Jung, aber nicht wild
Manche betrachten den "Open Mike"-Wettbewerb in Berlin als eine Junior-Version der Bachmann-Tage. 20 Nachwuchsautoren konkurrierten miteinander, vier davon wurden ausgezeichnet. Tomas Fitzel über schräge Metaphern, fragwürdige Auswahlregularien und ein paar Lichtblicke.
Waren die ersten Jahre des Open Mikes von einer fiebrig enthusiastischen Goldgräberstimmung geprägt, mit starken emotionalen Aufs und Abs, dem Gewusel der aufgeregten Literaturagenten auf der Suche nach dem neuen Fräuleinwunder, wie es damals hieß, oder dem nächsten Bestsellerautor, so ist der Open Mike jetzt reifer, gesetzter und sehr viel vernünftiger geworden, was seiner Anziehungskraft aber nicht schadet.
In diesem Jahr ist eine große Ernsthaftigkeit zu beobachten. Gelacht wird nur selten. Ausnahme bei Baba Lussi, die am Ende auch den Publikumspreis gewinnt und einen sehr verspielt rhythmischen, mit Binnenreimen durchsetzen Text präsentiert.
Baba Lussi: "Als ich nach Hause kam, war ein Fremder da. Trat ein, zur Tür, und sah ihn gleich: Im Glühlicht aus dem Treppenhaus sah ich ihn im Sessel sitzen. 'Auf meinem Sessel', dacht ich da, nichts andres sonst."
Lukas Diestel: "Er ging zielstrebig auf den Gasherd zu, blieb dann aber, verständlicherweise, wie angewurzelt stehen, als er sich selbst zweimal an seinem Küchentisch sitzen sah."
Der Text von Lukas Diestel, in dem sich ein Peter vervielfacht, passt fast nahtlos dazu. Überhaupt geht es oft um enge, kleine Welten, wie etwa Wohnungen, aus denen man nicht mehr herauskommt.
Permanente Tier-Metaphern
Rainer Holl: "Durch die Jalousien fällt das Licht der Abendsonne in Streifen auf den Wohnzimmerteppich."
Die schrägste Metapher bringt Christian Schulteisz.
Christian Schulteisz: "Der Bussard stürzt wie ein leerer Teller vom Himmel."
Tiere kommen in allen Gattungen vor.
Christian Schulteisz: "Genau gesagt waren es die Larven des Schwammspinners Lymantria dispar ..."
Tobias Pagel: "Vor meinem Fenster summt es eklektisch, mein elektrisches Schaf ..."
Besonders beliebt: der Wolf.
Ronya Othmann: "Gib mir Land, dann rufe ich die Wölfe zurück in den Wald."
Ralph Tharayil: "Die Wölfe sind meine Brüder."
Tiere sind überhaupt das Wildeste. Drogen, Alkohol und Exzesse, nur in homöopathischen Dosen, Sex und Erotik: ein Kuss, mehr ist nicht.
Timotheus Riedel: "Stanley Malkowskis Idee, wahnsinnig zu werden, fiel von West nach Ost, von Nord nach Süd, von Miami bis Seattle auf fruchtbaren Boden. Auf eine merkwürdige Art schienen alle nur darauf gewartet zu haben, dass jemand damit anfangen würde."
Aber nirgendwo Wahnsinn. Die Bilanz ist daher zu Beginn des zweiten Lesetages mehr als ernüchternd. Die Verlegerin Daniela Seel:
Daniela Seel: "Schwach, bisher schwach. Also, das ist dieses Jahr auch absolut mein Eindruck, dass es so super angepasst ist in der Prosa wie in der Lyrik, so irgendwie klinisch, so von den Ansätzen her, ganz gut gemacht oft, aber es brennt irgendwie nicht, es ist so unberührt – es ist so beamtisch umgesetzt."
600 Einsendungen in diesem Jahr
Sabine Baumann vom Verlag Schöffling und Co. ist eine der sechs Lektoren, die sich aus dem Berg von fast 600 Einsendungen 20 auswählen musste.
Sabine Baumann: "Der Reiz ist zum Einen, dass man junge Stimmen hört und lesen kann, die man ansonsten vielleicht überhaupt nicht zu sehen bekäme, weil sie bei jemandem in der Schublade liegen. Der andere Reiz war das Anonymisierte. Man bekommt den Text mit einer Nummer drauf und sonst gar nichts, man weiß überhaupt nicht, von wem das ist. Nicht Männlein, nicht Weiblein, also man weiß, es ist jemand unter 35, aber mehr weiß man tatsächlich nicht."
Was das Erstaunliche ist, trotz der Anonymität, am Ende findet sich in diesem Jahr eine soziologisch äußerst homogene Gruppe zusammen: 100 Prozent Akademiker, alle studierten Literatur oder Verwandtes und bis auf die jüngste 19-jährige Teilnehmerin, können alle bereits auf teilweise schon sehr professionelle Literaturtätigkeit verweisen. Wie lässt sich dies erklären?
Florian Kessler: "Das wird auch über die Jahre hinweg immer weiter gehen und sich radikalisieren, dass der Literaturbetrieb einfach inzwischen sehr sehr durchprofessionalisiert ist."
Florian Kessler ist ebenso einer der Lektoren.
"Die ganzen Scouts, die Agenten, die Verlage, die suchen schon nach gut funktionierenden Texten."
Das ist der Widerspruch: eigentlich hoffen alle auf das Neue und Unverbrauchte, das ganz Andere, aber am Ende sind es wohl doch die eingespielten Codes, auf die reagiert wird. Ein sich selbst reproduzierendes System. Unter den letzten Vortragenden werden dann doch noch die Preisträger gefunden. Ingo Schulze ist einer der drei Juroren.
Indische Mythologie und Schweizer Gemütlichkeit
Ingo Schulze: "Es ist nicht einfach gewesen, und ich es darf es so sagen, auch wenn wir jetzt drei Preisträger und Preisträgerinnen haben, es lag alles sehr eng beieinander. Ein Preis geht an Ralph Tharayil."
Drei Preise werden gleichberechtigt vergeben: an Mariusz Hoffmann und die Lyrikerin Ronya Othmann und eben Ralph Tharayil aus der Schweiz. In seinem Text prallt indische Mythologie auf Schweizer Gemütlichkeit, Idylle auf Brutalität.
Ralph Tharayil: "Idylle auf jeden Fall, vielleicht auch so eine Art von innerer Brutalität ja – also vielleicht ein Zusammenhalt dieses Landes, der gar nicht auf kooperativem Zusammenleben fungiert, sondern auf brutalem Zusammenhalt."
25 Jahre Open Mike. Vielleicht ist es an der Zeit, über die Auswahlregularien neu nachzudenken.
Die vier Gewinner des Open Mike waren in unserer Literatur-Sendung "Lesart" zu Gast: