25 Jahre Pokémon

Die Mythenwelt hinter den Monsterchen

10:03 Minuten
Fünf menschengroße Pikachus (ein gelbes. hasenähnliches Wesen mit langen Ohren, die an der Spitze schwarz sind) mit LED-Lichtern tanzen auf einer Bühne.
Pokémon – der Name kommt von einer Verkürzung des Anglizismus "pocket monsters" – sind digitale Monster. © imago / AFLO / Yoshio Tsunoda
Von Dinah Zank |
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Pokémon, die kleinen Taschenmonster aus Japan, feiern ihren 25. Geburtstag. Und der Hype um das Videospiel hält an. Die Wesen sind tief verankert im japanischen Volksglauben. Statt individuellem Ehrgeiz geht es um Rücksichtnahme und Naturverbundenheit.
Was 1996 in Japan als Computerspiel begann, ist aus der internationalen Popkultur und auch aus Millionen Kinderzimmern nicht mehr wegzudenken: die Pokémon. Trickfilme, Serien, Comics, Figuren, Plüschtiere – wer seltene Exemplare aus dem Pokémon-Sammelkartenspiel besitzt, kann heute Hunderttausende Euro damit verdienen.
Pokémon – der Name kommt von einer Verkürzung des Anglizismus "pocket monsters" – sind digitale Monster. Es sind Wesen, die aus Eiern schlüpfen und bestimmten Elementen und anderen Klassifikationstypen wie Pflanzen, Insekten, Steinen, Geistern etc. zugeordnet werden können.
Sie existieren in der fiktiven Welt Alabastia zwar physisch in der Natur und interagieren mit Menschen, können jedoch mit Hilfe eines Pokéballs in eine digitale, also nicht-physische Form gebracht und darin in der Tasche mitgenommen, gepflegt, entwickelt und trainiert werden.

Spieleentwickler war leidenschaftlicher Insektensammler

Die Grundidee für das Spiel stammt von Satoshi Tajiri, einem Spieleentwickler, der als Kind ein leidenschaftlicher Insektensammler war und dieses Vergnügen des Sammelns, Klassifizierens und Beobachtens in die digitale Welt übertragen wollte.
Nach mehreren Versuchen investiert schließlich der Konzern Nintendo in sein Konzept und bringt Pokémon in seiner Urversion im Februar 1996 auf den Markt, um damit seine stagnierenden Verkäufe des Gameboy wieder anzukurbeln. Wider Erwarten gingen die Verkaufszahlen durch die Decke. Es folgten ein Trading-Card Spiel und 1997 die TV-Serie, die dem Pokémon-Universum mit den Abenteuern um Ash Ketchum, in Japan Satoshi, und seinen Freunden auf dem Weg zum besten Pokémon-Trainer der Welt einen passenden Hintergrund lieferte.
Der Rest ist Geschichte: Bis heute wurden über 350 Millionen Videospiele unterschiedlicher Versionen, über 25 Milliarden Trading-Cards in 74 Ländern und zehn Sprachen vertrieben. Noch nicht inbegriffen sind die Kinofilme, eine neue Netflix-Serie, der Manga und das von Niantec entwickelte Augmented-Reality-Spiel Pokémon Go.

Transzendentes Dasein zwischen physischer & virtueller Gestalt

Sowohl die Klassifikation der Taschenmonster als auch ihr transzendentes Dasein zwischen physischer und virtueller beziehungsweise spiritueller Gestalt, weist starke Parallelen zum japanischen Volksglauben auf, in dem die Natur von einer Vielzahl von monströsen Geistwesen, den Yôkai bevölkert und beschützt wird.
Yôkai entstammen Volkssagen und haben ihre Wurzeln in der japanischen Naturreligion, dem Shintô. Sie sind ein Sammelbegriff für allerhand Geistwesen, Dämonen und Monster, die in der Natur leben und unter Umständen das Leben der Menschen durcheinanderbringen, wenn sie ihnen zu nahekommen.
Durch Edo-zeitliche Schriften, wie dem im 18. Jahrhundert veröffentlichten Werk Gazu Hyakki Yagyô, der "Illustrierten Nachtparade der 100 Dämonen" wurden die Yôkai und die um sie rankenden Legenden bereits Teil der Populärkultur.

Pokémon an Yôkai und ihre Legenden angelehnt

In Bezug auf Pokémon fallen zwei direkte Bezüge sofort auf: Zum einen wurden die Yôkai von Künstlern wie Kawanabe Kyôsai geradezu wissenschaftlich in einer Art "Monsterologie" klassifiziert, gelistet und mit verschiedenen Elementen, Lebensformen, Regionen und Himmelsrichtungen in Verbindung gebracht.
Bei den Pokémon erfolgt die Einordnung mit Hilfe des Pokédex, einer Art Erfassungsdatenbank nach den gleichen Kategorien und Typen. Zum anderen sind viele Pokémon direkt an bestimmte Yôkai und ihre Legenden angelehnt – zum Beispiel das Feuer-Pokémon Vulpix, das in seiner Gestalt dem vielschwänzigen magischen Fuchs, dem Kitsune, gleicht, oder das legendäre Flug-Pokémon Ho-Oh, das auf dem mythologischen Vogel des gleichen Namens, einer Art Phönix, aus der japanischen Sagenwelt basiert. Beide teilen sich auch das Element Feuer.
Und es gibt weitere Bezüge zur japanischen Kultur, besonders in der Wertevermittlung, wenn man den Manga und die ursprüngliche TV-Serie betrachtet. So geht es weniger um individuellen Ehrgeiz und Erfolg, als vielmehr um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die nur gemeinsam ihr Ziel erreichen kann.

Vermittlung von Werten und Traditionen

Auch bei den Gegenspielern, dem Team Rocket, handelt es sich um Mitglieder einer Organisation, nicht um einen einzelnen "Bösewicht". Werte wie Harmonie, gegenseitige Rücksichtnahme und Naturverbundenheit und ein friedliches Zusammenleben von Mensch und Pokémon werden immer wieder betont.
Außerdem lernt man nebenbei, wie man sich zum Beispiel in einem öffentlichen Bad, dem Onsen, benimmt, oder wie bestimmte Süßigkeiten hergestellt werden, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Interessant sind auch Pokémon, wie Puppance, das gemäß dem Erfinder in uralten Höhlen mit Wandmalereien lebt und eine signifikante Ähnlichkeit zu urzeitlichen menschenähnlichen Firurinen aus Japan, den Dôgu, hat.
Spannend ist aber auch, dass Pokémon nicht im Kampf sterben können. Werden sie besiegt, landen sie wieder im Pokéball. Sterben können sie nur, wenn sich ihr Trainer nicht regelmäßig um sie kümmert und sie nicht weiterentwickelt – ein emotional sehr bindendes Konzept aus Japan, das ebenfalls bereits seit 1997 mit dem Tamagotchi, dem digitalen Küken im Uhrenformat, eine enorme Popularität feierte.

Pokémon-Welt wurde zunehmend internationaler

Weltweit gesehen ist einer der größten Erfolgsfaktoren über einen so großen Zeitraum die Wandelbarkeit und die Vielfalt des gesamten Franchise. Schaut man zurück in die 90er-Jahre, so war die Pokémon-Welt noch klar an Japan orientiert, bis hin zu den Namen der ersten fünf Städte Alabastias, die Städtenamen in Japan entsprachen, oder der Region Kantô, also der Region um Tokyo, die ihr virtuelles Äquivalent bekam.
Mit dem Export kamen dann weitere exotische Regionen mit international klingenden Fantasienamen hinzu. Aus dem Hauptcharakter der Serie, Satoshi, wurde Ash. Aus Roketto-dan, Team Rocket, aus Musashi und Kojirô wurden Jessie und James.
Das heißt, man hat darauf geachtet, dass sich ein möglichst breites Publikum mit den Pokémon-Produkten identifizieren konnte. Auch die Verbindung aus Kampf, sportlichem Ehrgeiz, aber auch Entdeckergeist, Aufzucht und Entwicklung zielt auf eine enorme Breite an Geschmäckern.
Zudem entwickelte man nicht nur multimedial eine breite Produktpalette, sondern auch passendes Merchandise in allen erdenklichen Formen. Und was vielleicht das wichtigste ist: Das Kernprodukt, nämlich das Videospiel, bekam mit jeder technischen Neuerung auch eine neue angepasste Version, auch wenn diese gar nicht von Nintendo stammt, wie jetzt zum Beispiel bei Pokémon-Go.
Man wagte damit den Sprung zur Augmented Reality und verband dies mit der positiven Botschaft, Gamer weg vom Bildschirm und raus in die Natur zu bringen. Kein Wunder also, dass das Spiel gerade in Zeiten von Corona, in denen man möglichst alleine spazieren gehen soll, wieder enorm an Popularität zugenommen hat.

Kritik an popkultureller Image-Kampangne

Ein positives Japanbild hat Pokémon alleine jedoch sicher nicht geschaffen und vor allem nicht mit Vorsatz. Vielmehr ist es umgekehrt: Kooperationspartner wie die japanische Fluggesellschaft ANA, die Teile ihrer Flotte mit dem Maus-Pokémon Pikachu schmückte, oder der Süßwarenhersteller Nestlé nutzen die Popularität aus wirtschaftlichen Interessen.
Betrachtet man aber den Export von Popkultur als Ganzes, also auch Anime und Manga, so wird deutlich, dass der Erfolg von Pokémon ein ganz wichtiger Faktor für die Tourismus-Kampagne "Cool Japan!" ist, die Japan durch eine facettenreiche Popkultur besonders für junge Menschen attraktiv machen und so den Tourismus anzukurbeln soll.
Das wird allerdings innerhalb Japans in der Kunst- und Kulturszene zunehmend kritisch betrachtet. So gab es bereits vor einigen Jahren Ausstellungen von Gegenwartskünstlern wie Yamamoto Akira oder Ikeda Manabu, die unter dem Slogan "no cute" darauf aufmerksam machen wollten, dass japanische Gegenwartskunst und -kultur mehr zu bieten hat, als Hello Kitty und quietschende Elektromäuse.
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