. Die Menschen, die sich getraut haben, in den neuen Bundesländern in die Verantwortung zu gehen, sind für mich ganz große Helden."
Wer trägt heute die Demokratie in Ostdeutschland?
Die Zweifel am politischen Entscheidungssystem und den Machteliten sind groß. Wer trägt heute die Demokratie in Ostdeutschland, die vor 25 Jahren so massiv eingefordert wurde?
Herbstputz im Mecklenburgischen Mestlin, einem kleinen Ort im Städtedreieck Güstrow, Parchim, Schwerin. In alter Tradition haben sich die Dorfbewohner zum Subbotnik versammelt, dem freiwilligen Arbeitseinsatz zur Pflege der Gemeinschaftsflächen. Der Hauptplatz ist groß, es gibt viel zu tun. Auch der Bürgermeister ist dabei: Uwe Schultze, seit 1994 leitet er die Gemeinde.
Schultze: "21 Jahre, was soll ich sagen: der Beste, der allerbeste, wie auch immer, ja ..."
Dorfbewohnerin: "Oooh, jetzt hebt hier aber einer ab." (Lachen)
Schultze: "... oder keinen anderen Dummen gefunden, das Wichtigste daran ist: man muss für die Menschen da sein."
Uwe Schultze ist keiner der "großen Helden", die in Ostdeutschland politische Verantwortung übernommen haben. Der ehemalige Schulleiter ist eher jemand, der zum richtigen Zeitpunkt das Heft des Handelns in die Hand nahm. Als es fast zu spät war.
"Denn wir haben dort drüben einen Riesenkoloss zu stehen, das ist die Kindertagesstätte, die ist damals aufgebaut worden zu Zeiten des Bürgermeisters, 1,5 Millionen D-Mark hat das damals gekostet, ist nie richtig fertig geworden, und inzwischen hat sich das mit Zins und Zinseszins auf fast zwei Millionen Euro hochgeschaukelt, und wir haben normalerweise immer gedacht: der Bürgermeister ist ein bisschen was Besonderes, was Abgehobenes, und da haben wir gesagt, ich habe es gesagt mit zwei, drei anderen, die auch unzufrieden waren: wir gründen mal ne Wählergruppe, um uns zu positionieren und zu sagen: wie würden wir das machen. Und dann haben wir als Maxime, als Allererstes auf unsere Fahnen geschrieben: Bürgernähe als Allerwichtigstes."
Seitdem spielen die Parteien in der Gemeindevertretung keine Rolle mehr. Uwe Schultze gehört der UWM an, der ‚Unabhängigen Wählergemeinschaft Mestlin'. Das Konkurrenzangebot heißt ‚Bündnis für Mestlin'.
Mestlin - Ausgebaut zum sozialistischen Musterdorf
Zu DDR-Zeiten war Mestlin das "rote Dorf". In den 50er-Jahren auf Anweisung der SED ausgebaut zum sozialistischen Musterdorf. Wo früher Acker war, entstand ein Platz, heute völlig überdimensioniert, mit Schule, Kindertagestätte, Ambulatorium und einem gigantischen Kulturhaus. Die Partei gab das Geld, die Partei sagte, was zu tun sei. Mestlin verließ sich darauf, selbst in den ersten Jahren nach der Wende. Bis 1994, bis Uwe Schultze erster Mann im Dorf wurde, stellte immer noch die SED-Nachfolgepartei PDS den Bürgermeister.
Nun sind zwei Jahrzehnte vergangen. Bei den letzten Gemeinderatswahlen 2014 wurde Uwe Schultze mit überwältigender Mehrheit wieder gewählt. Zum mittlerweile fünften Mal. Doch Demokratie lebt von miteinander konkurrierenden Wahlangeboten. Deshalb ließ sich Claudia Stauß als Gegenkandidatin aufstellen.
"Der Herr Schultze ist ja nun auch schon über 20 Jahre Bürgermeister, ich selber erlebe ihn irgendwie sehr, wie sagt man das denn, resigniert? Ich weiß nicht, er hat ja keine, vielleicht hat er mal und es ist nicht mehr da, also keine eigene Idee zur Entwicklung der Gemeinde, das ist eigentlich so das, was mich am meisten stört. Auch aus der Gemeinde heraus müsste unserer Meinung nach mehr passieren."
Seit einigen Jahren engagiert sie sich in dem Bürgerverein, der um die Rettung des Kulturhauses und des gesamten Gebäudeensembles am Platz kämpft. Zu DDR-Zeiten hatte das Haus 170.000 Besucher im Jahr, der große Saal bot Platz für 500 Zuschauer. Heute muss das Gebäude dringend saniert werden, das kostet viel Geld, aber noch wichtiger ist: ein Nutzungskonzept muss her.
"Wir denken, dass dieses Ensemble hier, auch wenn es natürlich eine große Last ist für die Gemeinde, es ist aber unserer Meinung nach auch die große Chance. Weil es einmalig ist. Es ist komplett in den 50er-Jahren errichtet, und die wollten ganz viele Musterdörfer bauen, und es ist nur Mestlin geworden. Es ist national bedeutsam anerkannt, und diese Einmaligkeit bestätigt uns eben auch immer wieder: der Denkmalschutz ist das Spannende hier dran. Und diese Vollständigkeit immer auch, dass das alles noch steht."
Natürlich müsste sich die Landesregierung zuständig fühlen für den Erhalt eines Denkmals von solcher Bedeutung, sagt Claudia Stauß. Aber solange das nicht der Fall ist, müssen sie sich eben selbst darum kümmern. Die meisten Alteingesessenen erleben das Gebäudeensemble als späte Strafe des Sozialismus. Diejenigen, die sich im Verein engagieren, sind die Zugezogenen, die in den letzten 25 Jahren nach Mestlin kamen, weil sie unberührte Natur suchten.
"Wir sind so zwischen 40 und 50, ist vielleicht eine Generation, die noch jung genug war zur Wende, um das irgendwie noch anders aufzufassen. Und wir sind aber eben noch in einem Alter vielleicht, dass wir sagen ‚Scheiß drauf', dann müssen wir was tun, weil wenn wir nix tun und das niemand anderes macht, dann passiert eben nix', und müssen es halt versuchen."
Einmischen kann sich lohnen
Der politisch aktive Bürgerverein von Mestlin zeigt: sich einmischen kann sich lohnen. Auch wenn der demokratische Prozess mühsam und anstrengend ist. Einer Langzeitstudie der Volkssolidarität zufolge sehen die Bürger in Ostdeutschland die mit der friedlichen Revolution erlangte Vielfalt demokratischer Aktivitäten in Vereinen und Verbänden als wesentlichen Gewinn der deutschen Vereinigung.
Dennoch häufen sich in letzter Zeit die Schlagzeilen, dass Deutschlands Demokratie in Gefahr sei. Grund: sie entwickelt sich zu einer sozial gespaltenen, zu einer Zwei-Klassen-Demokratie. Die Bertelsmann-Stiftung hat die Wahlbeteiligung sozialer Milieus bei den Bundestagswahlen 2013 analysiert. Ergebnis: wer arm ist, bleibt zuhause. Besonders einkommensschwache und bildungsferne Menschen verabschieden sich aus der aktiven Teilhabe an der Demokratie. Tendenz steigend. Die Begründungsmuster sind einfach. Bestätigt auch Klaus Schroeder, Politikwissenschaftler an der FU Berlin.
"Da wird dann gleich gesagt ‚ach, die Lobbyisten bestimmen alles'. Dann wird ein Einzelfall generalisiert, und dann ist auf einmal der Pluralismus nix. Gegenbeispiele werden überhaupt nicht mehr erwähnt. Und genauso ist es bei der Sozialen Marktwirtschaft: das Volumen des Sozialstaates, fragen Sie mal Bekannte, Freunde, wie viel jährlich an Sozialleistungen ausgegeben wird in Deutschland. Wenn einer auch nur in die Nähe kommt der Summe, dann sage ich: 'Hut ab'. Studenten, die ich frage, die sagen entweder ‚vier-, fünfhundert Millionen', und die, die sich sehr weit vorwagen, sagen 'na ja, nee, das sind Milliarden, vier bis zehn Milliarden'. Wenn dann die tatsächliche Summe genannt wird, dann verstehen die die Welt nicht mehr. Um die 800 Milliarden."
Das Problem: je ärmer und bildungsferner die Menschen sind, desto empfänglicher sind sie für die populistischen Forderungen der Wutbürger und anderer Schreihälse. Zum Beispiel in der Debatte zur Flüchtlingspolitik.
"Ich würde hier differenzieren zwischen den Gruppen, die es im Übrigen auch im Westen gibt, die sagen: wir wollen nicht so viel Zuwanderung, und wir wollen auch differenzieren, wer ins Land kommt, und wir wollen auch, dass die Asylgesetze eingehalten werden. Das sind Forderungen, die kann man gut oder schlecht finden, aber die darf man erheben. Aber dann gibt es diese kleine extreme Minderheit, die vor Flüchtlingsheimen rassistische und Menschenverachtende Parolen grölt, die auch Straftaten begehen, und das ist im Osten so etwas wie die lumpenproletarische Hinterlassenschaft der DDR."
"Eine starke Zivilgesellschaft lässt sich überall aufbauen"
Wie auch immer man die Gröler und Gaffer vor den Flüchtlingsunterkünften nennt, ob man Freital, Heidenau oder Bischofswerda als Dunkeldeutschland bezeichnet, wie es kürzlich Bundespräsident Joachim Gauck tat: es muss endlich etwas passieren. Fordert Frank Richter, Leiter der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung.
"Eine starke Zivilgesellschaft lässt sich in Heidenau und in Freital und überall auf dieser Welt aufbauen. Man muss es nur wollen. Von unten und von oben. Das ist tatsächlich manchmal schwach ausgeprägt, dieses Wollen. Es gibt eine Bequemlichkeit von unten. Umgekehrt gilt aber gleichwohl, dass diejenigen, die unser System gut verstehen, die gut etabliert sind, die so genannten Eliten in Bildung, Kultur, Wirtschaft, Politik ihrerseits Phantasie entwickeln müssen, wie sie diejenigen, die sich abgehängt fühlen oder sich selbst schon ausgeklinkt haben, wieder zurückholen. Das ist eine Aufgabe der Eliten immer. Auch in der Demokratie. Das heißt keiner kann sich hier vom Acker machen und so tun, als ginge ihn dieses Phänomen der zerlegten Gesellschaft nichts an."
Frank Richter versucht es auf seine Art. 2014 begab er sich mitten hinein in die Pegida-Demonstrationen, weil er wissen wollte, wie die Menschen ticken, was ihre Gründe für das allgemeine Unbehagen über "die" Politik und "die" Politiker sind. Dann begann er, im Rahmen von Veranstaltungen der Landeszentrale für Politische Bildung einen Dialog zu etablieren. Mit möglichst offenen Fragestellungen, damit sich die Interessenten nicht gleich abgeschreckt fühlten. Das Ergebnis, so Richter, ist ernüchternd: manche wollen nicht reden, manche wollen nur brüllen. Er versteht es sogar – angesichts der "Vorbildfunktion" des deutschen Fernsehens.
"Möglicherweise vollzieht das Volk auf den Straßen oder in manchen verunglückten Diskussionsveranstaltungen das nach, was ihnen Politiker in der einen oder anderen Talk Show vorgemacht haben. Das heißt Opposition wird nicht als Konstruktion praktiziert und wahrgenommen, sondern als Konfrontation. Und damit ist ein Grundverständnis dieses Konstruktionsmerkmals unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung in die Brüche gegangen. Und das liegt nicht nur am Volk, das liegt auch an den Politikern."
Frank Richter muss sich wegen seiner offenen Haltung gegenüber den Wutbürgern der Pegida-Bewegung viel Kritik gefallen lassen. Seine Reaktion: Kommunikation kann schief gehen, Nicht-Kommunikation wird schief gehen.
"Es gibt zum Versuch, den Diskurs zu organisieren, keine vernünftige Alternative. Am meisten regen mich diejenigen auf, die über das Herrschaftswissen und über die Königswege verfügen. Die ganz genau wissen, was man tun darf und was man nicht tun darf. Nein, wir sind in einer ziemlich offenen und krisenhaften Entscheidungssituation in unserem Land angekommen, und da darf auch mal ein bisschen trial und error in einer offenen Gesellschaft praktiziert werden, um wieder in den richtigen Tritt zu kommen."
"Wir sind eine ziemlich bunte Mischung"
"Ey, ey, ey, jetzt pass mal auf Müslimädchen, ja!"
Einer der Königswege, so viel scheint sicher, ist der Aufbau einer starken Zivilgesellschaft. In der brandenburgischen Stadt Eberswalde hat es geklappt.
"Wie man sieht, sind wir eine ziemlich bunte Mischung. Ich finde, das kann auch spannend sein."
Ortstermin am Bahnhof Eisenspalterei, ehemalige Außenstelle des Konzentrationslagers Ravensbrück. In den beiden noch erhaltenen Baracken hat der Jugend- und Kulturverein Exil seine Heimat.
"Seit 25 Jahren versuchen wir, rechtsextreme Kulturen zurückzudrängen und alternative Subkulturen, egal wie: Punkrock, HipHop, Metal, zu fördern. Das macht man durch regelmäßige Veranstaltungen."
"Die Obrigkeit, die will uns knechten, als ob sie uns dazu jemals brächten."
Kai Jahns ist Sozialarbeiter, war früher selbst in der Punk-Szene aktiv. Vor zwei Jahren gründete er eine bunte Laienspieltruppe. Vom Kulturamtsleiter über den Hochschulprofessor bis zum waschechten Punk: alle machen mit beim Kanaltheater, einer Open-Air-Trash-Performance.
"Wir versuchen einfach, Stadtgesellschaft abzubilden und Themen zu verhandeln, und so ist die Theaterarbeit für uns zum Zentrum geworden der gesellschaftlichen Gestaltung."
Es war ein langer Weg bis dorthin. Heute ist Eberswalde geprägt durch eine starke Zivilgesellschaft. Vor 25 Jahren war das anders. Im November 1990 prügelten rechte Schläger einen jungen Mann aus Angola zu Tode: Amadeu Antonio. Das erste Nazi-Opfer im vereinten Deutschland. Drei Polizisten sahen dabei zu, schritten aber nicht ein. In der Folgezeit kam es immer wieder zu rechten Aufmärschen – Eberswalde hatte seinen Ruf weg als Nazi-Stadt.
Die Tat hätte verhindert werden können, sagt Uta Leichsenring. Sie übernahm 1991 die Leitung des Polizeipräsidiums in Eberswalde. Sofort galt ihr Augenmerk dem Kampf gegen Rechts.
"Soweit ich Demokratie eben verstehe und immer verstanden habe, braucht eine Demokratie auch eine starke Zivilgesellschaft. Politiker sagen dazu: 'Demokratie braucht Demokraten'. Da war ich als Polizeipräsidentin in einer Funktion, in der ich auch gehört werde. Und das heißt also: immer wieder appellieren an die Bevölkerung, deutlich zu machen, dass sie das nicht wollen, und auf der anderen Seite gegenüber den Lokalpolitikern auch deutlich zu machen: wir müssen hier zivilgesellschaftlich etwas entgegensetzen, und da gehören auch die lokalen Verantwortungsträger an die Spitze."
Die Krise als Chance
Viel Aufklärungsarbeit hatte sie zu leisten. Den Bürgern erklären: was beinhaltet ihr Recht auf freie Meinungsäußerung, wie melde ich eine Demonstration an?
"Es ist natürlich auch mühselig gewesen, es hat gedauert, bis sich in Eberswalde zum Beispiel eine große Gegendemonstration gebildet hat oder angemeldet wurde überhaupt. Wenn wir Rechten-Aufmärsche hatten. Also die Bürger dieser Städte, Orte auf die Straße zu bringen und ihnen deutlich zu machen: ihr müsst auch zeigen, das kann nicht nur die Polizei richten so nach dem Motto ‚da soll sie mal kurz drauf hauen und dann löst sich das Problem von selber'. Es löst sich nicht von selber. Und das war so Anfang der 90er, Mitte der 90er, und ich glaube, da haben wir für diese Region doch eine deutliche positive Entwicklung der Zivilgesellschaft schon auf den Weg bringen können."
Die Krise als Chance. So bitter es klingt: ohne den ersten toten Afrikaner und die gewalttätigen Übergriffe und Aufmärsche der Rechtsradikalen hätten die Bürger von Eberswalde vielleicht nie den Mumm gehabt, eine starke Zivilgesellschaft zu entwickeln. Die mediale Aufmerksamkeit tat ein Übriges.
Unterstützt von Fördergeldern aus diversen EU-Töpfen gründeten sich etliche Vereine und Gruppierungen – für Bildung und gegen Fremdenhass. Seit 1992 sorgt die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung dafür, dass der Ort attraktiv ist für Menschen aus bildungsstarken Schichten. Einziger Wehrmutstropfen: die Wahlbeteiligung. Bei den Kommunalwahlen 2014 lag sie bei 33,8 Prozent.
Standhaft bleiben und sich offensiv für die eigenen Interessen einsetzen, das ist wichtig für den Erfolg einer Zivilgesellschaft. Und wenn es um Entscheidungen von stadtpolitischer Relevanz geht, auch wenn es abgedroschen klingt, immer die Menschen mitnehmen, erklärt Bürgermeister Friedhelm Boginski:
"Als wir in Eberswalde den ersten Wohnverbund für Asylbewerberinnen und Asylbewerber aufgemacht haben, haben wir eine große Einwohnerversammlung in diesem Stadtviertel gemacht, wo wir erklärt haben: was passiert jetzt hier? Und wo ich dazu aufgerufen habe, einen runden Tisch der Willkommenskultur einzurichten. Und den gibt es auch in Eberswalde. Und die treffen sich mit den Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, es werden mehr werden, und versuchen dort, im regelmäßigen Konsens immer wieder etwas auf die Beine zu stellen. Das muss aber von bürgerschaftlichem Engagement getragen werden."
Der Kampf gegen Rechts geht weiter
Etwa 400 Flüchtlinge hat die Stadt Eberswalde schon aufgenommen. Die meisten von ihnen dezentral, nicht in großen Heimen.
Uta Leichsenring war bis 2002 Polizeipräsidentin in Eberswalde. Der Kampf gegen Rechts geht weiter, sagt sie. Ehrenamtlich. Sie ist mittlerweile in sechs Vereinen und Gruppierungen für das Gemeinwohl tätig. Ist im Eberswalde von heute ein zweites Heidenau möglich?
"Nein. Dass es sehr wichtig ist, sich auch zu öffnen, und zwar für die, denen es weniger gut geht: dieses Bewusstsein ist schon ziemlich stark in der Bürgerschaft von Eberswalde verankert."
"Da bin ich eigentlich doch optimistisch. Dass der größte Teil der Menschen im Osten die Demokratie als Staatsform schon gerne behalten wollen. Vor allem wenn sie sich erinnern an früher. Und das sollte man dann gelegentlich mal tun: sich erinnern. Also da bin ich optimistisch. Womit viele nicht klarkommen, ist, dass in einer Demokratie die Entscheidungsprozesse wesentlich länger sind. Das dauert vielen viel zu lange. Aber deswegen wollen sie nicht die Diktatur wiederhaben."
Oder naht die Rettung der Demokratie gar aus den Parteizentralen in Berlin? Weil die Wahlbeteiligung schon seit Jahren sinkt – nicht nur im Osten, bundesweit – trafen sich im vergangenen Sommer die Generalsekretäre aller im Bundestag vertretenen Parteien zum Brainstorming. Erkenntnis: Demokratie muss attraktiver werden. Vorschläge: Wahlurnen in Supermärkten und Bahnhofshallen, längere Öffnungszeiten der Wahllokale, mehr E-Voting. Lächerlich – findet Klaus Schroeder, Politikwissenschaftler an der FU Berlin.
"Ich halte den substanziellen Ausweis, über Inhalte die Leute zum Wählen zu bringen, für viel wichtiger als dass sie sich formal beteiligen, ich meine: das ist ja hier kein Quiz. Oder irgendeine Veranstaltung, wo man mal ein Kreuzchen wo auch immer macht, man sollte nicht der Versuchung erliegen, hier der Wahlbeteiligung hinterher zuhecheln, sondern lieber durch Inhalte überzeugen."
Bundespräsident Joachim Gauck stellt den potenziellen Wähler in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In einem Interview mit dem Fernsehsender RTL meinte er sinngemäß: wer in der Lage sei, alle Vor- und Nachteile eines Smartphones in Erfahrung zu bringen, der müsse doch auch fähig sein, sich hinreichend zu informieren, um an einer Wahl teilzunehmen. – Dabei können die Anreize für politisches Handeln viel profaner sein.
"Und zuletzt gönne ich Ihnen ein kurzes Zitat einer Email, die bei mir angekommen ist: ‚Herr Richter, geben Sie sich keine Mühe, ich werde jeden Montag zu Pegida gehen, bis ich endlich einen Job und eine Frau gefunden habe.'" (Heftiges kurzes Lachen)