Wie Karneval in Venedig, nur in Schwarz
Seit 25 Jahren versammeln sich zu Pfingsten in Leipzig zigtausende Gothic-Anhänger zum Wave-Gotik-Treffen. Der Kulturwissenschaftler Alexander Nym erklärt, was die Szene heute ausmacht und warum es Rechtsextremisten nicht gelungen ist, sie zu unterwandern.
Seit 25 Jahren treffen sich in Leipzig Gothic-Anhänger zum "Wave-Gotik-Treffen". Längst sei das keine "Untergrund-Subkultur-Szene" mehr, sondern fester Teil der Popkultur.
"Ein Abziehbild der Gesellschaft"
Die Menschen dort seien "ausgesprochen vielschichtig", sagt der Kulturwissenschaftler Alexander Nym, der früher selbst zur Szene gehörte. Im Grunde ein "Abziehbild der Gesellschaft", nur eben mit spezifischen ästhetischen und musikalischen Vorlieben.
Ihn erinnert das Treffen inzwischen an einen Karneval:
"Das ist so ein bisschen wie Karneval in Venedig, nur halt in schwarz. Aber von den Kostümen her ist es ähnlich üppig und aufwendig, auch die Vielfalt und Bandbreite der Stilrichtungen und Modezitate, die man dort zu sehen bekommt, ist natürlich anders, als das 1990/91/92 der Fall war, als es da also mit bescheidenen paar hundert Düsterpunks mal losging."
Keine Unterwanderung durch Neonazis und Rechtsextreme
Nym betont, die Gothic-Szene seien durchweg "sehr angenehme und zurückhaltende, höfliche Leute" und keine "deprimierten, bluttrinkenden, Katzen schlachtenden Teufelsanbeter". Auch sei die Behauptung "nicht wirklich haltbar", dass die Szene von Rechtsextremen unterwandert worden sei. Es möge bei dieser großen Zahl darunter auch "rechtsradikale Idioten oder Neonazis" geben, räumt Nym ein. Dennoch:
"Eine Politisierung, wie sie von der Neuen Rechten in den 90ern beabsichtigt wurde bzw. ein Kulturkampf um die Gehirne, ist auf breiter Basis kein Erfolg beschieden gewesen. Die Szene hat schon eine gewisse störrische Eigensinnigkeit hinsichtlich: was lässt man sich von jemandem sagen, was man denken soll."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Schon seit einem Vierteljahrhundert wird Leipzig jetzt einmal im Jahr der Mittelpunkt der Welt für die Anhänger der Wave-und-Gothic-Szene. Das 25. Wave-Gotik-Treffen in Leipzig findet zwar erst in einigen Wochen statt, Mitte Mai, aber heute wird im Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig eine Ausstellung zur Geschichte dieses Treffens eröffnet.
Und wir wollen darüber deshalb reden mit Alexander Nym. Er war früher lange, lange Zeit selbst Teil dieser Szene, kennt das Treffen seit den Anfangsjahren, und dieses Thema beschäftigt ihn bis heute in seiner Arbeit als Kulturwissenschaftler, er ist unter anderem Autor des Buches "Schillerndes Dunkel". Schönen guten Morgen, Herr Nym!
Alexander Nym: Hallo, guten Morgen!
Mehr als nur ein bestimmter Musik-Stil
Kassel: Goths und Gruftis, Wave-Anhänger, manchmal sogar Satanisten – der Nichtauskenner wirft das ja alles in einen Topf! Wer trifft sich denn nun wirklich in Leipzig?
Nym: Ja, das ist eine ausgesprochen vielschichtige und mittlerweile mit, na ja, über 20.000, manche reden gar von bis zu 25.000 Gästen jährlich … Also, das ist ein Abziehbild der Gesellschaft, kann man sagen, das ist bei derartigen Zahlen nicht mehr vermeidbar, dass die Demografie sich sozusagen überdeckt mit der Demografie der, ja, man kann ruhig sagen: Mainstreamgesellschaft.
Nur eben, dieser spezifische Ausschnitt hat eben gewisse ästhetische Vorlieben, die beziehen sich auf Musik, Styling, auch die Umgebung bis hin zur Zimmereinrichtung, sage ich mal. Also, es geht über die Musik, die die Leute hier hören, schon mitunter hinaus.
Auch in Ostdeutschland gab es Punk- und Undergroundszene
Kassel: Aber warum ausgerechnet Leipzig, wie kam das?
Nym: Na ja, das hatte seine Bewandtnis darin, dass letztendlich der Zufall zu Leipzig als Austragungsort führte, weil die Veranstalter dort schlicht herkamen. Das hatte Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre gab es auch in der ehemaligen DDR eine Punk- und Underground-Szene, also das waren jetzt keine rein auf den Westen zu beschränkenden jugendlichen Entwicklungen in der, wenn man so will, aufkeimenden Independent-Szene der 80er, das hatte eben auch Ostdeutschland erfasst, zumindest in Teilen.
Und die Veranstalter des späteren Wave-Gothic- oder dann Wave-Gotik-Treffens stammten eben aus Leipzig und hatten da natürlich nach der Wende auch relativ gute Bedingungen, was Zugänge zu Räumen für Veranstaltungen betraf. Es gab viele selbstverwaltete Jugendzentren und da hat die Szene also Wurzeln geschlagen und sich also bis heute etablieren können und diese Position noch ausbauen können.
Vielfalt an Stilen und Modezitaten
Kassel: Aber wenn man sich anschaut, was heute daraus geworden ist, aus diesem Treffen, Sie haben auch die Anfänge miterlebt: Ist das nicht heute eigentlich nur noch so eine Art Wave-Karneval?
Nym: Karneval trifft es ganz gut, das war jedenfalls mein Eindruck, als ich nach vielen Jahren das erste Mal 2007 mich dort wieder umgesehen habe. Und es deckt … Also, ich sage immer, das ist so ein bisschen wie Karneval in Venedig, nur halt in schwarz. Aber von den Kostümen her ist es ähnlich üppig und aufwändig, das würde auch die Vielfalt und Bandbreite der Stilrichtungen und Modezitate, die man dort zu sehen bekommt, ist natürlich anders, als das 1991/92 der Fall war, als es da also mit bescheidenen paar Hundert Düsterpunks mal losging, das ist keine Frage.
Das hat sich ausdifferenziert, seit den 90er-Jahren ist die Szene kontinuierlich gewachsen und natürlich auch ein demografischer Faktor geworden. Es ist keine Untergrund-Subkulturszene mehr, wie das mal in den frühen 90er-Jahren der Fall war, so ein Minderheitending, sondern es hat sich also stringent in der Popkultur festgesetzt, seit den 70er-Jahren eigentlich schon, seit es mit Postpunk die ersten Schritte nach dem Urknall 1976, wenn man so will, mit Punkrock dann ergriff. Und ja, das ist heute aus dem Spektrum der Jugend- oder Popkultur auch nicht mehr wegzudenken.
Kassel: Ich kenne ein paar Leute, die sich … jetzt hätte ich fast gesagt: selbst als Goths bezeichnen, das stimmt nicht, die, sagen wir mal: nicht abwertend reagieren, wenn ich sie so bezeichne.
Nym: Ja, das ist ganz typisch.
Hier werden keine Katzen geschlachtet und kein Blut getrunken
Kassel: Aber meine Erfahrung ganz persönlich: Das sind extrem nette, freundliche … es soll jetzt nicht so doof klingen, wie es das tut: liebe Menschen, die aber vor allen Dingen überhaupt nicht depressiv wirken. Ich sehe da keine Suizidgefahr. Ist also das, was ich immer geglaubt habe, dass das so eine stark lebensverneinende Szene ist, totaler Unfug?
Nym: Ja, was Sie gesagt haben, kann ich so aus meiner eigenen Erfahrung eigentlich grundsätzlich unterschreiben. Das lässt sich, denke ich, problemlos auf die meisten Szenegänger/-gängerinnen übertragen. Wenn man schon versucht, so nach neuen Stereotypen zu suchen, was ja gut ist, um die alten Klischees, die es seit den 80er-Jahren gibt, auch mal zu korrigieren, dass das eben nicht alles deprimierte, Blut trinkende, Katzen schlachtende Teufelsanbeter sind, die den ganzen Tag depressiv im Keller zwischen modrigen Särgen verbringen … Nein, im Gegenteil, also, möglicherweise ist es …
Also, zum einen, wie Sie sagten, sind das durch die Bank eigentlich sehr angenehme und zurückhaltende, höfliche Leute, man wird dort also kaum wie in, ich sage jetzt mal: Mainstreampartys oder auf eine breitere Demografie ausgelegten Veranstaltungen auf besoffene, grölende, na ja, unschöne Szenen stoßen. Also, das ist da eher die Ausnahme. Und insofern gebe ich Ihnen da völlig recht, ich konnte die Beobachtung auch über die Jahre hinweg immer wieder machen.
Rechte Unterwanderungs-Hypothese "nicht haltbar"
Kassel: Sind überwiegend freundlich, nett, nicht suizidgefährdet und grundsätzlich von der Szene auch eher unpolitisch. Andererseits, in Leipzig beim Treffen ist seit Jahren unter anderem auch ein rechter Verlag mit einem Stand dabei und ich höre immer wieder, diese Szene werde immer mehr auch von Rechten unterlaufen. Können Sie das bestätigen?
Nym: Jein. Das war vor allem in den 90er-Jahren so ein Diskurs, eine Debatte, die intensiv geführt wurde, als um die politische Hegemonie in musikalischen Jugendkulturen gekämpft wurde. Da hat also die damals sogenannte neue Rechte versucht, von Techno über Hiphop bis Grufti und Neofolkmusik so ziemlich alles sich zu vereinnahmen, nicht zuletzt auch, um eben eine jüngere Generation verfügbar, ansprechbar und rekrutierbar zu machen.
Und man hat damals in der Gothic- beziehungsweise Darkwave-Szene inhaltliche Überschneidungen oder Anschlusspunkte vermutet, die – also Stichwort Romantik, Irrationalismus –, da haben die Rechten oder die Rechtsradikalen vielmehr damals geglaubt, man könnte also mittels Blut-und-Boden-Mystik und Nationalromantik da irgendwo Anschlussmomente schaffen. Aber diese Unterwanderungshypothese ist also jetzt 20 Jahre später nicht wirklich haltbar.
Störrische Eigensinnigkeit der Szene
Also, wie gesagt, man hat natürlich, angesichts dieser Demografie von zig Tausenden, Zehntausenden Menschen in Leipzig geht die Wahrscheinlichkeit gegen eins, dass es da auch irgendwelche Knalltypen gibt, rechtsradikale Idioten oder Neonazis, die sich dahin verirren oder auch in manchen künstlerischen Provokationsmomenten eine Bestätigung ihrer eigenen Sichtweisen sehen möchten, und dabei die Komplexität und Widersprüchlichkeit vieler Musikprojekte, die sich scheinbar politisch positionieren, auch gerne mal zu ignorieren.
Aber also, eine Politisierung, wie sie von den Rechten in den 90ern beabsichtigt wurde, beziehungsweise ein Kulturkampf um die Gehirne, dem ist also auf breiter Basis kein Erfolg beschieden gewesen. Und die Szene hat schon eine gewisse störrische Eigensinnigkeit hinsichtlich, was lässt man sich von irgendwem sagen, wie man denken soll oder wie man zu empfinden oder geschweige denn zu wählen hat.
Das sind doch ein bisschen komplexere Willensbildungsvorgänge, als dass man jetzt problemlos irgendwie sagen könnte, man macht ein bisschen stramm klingende, militaristische Musik und übermorgen gehen die NPD wählen … Wenn es so einfach wäre, ja, du lieber Himmel! Also, dann hätten wir schon längst eine ganz andere politische Landschaft! Nein, so ist es nicht!
Kassel: Herzlichen Dank! Der Kulturwissenschaftler Alexander Nym war das über die Wave-Gothic-Szene, die sich in diesem Jahr zum 25. Mal in Leipzig trifft. Und deshalb gibt es ab heute auch eine Ausstellung zu diesem Treffen im Stadtgeschichtlichen Museum von Leipzig.
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