30 Jahre Angela Merkel

Die Frau in der Politik

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Angela Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend (1991) steht am Schreibtisch in ihrem Büro in Bonn.
Konnte mit der sogenannten "Frauenfrage" gar nichts anfangen: Angela Merkel als Bundesministerin für Frauen und Jugend (1991). © picture-alliance / Sven Simon
Gedanken von Simone Schmollack |
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Angela Merkel machte ihr Frausein nie zum Thema. Gerade deswegen habe sie in ihrer Amtszeit viel in Bezug auf Gleichberechtigung geleistet, meint die Journalistin Simone Schmollack.
An einem Spätsommertag 1993 traf ich Angela Merkel das erste Mal persönlich. Sie war damals Frauenministerin, ich wollte mit ihr über Frauenrechte, die Berufstätigkeit von Frauen in Ost und West, über das drohende Abtreibungsverbot und andere emanzipatorische Themen reden. Von Ostfrau zu Ostfrau.
Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass die CDU-Politikerin und ich oft einer Meinung sein werden. Überrascht war ich dann aber doch, dass die erste Frauenministerin aus dem Osten, wo Frauen bekanntermaßen gleichberechtigter waren als in der Bundesrepublik, mit der sogenannten "Frauenfrage" gar nichts anfangen konnte.
Jahrzehnte später überraschte sie mich wieder. 2018, beim Festakt zum 100-jährigen Frauenwahlrecht in Deutschland, sagte sie Sätze wie: "Quoten waren wichtig. Aber das Ziel muss Parität sein. Parität überall." Damit meint Merkel, dass es ohne vollständige Gleichstellung in allen Lebensbereichen nicht mehr geht. Oder um es mit einem bekannten Narrativ zu umschreiben: Wie gerecht eine Gesellschaft ist, erkennt man an ihrem Umgang mit Frauen.

Erst spät trat sie offen für Gleichberechtigung ein

Was ist passiert in den vergangenen 30 Jahren, in denen sich Merkel hochgekämpft hat von der Frauen- und später Umweltministerin zur Generalsekretärin und Parteivorsitzenden der CDU und schließlich ersten Bundeskanzlerin? Was ist passiert mit der Frau und was mit der Gesellschaft?
Grob zusammengefasst, klingt das so: Aus der Ostdeutschen, für die Feminismus schon deshalb kein Thema war, weil sie sich in der DDR ausreichend emanzipiert wähnte, ist eine Westdeutsche geworden, die erkannt hat, dass die nach wie vor existierende Ungleichbehandlung von Frauen und Männern auch in einer aufgeklärten Gesellschaft offenbar nur mit Druck aufgehoben werden kann.

Allerdings erlaubte sich Angela Merkel erst am Ende ihrer Karriere, offen für Gleichstellung einzutreten. Vorher verhandelte sie die "Geschlechterfrage" eher sachlich-neutral. Und das, obwohl in ihrer Amtszeit so revolutionäre Dinge wie Elterngeld und Vätermonate, Quoten für Aufsichtsräte und Vorstände sowie ein Entgelttransparenzgesetz und die Homo-Ehe in Kraft traten. Unter ihrer Führung wurde das Scheidungs- und Unterhaltsrecht reformiert, das Frauen nach der Elternzeit stärker in den Job zurückbringen und so aus der finanziellen Abhängigkeit vom Mann befreien sollte.
In Merkels Amtszeit holte Deutschland nach, was in Skandinavien längst gelebter Alltag ist. Das ist nicht nichts. Aber Merkel forcierte diese Genderfragen nicht, sie ließ sie eher "geschehen". Sie hatte erkannt, dass sie Macht einbüßen könnte, wenn sie sich diesen gesellschaftlichen Fortschritten verweigerte. Merkels frauenpolitischer Move geht also einher mit dem Wandel der Gesellschaft, in der Ungerechtigkeiten heute stärker denn je angeprangert werden.

Merkel machte ihr Frausein nie zum Thema

Anders herum hat aber auch Merkel mit der ihr eigenen Unaufgeregtheit und der komplett anderen Art, Politik zu machen, so viel für Frauen getan wie kaum andere zuvor in Deutschland. Weil sie ihr Frausein nie zum Thema machte, sondern stets auf Sachfragen drängte, konnte Merkel nie auf die Frauenrolle reduziert werden.
Anders hätte sie sich nie so lange als Kanzlerin halten und die mächtigste Frau der Welt werden können. Sie musste die Banken- und die Eurokrise und zum Schluss die Coronapandemie managen, mit der verstärkten Fluchtmigration umgehen, mit Autokraten wie Putin, Trump und Erdogan verhandeln, den Rechtsterrorismus bekämpfen und mit der Klimakrise umgehen. Knallharte Themen, denen das Geschlecht von Staatsoberhäuptern egal ist.
Merkel musste sich oft die Kritik gefallen lassen, sie gestalte Politik wie ein Mann. Aber stimmt das? Hat sie im Kanzleramt so agiert wie vor ihr Schmidt oder Kohl? War sie tatsächlich so eitel wie Schröder? Oder war sie nicht eher durchsetzungsstark und umsichtig zugleich? So veränderungsbereit wie vorsichtig taktierend?

Sie hat diese Rolle voll ausgefüllt

Sie stieg in einer Zeit in die ganz große Politik ein, in der die Gesellschaft Gleichstellungs- und Identitätsfragen keineswegs so offen behandelte, wie das mittlerweile der Fall ist. Hätte sie sich beispielsweise weiblicher Dresscodes bedient und sich feminin gebärdet, wäre die Kritik an ihr mitnichten geringer ausgefallen.

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock tritt heute selbstverständlich in Kleidern auf, in Reden erwähnt sie ihre Kinder und politisiert damit Familienthemen auf neue Weise. Das ist erst jetzt möglich – und das ist auch Angela Merkel und ihrer Genderneutralität zu verdanken. Auch wenn das weder ihr noch der Gesellschaft momentan bewusst sein mag.
Angela Merkel war – und ist es ja noch für kurze Zeit – die erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Sie hat diese Rolle voll ausgefüllt, in jedem Fall so wie ihre männlichen Vorgänger. Wenn das keine frauenpolitische Leistung ist.
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