Kritische Haltung zu gewachsenen Traditionen
Das Innovationspotenzial der monotheistischen Religionen war Thema beim "3. Berliner Religionsgespräch" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Echte Reform sei nicht Anpassung an den Zeitgeist, sondern Besinnung auf den Kernwert einer Religion, hieß es dort.
Der neue Luther ist noch nicht gefunden, weder im Islam noch in den anderen monotheistischen Religionen. Aber auf der abstrakten und prinzipiellen Ebene gelang es den vier Geisteswissenschaftlern auf dem Podium, das Innovationspotential der Religionen auszuloten.
Jan Assmann, Ägyptologe, Religionswissenschaftler und Monotheismus-Theoretiker von der Universität Heidelberg, stellte fest, in den monotheistischen Religionen schlummere ein Innovationsimpuls. Er meint den Impuls, in der Rückbesinnung auf den Ursprung, also die Sinai-Offenbarung, die Christus-Offenbarung oder die Offenbarung des Korans, über das Gegebene hinauszugehen. Reformation geschehe nicht durch Druck von außen, sondern durch einen spezifisch monotheistischen Druck von innen. Ein bestimmter Wahrheitskern der Religion dürfe nicht verändert werden. Indem sich ein Reformator an ihn erinnert, begibt er sich in eine kritische Haltung zu gewachsenen Traditionen, die diesem Kern widersprechen.
Ähnlich formulierte es der katholische Theologe Karl-Josef Kuschel aus Tübingen: Echte Reform sei nicht Anpassung an den Zeitgeist. Vielmehr besinne sich eine Reformbewegung auf den "Kernwert" der Religion und setze von diesem aus die Reformimpulse.
Die Neudenker des Islam
Im Blick auf den Islam blickte Angelika Neuwirth, Arabistin an der Freien Universität Berlin, auf Reformschübe des Islam in seiner Geschichte zurück. Im 8./9. Jahrhundert hätten islamische Gelehrte versucht, die Willensfreiheit des Menschen im islamischen Denken durchzusetzen. Dadurch seien sie in Konflikt mit dem autoritativen Koran-Verständnis geraten. Die islamische Reformbewegung im 19./20. Jahrhundert habe bemerkt, dass der Koran viel vom westlich-aufgeklärten, vernunftorientierten Gedankengut in sich trage. Die in dieser Richtung denkenden Reformer hätten sich aber nicht durchgesetzt.
Heute gebe es "Neudenker" des Islam, die sich auf frühere Reformbewegungen bezögen. Man finde diese zum Beispiel an den islamisch-theologischen Fakultäten und Instituten an deutschen Universitäten. Professorin Neuwirth appellierte an die etablierten Theologen in Deutschland, den Kontakt zu diesen neuen Lehrstätten des Islams zu suchen. Dies gelte auch im Blick auf die Islam-Gelehrten und deren Institutionen in Ländern wie Jordanien, Tunesien und Marokko.
Volker Leppin, Tübinger Kirchenhistoriker, konstatierte in der Gegenwart einen "Gärungszustand wie im Spätmittelalter". Heute sei die religiöse Frömmigkeit noch polyzentrischer und unübersichtlicher als im 15. Jahrhundert. Wenn sich in einer solchen Situation Reformation ereigne, bedeute dies eine "Verfestigung von Pluralitäten" in Gestalt von Institutionen.