30 Jahre Atomruine Tschernobyl

Zynischer Umgang mit den Strahlenopfern

Die Gegend um Tschernobyl ist noch immer verseucht.
Die Gegend um Tschernobyl ist noch immer verseucht. © picture alliance / Tass Tolochko
Von Aleksandr Nowikow |
Als im April 1986 das Kernkraftwerk Tschernobyl explodierte, informierten die sowjetischen Behörden die Einwohner und Einsatzkräfte nicht über die Gefahren. Die Strahlung wurde verharmlost. Zumindest in der Ukraine hat man dies Lügen nicht verziehen.
Um 1:23 Uhr, mitten in der Nacht, wurde die kleine ukrainische Stadt Pripjat durch eine Explosion geweckt. Die Feuerwehrleute, die als erste zum nahegelegenen Kernkraftwerk kamen, wussten nicht, welche Art Brand es war, den sie löschen sollten. Fast alle sind später gestorben - an den Folgen einer Überdosis radioaktiver Strahlung.
Ihrer Tapferkeit ist es zu danken, dass der Unfall, der zur Katastrophe wurde, sich nicht noch viel schlimmer auswirkte. Dies ist auch dem fliegerischen Können von Hubschrauberpiloten zu danken, die aus der Luft mit Hilfe von Spezialmitteln den Brand im Reaktor zu ersticken versuchten.
So wie ihnen muss auch all den anderen Helfern gedankt werden, die zu Einsätzen in die strahlenverseuchte Zone fuhren - die einen freiwillig, die anderen pflichtbewusst und die meisten schließlich rekrutiert. Denn Pripjat, aus der alle Einwohner evakuiert wurden, verwandelte sich allmählich in eine Geisterstadt.

Behörden verschwiegen Ausmaß des Unglücks

So berief man die benötigen Kräfte, wie in einem militarisierten Land üblich, zur Armee ein, um sie fürs Sichern und Aufräumen abzukommandieren. Ukrainische Bergarbeiter beispielsweise gruben unter dem Reaktor einen Tunnel, der den Bau einer Betonwanne ermöglichte, die verhindern sollte, dass radioaktives Wasser ins Erdreich eindrang.
So tapfer, so arglos sie waren, umso zynischer benahmen sich die sowjetischen Behörden. Während alle Welt von Fernsehen, Radio und Presse informiert wurde, verschwiegen sie der eigenen Bevölkerung das Ausmaß der Katastrophe. So schickte die Kommunistische Partei Genossen-Kinder zur Demonstration am 1. Mai, obschon sie wusste, dass über Kiew eine radioaktive Wolke schwebte.
Damals wurde mit dem Mythos "friedlicher Atomkraft" zugleich die absolute Sicherheit der Technologie propagiert. Weshalb sich Bewohner und Besucher der Region rund um das Atomkraftwerk selbst im Ausnahmezustand oft unbekümmert benahmen. Die gefährliche Strahlung war nicht sichtbar. Und sie veränderte sich ständig.

Beschleunigter Zusammenbruch der UDSSR

Das Desaster von Tschernobyl kostete die Ukraine, Weißrussland und Russland Hunderte Milliarden Dollar. Man kann mit Sicherheit sagen, dass es den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums beschleunigte. Die Ukrainer haben die Lügen nicht verziehen. Nur wenige Jahre danach sprachen sie sich in einem Referendum gegen die Sowjetunion und für eine unabhängige Ukraine aus.
Menschen, die mit der Strahlung in Berührung kamen, zahlten mit unerwarteter Krankheit und frühzeitigem Tod. Diejenigen, die einst in der "Tschernobyl-Zone" wohnten, kamen verstreut im Lande in eigens eingerichteten Siedlungen unter. Dort pflegen sie ihre einzigartige Kultur und Sprache von Polesien. Doch ihre Heimatdörfer und die Friedhöfe, wo ihre Eltern begraben sind, können sie nur einmal im Jahr besuchen.

Forschung ist noch immer beschäftigt

Bekanntlich geschah die Havarie, als mit dem Reaktor auf gefährliche Weise experimentiert worden war. Es sollte ein Stromausfall simuliert werden. Und das misslang, weil Vorschriften und Sicherheit missachtet wurden.
Noch heute sind der Meiler und die Folgen seines Gaus Gegenstand der Forschung. Wissenschaftler fragen sich weltweit, wie sich freigesetzte Strahlung im Zeitverlauf auf Tiere, Wiesen und Wälder auswirkt, wie sie gar die Ernährung der Rentiere beeinflusst und was die Krankengeschichten der Patienten verraten, die an Krebs leiden.
In letzter Zeiten teilen ukrainische Experten mit den japanischen Kollegen Erkenntnisse und Erfahrungen. Auf Tschernobyl folgte Fukushima. Die Aufmerksamkeit wechselte von der Ukraine nach Japan. Das Experimentieren geht weiter. Nur der Schaden ist geblieben. Und wer ihn erlitten hat, kann ihn nicht vergessen.

Aleksandr Nowikow, Jahrgang 1982, ist Völkerrechtler und Dozent an der Nationalen Juristischen Akademie "Jaroslaw Mudry" in Charkiw. Sein Forschungsschwerpunkt sind Verfassungsänderungen in den postsozialistischen Staaten, so schrieb er seine Doktorarbeit über den "Rechtlichen Status des Präsidenten von Polen".

Aleksandr Nowikow, ukrainischer Rechtswissenschaftler, Professor an der Nationalen Juristischen Universität "Jaroslaw Mudry" in Charkiw
© privat
Mehr zum Thema