Ein Streiter für anarchische Erkenntnis
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"Anything goes" – dieses Credo machte Paul Feyerabend über die Fachwelt hinaus bekannt: echte Forschung brauche keine Regeln, wissenschaftliche Erkenntnis sei relativ. Vor 25 Jahren ist Feyerabend gestorben. Wer war der österreichische Philosoph?
"Was ist das, die Wahrheit? Was DIE Wahrheit ist, hab ich keine Ahnung von."
So Paul Feyerabend in einer Archivaufnahme. Vernunft war für den Philosophen "nichts anderes als eine eingefrorene Leidenschaft":
"Also heutzutage, was die Leute brauchen, ist eher etwas mehr Freundlichkeit und Hilfe statt Aufklärung."
Forschung ohne Regeln
Wissenschaft sei nicht besser als Magie, Regentänze nicht schlechter als Wettercomputer, und auch die Astrologie sei nicht zu verachten. Seinen Relativismus brachte Paul Feyerabend in einem griffigen Slogan zum Ausdruck, der zugleich der Titel eines Musicals von Cole Porter war: "Anything goes" – alles ist erlaubt!
Feyerabend: "Niels Bohr hat gesagt, bei der Forschung kann man sich an keine Regeln halten, nicht einmal die Regeln der Logik. Da muss man Freiheit haben, sonst findet man nicht, was man finden will. 'Anything goes' ist eine freche Formulierung dieser weit bekanten Tatsache."
Über die Grenzen der Fachwelt hinaus bekannt wurde der österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker mit seinem 1974 veröffentlichten Buch "Wider den Methodenzwang." Die Grundthese: Wissenschaftliche Erkenntnis ist regellos. Jeder Versuch, Regeln aufzustellen, kommt einer Form von Gewalt gleich.
Vernunft als Tyrannei
Feyerabend: "Solche Art der Vernunft, die ein Gerüst aufstellt, dem alle Menschen unterworfen sind, und sagt: wir sind die Verwalter jenes Gerüsts, und wenn ihr nicht auf den Wegen dieses Gerüsts geht, dann geschieht Schreckliches mit euch. Das ist Tyrannei!"
Feyerabend grenzte sich mit solchen Thesen vor allem gegen die "Logik der Forschung" ab, die sein akademischer Lehrer Karl Popper entwickelt hatte. Nach Popper haben alle empirischen Theorien den Status von Hypothesen und müssen sich permanent einer möglichen Widerlegung aussetzen – Popper nennt das Falsifikation. Denn nur im Wettstreit mit alternativen Theorien könne sich die beste durchsetzen.
Dieser Wettstreit allerdings müsse standardisierten methodischen Regeln folgen, Regeln eben, die Feyerabend für unbegründet hielt und die aus seiner Sicht zudem den Erkenntnisgewinn behinderten. Er plädierte für ein kreativ pluralistisches Wissenschaftsverständnis ohne jeden Methodenkanon. Ohne Suche nach allgemeinen Prinzipien. Er schrieb:
"Das einzige, wogegen der erkenntnistheoretische Anarchist sich bedingungslos wendet, sind allgemeine Grundsätze, allgemeine Gesetze, allgemeine Ideen wie ‚die Wahrheit‘, ‚die Vernunft‘, ‚die Gerechtigkeit‘, ‚die Liebe‘."
Radikale Relativierung?
Aber indem Feyerabend die Existenz von allgemeinen Kriterien für Wissenschaft bestreitet, verbleibt ja letztlich kein Kriterium mehr, das Wissenschaft von Nichtwissenschaft scheidet. Konkret: Auch Akupunktur und Kräuterheilkunde können ein Stück Wahrheit erreichen, ebenso Handauflegen und Sterndeuterei. Die Weltdeutungen und Erkenntnispraktiken anderer Kulturen seien keinesfalls gering zu schätzen, so der Philosoph.
Feyerabend: "Viele Kulturen, selbst Stämme, ganz kleine Stämme haben Weisen des Lebens hervorgebracht, die eine große Kenntnis voraussetzen, und wenn sie das erklären, zeigt das eine Einsicht in die Naturzusammenhänge, die den westlichen Naturwissenschaften fehlt."
Was weltoffen klingt, offenbart zugleich auch die Probleme von Feyerabends Ansatz. Etwa wenn er fordert, in Schulen solle nicht nur die Evolutionstheorie, sondern auch die biblische Schöpfungsgeschichte gelehrt werden. Muss man dann heute die Argumente der Klimalwandelleugner ebenso anerkennen wie die wissenschaftlichen Belege für den Klimawandel, da es ja keine Erkenntniskriterien gibt?
Und warum nicht auch Verschwörungstheorien? Warum soll falsch sein, dass Flugzeuge am Himmel Chemikalien versprühen oder dass das World Trade Center vom israelischen Geheimdienst zerstört wurde? Anything goes! Es komme ihm "auf einen Kulturpluralismus" an, so Feyerabend, "auf einen Pluralismus der Lebensweisen und der Denkweisen."
Ein Philosoph, der keiner sein will
Alle Welt-Deutungen seien es gleichermaßen wert, gefördert zu werden, führte Feyerabend in seinem Buch "Erkenntnis für freie Menschen" aus. Bei Mittelknappheit hätten allein die Bürger – nicht irgendwelche Fachwissenschaftler – zu entscheiden, in welche Projekte Forschungsgelder fließen sollten.
Natürlich war er mit solchen Forderungen das Enfant Terrible der Erkenntnistheorie. Seine Thesen wurden so angefeindet, dass er einmal äußerte, er würde wünschen "dieses verfluchte Buch" – Wider den Methodenzwang – "nie geschrieben" zu haben. Aber letztlich hatte er ja selbst mit seiner Zunft gebrochen. In einem Interview kurz vor seinem Tod sagte er:
"Ich bin ja kein Philosoph. Philosophen sind ja verrückt. Da habe ich einmal gelesen‚ wir als Philosophen haben die Aufgabe, für die Verbesserung der Menschheit einzutreten, die Bannerträger der Menschheit. Ein Philosoph? Was weiß dieser Mensch von der Menschheit? Er sitzt in seinem Büro, er rennt von einer Vorlesung zur anderen. Was weiß er von peruanischen Bauern? Aber er spricht von der Menschheit – verrückt sind diese Leute!"