Held oder Besetzer?
16:27 Minuten
Die Australier wollten am 28. April den 250. Jahrestag der Entdeckung ihres Landes durch den britischen Kapitän Cook feiern. Doch die Party fällt Corona zum Opfer, darunter eine Schiffsfahrt für 4,5 Millionen Euro. Nicht alle sind darüber traurig.
"We are standing on the Southern shores of Botany Bay in Sydney, Australia. And this is the place where Captain James Cook and the crew of the Endeavour first set foot in Australia…."
Die Botany Bay im Süden von Sydney. Nur ein paar Schritte vom Pazifik steht Georgina Eldershaw an der Geburtsstätte des modernen Australiens, da, wo vor 250 Jahren ihre Vorfahren, die Ureinwohner des Dharawal-Stammes standen.
Eines der größten Abenteuer der Seefahrtsgeschichte
An dem unscheinbaren, halbmondförmigen Strand der Bucht ging im Jahr 1770 eines der größten Abenteuer der Seefahrtsgeschichte zu Ende. Ein schlichtes Sandsteindenkmal erinnert an den britischen Entdecker James Cook und die Besatzung der "Endeavour", die ersten Europäer, die Australiens Ostküste betraten.
"So they sailed through the heads over there and they came to this location inside the heads. They dropped anchor and came ashore in this spot."
Ein lichter Eukalyptuswald verliert sich in einem sanft abfallenden Grashügel, der bis zum Wasser hinunter führt. Außer einem geteerten Wanderweg bis ans Ufer und einem hölzernen Aussichtssteg wurde die windgeschützte Bucht so belassen wie vor 250 Jahren. Cook und seine Besatzung waren damals 25 Monate auf hoher See gewesen, bevor sie in Botany Bay an Land gingen. Heute ist die Anreise ungleich einfacher.
Cooks Anlegestelle liegt direkt unter der Einflugschneise des internationalen Flughafens von Sydney. Am Horizont, vor der Skyline der City, drehen sich stumm die Ladekräne des Hafens, der beißende Benzingeruch einer nahen Ölraffinerie hängt in der Luft. Wegen chemischer Abwasser in der Bucht ist das Angeln verboten. Steve Campbell betreibt einen Krämerladen an der Abbiegung zur Gedenkstätte. "Die Wiege Australiens", sagt er, könnte genauso gut auf einer Müllkippe stehen:
"Jeder hat diese romantische Vorstellung von Botany Bay, dabei ist die Gegend voller Industriebetriebe. Jede stinkende Fabrik, die man anderswo in Sydney nicht haben wollte, kam hierher. Deshalb ist Botany Bay auch nicht dieses unverfälschte Gründungssymbol des modernen Australien, wie das viele glauben."
Das Opernhaus ist wichtiger als Cooks Anlegestelle
Der Stadtteil, in dem Botany Bay liegt, heißt Kurnell, ein Viertel im Spagat zwischen Australiens Vergangenheit und der Gegenwart. Die Ölraffinerie, eine Kläranlage und Chemie-Großkonzerne, die Lösungsmittel und Sprengstoffe für die Bergbauindustrie herstellen – sie alle liegen entlang des Captain Cook Drive, der einzigen Straße auf die Landzunge. Schwerlastverkehr den ganzen Tag über, gewaltige Schaufelbagger, die Kurnells Dünen zur Sandgewinnung abtragen und dann ist da noch Sydneys Meerwasserentsalzungsanlage. Die Anwohner protestieren seit Jahrzehnten: Gegen zu viel Industrie, das verseuchte Grundwasser und den Chemie-Sondermüll, der in stacheldrahtumzäunten Fabrikhallen mitten in ihrem Viertel gelagert wird.
"Es ist eine Schande, wie wir die Anfänge unserer Nation mit Füßen treten", beklagt die 83-jährige Tess Norton. Als Teenager ging sie schwimmen in der Bucht, heute würde sie nicht einmal ihren kleinen Zeh mehr ins Wasser halten.
"Ich lebe hier, seit ich acht Jahre alt bin, und ich liebe Botany Bay. Australien ist ein junges Land, aber ich kann nicht verstehen, wie gleichgültig wir mit unserer Geschichte umgehen. Jeden kümmert nur der Hafen von Sydney. Dort darf nichts Hässliches zu sehen sein, weil da das Opernhaus steht und alle Touristen hingehen. Zu Captain Cooks Anlegestelle verirrt sich kaum jemand. Ich wünschte, das wäre anders, denn Botany Bay ist unser Erbe und unsere Geschichte."
Rechtzeitig für das 250-jährige Cook-Jubiläum wurde das Besucherzentrum hinter dem Parkplatz generalüberholt, bescheiden ist es immer noch. Die Cafeteria hat mehr Klappstühle als das Mini-Museum nebenan Ausstellungsstücke. Die Hauptattraktion ist eine der sechs Kanonen von Bord der "Endeavour", dazu Uniformen und Krimskrams aus Cooks Nachlass, Artefakte des lokalen Ureinwohnerstamms und Audio-Auszüge aus Cooks Tagebuch von 1770.
"The natives of New Holland they are far more happier than we Europeans. They live in a tranquility which is not disturbed by the inequality of condition."
Cook klingt fast eifersüchtig, wenn er das angenehme Klima, die frische Luft und die Eingeborenen beschreibt, die er an Land ausmacht. Die Aborigines wirkten auf ihn glücklicher als Europäer. Es gäbe keine offensichtlichen Klassenunterschiede, die ihr Leben im Einklang mit der Natur störten.
Cooks Landung als Anfang vom Ende der Aborigines?
Bei der ersten Begegnung fielen Warnschüsse und Speere wurden geschleudert – bevor man friedlich aufeinander zuging."Hätten sie geahnt, dass die Landung Cooks den Anfang vom Ende ihrer Kultur bedeutete", vermutet die Aborigine Georgina Eldershaw, "dann hätten meine Vorfahren Botany Bay damals bis zum letzten Mann verteidigt".
"Die Ankunft Cooks hatte verheerende soziale Folgen für die Aborigines. Nach zehntausenden Jahren wurde ihre Welt auf den Kopf gestellt. Für Generationen plagten den Aborigine-Stamm in Botany Bay Schuldgefühle. Die Ureinwohner fühlten sich dafür verantwortlich, die Europäer ins Land gelassen zu haben."
Cook verließ Botany Bay mit Pflanzenproben und Erinnerungen an ein fruchtbares Land, ertragreiche Böden und dichte Wälder. Nachdem er die gesamte Ostküste verzeichnet hatte, hisste er an der Nordspitze des Kontinents die britische Flagge und nahm "Terra Australis" für das Empire in Anspruch. 15 Jahre später gründeten die Briten die Sträflingskolonie Neusüdwales im heutigen Sydney. Für den Aborigine John Maynard, Professor für Ureinwohnerstudien an der Universität Newcastle, war die Landung Cooks die Stunde Null für die älteste Kultur der Welt.
"Cook ist für uns Ureinwohner das ultimative Feindbild, denn alles, was den Aborigines nach seiner Landung widerfahren ist, geht auf ihn zurück. Invasion, Besetzung, Enteignung, Völkermord, kultureller Holocaust, Rassentrennung und erzwungene Anpassung – all das begann mit Cook. Wer europäische Wurzeln hat, feiert 250 Jahre weißes Australien, für uns ist dieses Datum ein Trauertag."
Cook war bereits zehn Jahre tot, als 1789 die erste Flotte mit Europäern in Australien ankam. Trotzdem steht sein Name bis heute für das Verdrängen der Ureinwohner an den Rand der Gesellschaft. Für die Massaker, die andere später begingen, die Vergewaltigungen, die tödlichen Krankheiten, die sie einschleppten, das Land, das sie für sich beanspruchten und die Kinder, die sie Aboriginefamilien zur Umerziehung in weißen Heimen wegnahmen. "Cook wurde das Symbol für das Schicksal unserer Urbevölkerung", sagt Professor John Maynard.
"Zu Unrecht in die Rolle des Bösewichts gedrängt"
Selbst in entlegenen Gegenden weit von der Küste, in denen Cook niemals war, und selbst für Greueltaten, die Cook nie begangen oder befohlen hat.
"Es ist erstaunlich, dass Cook – zu Unrecht – in diese Rolle des Bösewichts gedrängt wurde. Unter Aborigines aber hieß es: 'Später kamen noch ganz andere Captain Cooks.' Das waren Siedler und Farmer, die sie von ihrem Land vertrieben, sie versklavten oder ihre Frauen missbrauchten. Auch die Wohlfahrtsbeamten, die Aboriginekinder verschleppten, wurden 'Captain Cooks' genannt. Sein Name ist untrennbar mit dem Leid, das den Ureinwohnern widerfuhr, verbunden."
Während "Captain Cook" für die Ureinwohner zum Schimpfwort wurde, verewigte das weiße Australien den britischen Seefahrer überall im Land. Die Küstenstadt Cooktown, Universitäten und Straßen wurden nach ihm benannt, dutzende Denkmäler ihm zu Ehren errichtet. Das imposanteste, eine zehn Meter hohe Betonstatue – Cook in Uniform, mit Degen und ausgestrecktem Arm – thront als Wahrzeichen über der Hauptstraße von Cairns im tropischen Nordosten. Das wohl umstrittenste und am häufigsten mit Graffity beschmierte steht in der Innenstadt von Sydney.
Der Archibaldbrunnen in Sydneys Hyde Park, der grünen Lunge im Zentrum der Fünfmillionenstadt. Am anderen Ende des Parks hat man Captain Cook schon 1879 ein Denkmal gesetzt. Die lebensgroße Bronzestatue – Cook mit einem Teleskop unterm Arm – steht auf einem wuchtigen Granitsockel, darauf die eingemeißelten Worte "Entdeckte dieses Land 1770". Eine Inschrift, die 250 Jahre später Achselzucken oder Empörung auslöst. Kommt darauf an, wen man fragt.
"Das ist mir vollkommen egal, mir ist die Inschrift noch nie aufgefallen", meint ein junger Finanzberater auf dem Weg zur Arbeit. Tess Norton aber möchte, dass der Schriftzug verschwindet. Sie arbeitet nur ein paar Schritte vom Hyde Park im Australischen Museum. Dort erklärt sie Schulklassen, dass die Aborigines schon seit 80.000 Jahren den Kontinent bevölkern und dass Australien keine unbekannte Landmasse war, die erst gefunden werden musste.
"Es ist ein Witz zu behaupten, Captain Cook hätte Australien entdeckt, aber diese Aussage ist mehr als nur Worte auf einem Monument. Sie zeigt die herablassende Haltung des angeblich überlegenen Europäers. Die Inschrift muss weg. Wir haben in diesem Land auch kein Problem damit, heilige Ureinwohnerstätten oder 80.000 Jahre alte Felsenkunst für die Bergbauindustrie zu beseitigen."
250 Jahre Captain Cook und Australien. Wer so weit zurück schaue, warnen Ureinwohnergruppen, der verliere leicht den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Beide sehen für Australiens 500.000 Aborigines nicht gut aus. Zu viele hängen am Tropf der Wohlfahrt, an der Flasche und verlassen sich auf Sozialhilfe. Arbeitslosigkeit und Kindersterblichkeit sind doppelt so hoch wie bei anderen Australiern, Schulabsenzen sechsmal so hoch, die Lebenserwartung um acht Jahre niedriger. Aborigine-Aktivistin Murrandi Leighton glaubt, dass gut gemeinte Ureinwohnerpolitik, das Leben für Aborigines nur verschlechterte.
"Sinnlose Arbeitsprogramme und bargeldlose Lastschriftkarten, mit denen man nur Lebensmittel und Waren kaufen kann, sind eine Beleidigung unserer Ureinwohner. Sie sollten frei über ihre Sozialhilfe verfügen dürfen. So werden sie nur weiter benachteiligt."
"Unsere Ureinwohner müssen sich selbst helfen"
Obwohl erstmals ein Aborigine als Minister für Ureinwohnerbelange im Parlament sitzt, fehlt die Mitsprache. Eine eigene Aboriginekommission wurde vor Jahren nach Korruptionsvorfällen aufgelöst, ein geplantes Referendum, das Australiens Ureinwohner in der Verfassung würdigen soll, liegt auf Eis. Konservative Stimmen wie der Kolumnist Andrew Bolt fordern mehr Willen zur Eigenverantwortung. Es hätte nichts mit Rassismus zu tun, zu behaupten, dass für Aborigines ein traditionelles Leben wie zu Zeiten Cooks mit dem modernen Australien nicht vereinbar sei:
"Diese angeblich so rassistische Gesellschaft bringt jedes Jahr 18 Milliarden Euro auf, um eine halbe Million Aborigines zu unterstützen. Aber unsere Ureinwohner müssen sich selbst helfen, um ihren Lebensstandard zu verbessern. Gemeinsamer Landbesitz funktioniert nicht, es hilft nicht dort zu leben, wo es keine Jobs gibt, und seine eigenen Kinder nicht zur Schule zu schicken, hilft ganz bestimmt nicht."
Mit Pauken und Trompeten wurden letztes Jahr Ausstellungen und Gedenkfeiern zum 250. Cook-Jubiläum angekündigt. Eine nachgebaute "Endeavour" sollte wie damals Australiens Ostküste hoch segeln, Cooks Landgänge sollten nachgestellt werden. Das war vor dem Coronavirus. Jetzt gelten Ausgeh- und Versammlungsbeschränkungen. Tess Norton vom Australischen Museum sieht darin eine einmalige Gelegenheit, statt nur mit Fähnchen zu schwenken, ehrlich Flagge zu zeigen:
"Die sogenannte Wahrheit wurde vor allem aus der weißen Perspektive geschrieben, die Geschichte der Ureinwohner blieb dabei auf der Strecke. So wurde bisher in den Schulen unterrichtet. Das muss sich ändern. Jeder muss begreifen, dass Australiens Geschichte 80.000 Jahre umfasst und nicht nur etwas mehr als 200."