Respekt vor DDR-Erfahrungen
Wer darf DDR-Geschichte schreiben? Darüber wurde nach dem Mauerfall erbittert gestritten. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ging einen eigenen Weg. Seine Kompetenz könnte bald noch stärker gefragt sein.
Auf einmal scheint die deutsche Teilung wieder auf. Auf der Landkarte der Bundestagswahl erkennt man an der intensiveren Blaufärbung das Gebiet der einstigen DDR wieder. 27 Jahre nach der Wiedervereinigung. Gründe gibt es verschiedene. Einer, den Christoph Kleßmann, ehemaliger Direktor am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam, benennt, ist nicht zu unterschätzen:
"Es gab eine interessant Umfrage ausgerechnet in Bitterfeld, wenn ich mich richtig erinnere, denen es ökonomisch gar nicht so schlecht geht, auch wenn man andere Assoziationen an Bitterfeld hat, die aber trotzdem überproportional bei der Landtagswahl AfD gewählt haben, und bei Befragungen kam dann raus, sie fühlen sich ein Stück weit gedemütigt und nicht akzeptiert und vom Westen dominiert – und, und, und, und. Damit muss man sich differenziert auseinandersetzen."
Eigene Geschichte unter Generalverdacht
Demütigungen. Nach 1990 war für die Ex-DDR-Bürger nicht nur der Staat verschwunden – auch dass man in diesem Staat gelebt hatte, war plötzlich ein Problem: die eigene Geschichte geriet unter Generalverdacht. Vor diesem Hintergrund wird in Potsdam ein bemerkenswertes Jubiläum gefeiert: das 25-jährige Bestehen eines Forschungszentrums, das anders mit der DDR-Geschichte umgegangen ist als damals lautstark gefordert wurde.
"Wer darf DDR-Geschichte schreiben?" Über diese Frage wurde in den frühen 90er Jahren erbittert gestritten. Historiker, die nicht zur DDR-Opposition gehört hatten, sollten aus der Forschung verschwinden: dieser Ruf erschallte aus den Feuilletons großer westdeutscher Zeitungen. Nicht zuletzt von oppositionellen DDR-Historikern. Einer von ihnen war Stefan Wolle, der Mitte der 90er Jahre das, was in Potsdam aufgebaut wurde, so kritisierte:
DDR-Historiker am Institut
"Es geht darum, dass hier ein Institut entstanden ist, in dem eben genau das geschehen ist, dass ein sehr großer Teil der dort arbeitenden Historiker, von denen, die aus der DDR kommen, eben zu jenem Kreise gehört haben, die in der Partei Funktionen hatten, sehr stark diese Linie vertreten hatten in ihren Publikationen, da kann es jeder nachlesen."
Der inzwischen verstorbene ehemalige Leiter eines Akademie-Instituts, Fritz Klein, der vor 1989 missliebige Historiker geschützt hatte, reagierte 1994 so:
"Wissen Sie, es kommt mir manchmal so vor, als ob es ein Teil dieser ungeheuren Enttäuschung ist von Bürgerbewegten, ich sag´s mal so, die 1989 glaubten, ihre Zeit würde gekommen sein, und sie ist ganz generell nicht so gekommen, wie man das damals glaubte. Es ist eine Art von Hass und Verbitterung da, die ich eigentlich letztlich nicht verstehe."
Das Recht, Geschichte zu schreiben
Aus dem Potsdamer Forschungszentrum wurde das Zentrum für Zeithistorische Forschung. Christoph Kleßmann war ab 1996 einer der beiden Direktoren. Im Rückblick sieht er den Konflikt so:
"Ich glaube, dahinter steckt ein Konflikt, der letztlich nicht wirklich auflösbar ist. Die Vorstellung, dass nur diejenigen DDR-Geschichte schreiben müssen oder schreiben dürfen, die in Opposition zum Regime gestanden haben, ließ sich natürlich nicht realisieren. Man musste auch bestimmte Qualifikationen aufweisen oder vorweisen, die hatten viele nicht, konnten viele auch nicht haben, das ist auch ein Stück weit vielleicht tragisch."
Was war die DDR?
Der heftige Streit um die Frage, wer DDR-Geschichte schreiben dürfe, hatte einen inhaltlichen Kern, der für den Umgang mit der DDR-Vergangenheit weitreichende Bedeutung hatte: Was war die DDR? SED-Staat, Stasi-Staat, nur das? Kleßmann reißt das Problem so auf:
"Manche haben das programmatisch formuliert, Forschungsverbund SED-Diktatur – das ist ja nicht einfach falsch, die SED hatte natürlich das Sagen, trotzdem ist das nur ein Teil der historischen Wahrheit, und hier ein bisschen genauer nachzugucken und die Differenzierung anzubringen und eben diese Grauzonen genauer in den Blick zu nehmen, das, denk ich, war schon ein wichtiger Punkt. Da haben auch die Westdeutschen einiges dazulernen müssen, und dass das manchmal sehr lange gedauert hat, bis sie dazugelernt haben, das hat bis zu den heutigen Wahlergebnissen durchaus langfristige Konsequenzen gehabt. Also, da haben wir in Potsdam versucht, ein komplexeres DDR-Bild zu entwickeln, ohne deswegen die Diktatur weichzuspülen."
Die Ironie der Geschichte war: In den 80er Jahren, vor dem Mauerfall, hatte man in Westdeutschland die DDR in ein geradezu mildes Licht getaucht, betont Kleßmann:
"Man muss auch in Erinnerung rufen, vor 1989 sprach im Westen niemand mehr von SED-Diktatur, das haben wir wahrscheinlich vergessen: das war der zweite deutsche Staat oder die zweite Gesellschaft oder was weiß ich. Natürlich war für Analysen klar, dass die SED das Sagen hatte, aber der Diktaturbegriff war politisch im Zuge der Entspannungspolitik und der gewünschten Normalisierung von Bundesrepublik und DDR fast verschwunden."
Denkschemata des Kalten Krieges nach Mauerfall
Nach der Wiedervereinigung lebten jedoch die Denkschemata des Kalten Krieges wieder auf. Der Kampf der DDR-Bürgerrechtler um die Aufdeckung des SED-Unrechts vermischte sich mit dem wiedererwachten Schwarz-Weiß-Denken aus dem Westen. SED und Stasi: das schienen die einzig wichtigen Themen für die DDR-Forschung zu sein. Das Potsdamer Forschungszentrum wurde gegen diese damals mächtige Strömung aufgebaut – mit dem Anspruch, den der Gründer, der Bielefelder Historiker Jürgen Kocka, so formulierte:
"Der Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien in Potsdam beschäftigt sich mit der Geschichte der DDR und SBZ in größeren Zusammenhängen, vor allem in vergleichenden Zusammenhängen. Wir bemühen uns um die Tiefenschichten der DDR-Gesellschaft, ohne die Ereignisse zu vernachlässigen. Und wir glauben, dass es nicht genügt, aus der Sicht der Herrschenden auf die DDR zu blicken, nicht aus der Sicht der Stasi-Akten und der anderen Parteiinstanzen. Sondern wir versuchen auch die Geschichte der DDR von unten als gesellschaftlichen Prozess zu begreifen."
Respekt vor der Erfahrungswelt der DDR-Bürger
In diesem Ansatz steckte ein Respekt vor der Erfahrungswelt der DDR-Bürger, der im wiederaufgeflammten Kalte-Kriegs-Denken der 90er Jahre alles andere als selbstverständlich war. So wurde das Potsdamer Forschungszentrum zu einem Wiedervereinigungslabor im Umgang zwischen Ost und West. Die personelle Mischung sorgte dafür, dass auch das Eigenleben der DDR-Gesellschaft erkannt wurde. In Potsdam wurde das Wort vom Eigen-Sinn geprägt, mit dem Menschen in der DDR ihr Leben anders gestalteten, als von der SED gefordert. Beispiel: das Kulturleben im SED-Staat. Ex-ZZF-Direktor Kleßmann sagt:
"Bei vielen war das Bild: in der DDR hat es kein aktives Kulturleben gegeben, das ist alles von der Partei mehr oder minder gegängelt worden oder gesteuert worden. Das stimmt so nicht. Natürlich hat die alles versucht zu gängeln, von Buchproduktion bis zum Film und zur Malerei, aber wenn man genauer hinguckt, ist unter der Decke der politischen Dominanz der führenden Partei doch eine ganze Menge passiert – und das haben natürlich die Leute, die dort gelebt haben, intensiver wahrgenommen als diejenigen, die sich nicht drum gekümmert haben."
Themenspektrum reicht über die DDR hinaus
Inzwischen hat sich dieser Ansatz, die DDR-Geschichte nicht auf Stasi zu reduzieren, sondern in ihrer Komplexität zu erfassen, durchgesetzt. Auch institutionell: So spielen Institutionen, die Diktatur- und Stasi-Geschichte der DDR ins Zentrum rücken, eine geringere Rolle als in den 90er Jahren.
Das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung ist heute – neben dem Münchner Institut für Zeitgeschichte – das zweite große geschichtswissenschaftliche Forschungszentrum der Bundesrepublik. Das Themenspektrum reicht heute weit über die DDR-Geschichte hinaus. "Moving history" zum Beispiel, das erste deutsche Geschichtsfilmfestival, das kürzlich in Potsdam stattfand, wurde vom ZZF ins Lebens gerufen.
Doch die DDR-Geschichte könnte angesichts der jüngsten Wahlergebnisse wieder eine stärkere Rolle spielen – und damit auch die Frage, wie man im wiedervereinigten Deutschland mit der DDR-Geschichte umgegangen ist. Und mit den Menschen, die sich dieses Staates entledigt hatten.