"Zeitgeschichte ist stark mit der Gegenwart verbunden"
Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ist 25 Jahre alt - Grund genug, Bilanz zu ziehen. Direktor Frank Bösch über Aktenberge, den notwendigen Abstand zum Forschungsgegenstand und den Sinn von historischen Vergleichen.
Dieter Kassel: Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, das ZZF, verdankt seine Existenz dem Mauerfall, und so lag der Schwerpunkt seiner Arbeit am Anfang einige Jahre lang ziemlich eindeutig auf der Geschichte der DDR.
Das hat sich aber längst geändert. Geforscht und publiziert wird nicht nur zur Geschichte beider deutscher Staaten, sondern auch zur Geschichte Europas und der Rolle Deutschlands darin.
Eines aber ist geblieben – das sagt ja schon der Name –, es geht um Zeitgeschichte, und aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des ZZF wollen wir über deren Chancen und Tücken bei Forschung und Vermittlung jetzt mit Frank Bösch reden. Er ist Direktor des ZZF und Professor für deutsche und europäische Geschichte an der Universität Potsdam. Guten Morgen, Herr Bösch!
Frank Bösch: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Haben Historiker, die zur Geschichte des 20. Jahrhunderts forschen, zumindest in ihrer Forschung – Publizieren reden wir gleich noch drüber –, es leichter als ihre Kollegen, allein schon aufgrund der Quellenlage?
Unglaublich viele Akten und Zeitzeugen
Bösch: Zeithistoriker haben es zugleich leichter und schwerer. Sie haben einerseits deutlich mehr Quellenmaterial, unglaublich viele Akten, die sie bearbeiten können, und daher ist eine zentrale Kompetenz, auswählen zu können, zu sagen, was sind wichtige Themen, was wollen wir wie erforschen. Wir haben, zweitens, die Möglichkeit, mit Zeitzeugen zu sprechen, und das ist eine große Chance, die wir auch am ZZF regelmäßig nutzen, aber natürlich haben wir auch den Widerspruch der Zeitzeugen, Leute, die sich anders erinnern oder die aus Erzählungen ihrer Vorgesetzten, ihrer Eltern eine ganz, ganz andere Geschichte kennen als die, die wir kennenlernen.
Ich nenne noch einen letzten Punkt, warum wir es leichter und schwerer haben: Die Medien und die Sozialwissenschaften haben ja in ihrer Zeit bereits über alles mögliche berichtet. Das heißt, viele Geschichten sind erst mal aus einer anderen Sicht erzählt, und nun kommen die Historiker, gehen in die Archive und versuchen, Sichtweisen hinter den Kulissen aufzuarbeiten, zu erforschen, und das ist ganz schön schwer, sich dann auch davon zu lösen von dem, was die Zeitgenossen beobachtet haben. Wir beziehen das ein.
Kassel: Das heißt aber auch, Sie haben natürlich gelegentlich mit dem Problem zu kämpfen, dass nach einer Publikation der eine oder andere sagt, ich persönlich habe das anders in Erinnerung.
30 Jahre Abstand sind nötig
Bösch: In der Tat, und es geht uns selbst ja auch so, denn wir sind ja selbst auch alle Zeitzeugen. Mit zunehmendem Alter merkt man, das hat man doch auch erlebt oder zumindest aus der Elterngeneration kennt man das. Deswegen sagen viele auch, dass man diesen Abstand von 30 Jahren, den Zeithistoriker normalerweise halten, braucht.
Wir warten etwa 30 Jahre, weil dann die Archive erst aufgehen, dann können wir erst sehen, was sich intern getan hat, aber wir warten auch etwa 30 Jahre, weil wir dann sehen, wie Themen sich entwickelt haben und wir den Abstand von etwa einer Generation haben, in der sich viele Dinge auch ein bisschen abgehangen haben und dann ruhiger und sachlicher bewertet werden können.
Kassel: Kann man denn aber ohne Bewertung, ohne persönliche Bewertung, ohne gar politische Standpunktnahme Geschichte beschreiben, gerade die des 20. Jahrhunderts?
Bösch: Es ist zum einen so, dass Wissenschaft natürlich immer von einem Austausch lebt, und insofern gibt es auch in der Zeitgeschichte, vielleicht gerade da, unterschiedliche Positionen, die mitunter auch was mit politischen Weltanschauungen zu tun haben können.
Trotzdem funktioniert auch die Zeitgeschichtsforschung so wie jede Wissenschaft. Wir müssen belegen, wir machen Fußnoten, die auf Archive verweisen, und das muss für jeden Kollegen nachvollziehbar sein, und das wird auch entsprechend natürlich sehr kritisch geprüft in den Fachzeitschriften, in den Begutachtungen und am Ende bis hin in die Medien bei Besprechungen unserer Werke. Also insofern ist Zeitgeschichte etwas, was unter wissenschaftlichen Standards bestimmte Aussagen entwickelt.
Kassel: Manche, nicht alle, aber manche – ich benutze jetzt mal ein ganz schwieriges Wort: Konsumenten der zeithistorischen Forschung - haben ja den Anspruch, dass diese Forschung bezüglich der Vergangenheit ihnen die Gegenwart erklärt. Können Sie diesem Anspruch gerecht werden?
Stark mit der Gegenwart verbunden
Bösch: Zeitgeschichte ist stark mit der Gegenwart verbunden. Wir gewinnen – und die Fragestellungen, die wir haben, die Themen, die uns interessieren – natürlich sehr stark auch aus der Gegenwart. Im Moment interessieren sich beispielsweise viele Zeithistoriker für die Geschichte der Migration, die vorher eine geringere Bedeutung hatte.
Zudem gewinnen wir aus der Zeitgeschichtsforschung natürlich Urteilskraft über die Gegenwart. Wir untersuchen oft die Vorgeschichte gegenwärtiger Probleme, und damit können wir natürlich auch besser bewerten, wie wir mit heutigen Problemen umgehen können und sollen.
Es wird ja oft gefragt, können wir eigentlich aus der Geschichte lernen, wiederholt sich Geschichte. Ich glaube, die Fähigkeit, unsere Gegenwart und vielleicht auch die Zukunft zu beurteilen, ist eine wichtige Kompetenz, ohne dass wir die Zukunft vorhersehen können. Ganz im Gegenteil, man kann auch aus der Geschichte lernen, dass es ganz oft anders kommt als erwartet.
Kassel: Aber wiederholt sich denn Geschichte? Sie kennen ja diese ewigen Vergleiche zwischen dem, was wir jetzt erleben, wenn die AfD in den Bundestag einzieht und der Spätphase der Weimarer Republik. Ist das eine Wiederholung der Geschichte?
Bösch: Nein, das würde ich als ein politisches Argument ansehen. Die Weimarer Republik ist sicherlich nicht mit der Gegenwart zu vergleichen. Die Weimarer Republik war keine gefestigte Demokratie, hatte ganz, ganz andere soziale und wirtschaftliche Probleme als wir es gegenwärtig haben, und auch die AfD ist natürlich nicht mit der NSDAP zu vergleichen.
AfD: Aus Vergleichen lernen
Hier wiederholt sich nichts, aber wir haben natürlich Ähnlichkeiten eher aus der bundesdeutschen Geschichte. Hier würde ich den Vergleich eigentlich eher sehen mit dem Aufkommen der Republikaner in den späten 80er-, frühen 90er-Jahren mit den Asyldebatten, die wir in den frühen 90er-Jahren gehabt haben, und auch den entsprechenden Brandanschlägen zu dieser Zeit.
Also das wäre der Vergleichspunkt, den ich für legitimer halte, oder eben ausländische Vergleiche, internationale Vergleiche zu ziehen. Ich glaube, daraus kann man mehr lernen. Was wir allerdings auch vergleich können ist, inwieweit mit der AfD eine gewisse Sprache aufkommt, die aus früheren Zeiten kommt, ein Vokabular, das teilweise in den 20er-Jahren seine Wurzeln hat. Auch das ist etwas, wo Historiker mit ihrer Urteilskraft gefragt sind.
Kassel: Kann eigentlich gerade zeithistorische Forschung sein auch ein Mittel gegen Fake News? Widerspricht sich erst mal, weil News so tagesaktuell wirkt, aber natürlich werden heute auch Dinge verkündet, die mit Fakten aus der Vergangenheit begründet werden, die nicht unbedingt Fakten sind. Also können sie auch beitragen zu dieser Form von Aufklärung gegen das, was so durch das Internet wütet?
Bösch: Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Die Expertise von Wissenschaftlern in der Öffentlichkeit hat ja stark zugenommen in den letzten Jahren, und auch wir Zeithistoriker und unser Institut wird immer wieder von den Medien angefragt, gerade weil wir die Möglichkeit haben, genauer, abgewogener, vielleicht auch etwas fundierter durch längere Recherche gesichert, Ergebnisse zu präsentieren und Wissenschaftler auch oft etwas unabhängiger sprechen können als vielleicht mancher Journalist oder zumindest als unabhängiger gelten.
Zugespitzte Debatten versachlichen
Insofern, glaube ich, können unsere Befunde sehr, sehr stark dazu beitragen, bestimmte aufgeregte, zugespitzte Debatten in der Öffentlichkeit zu versachlichen. Dass dabei Wissenschaftler unterschiedliche Meinungen haben, ist auch etwas ganz Normales. Wissenschaft lebt von der Kontroverse, so entstehen eigentlich auch nur Innovationen in der Forschung. Man muss nur transparent machen, wie diese Befunde jeweils aufkommen.
Kassel: Seit 25 Jahren gibt es jetzt das Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam, und aus diesem Anlass haben wir mit seinem Direktor Frank Bösch gesprochen über die Vergangenheit, aber natürlich auch über Gegenwart und Zukunft der zeithistorischen Forschung. Herr Bösch, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Bösch: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.