30 Jahre Bonn-Berlin-Entscheidung

Berlin, ein Wartesaal voller Zauberer und Ideen

29:01 Minuten
Auf dem Potsdamer Platz haben 1991 Zirkuszelte Platz.
Der Potsdamer Platz 1991: vor dem Zweiten Weltkrieg der verkehrsreichste Platz Europas. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 wurde er zum Niemandsland. © dpa/ Zentralbild
Von Winfried Sträter |
Audio herunterladen
Berlin sei eine Unglücksstadt für deutsche Regierungen, sagte Stefan Heym. Die Stadt sei voller Zauberer, sagte Cees Nooteboom. Und ein Stadtplaner träumte von einer Symbiose aus Stadtschloss und Palast der Republik. Berlin 1991.
"Mich hat ja keiner gefragt", beklagt der Schriftsteller Stefan Heym 1991, nachdem die Entscheidung gefallen ist. "Obwohl ich im vorigen Herbst zum Bundesbürger avancierte, mit allen Rechten, die mir dadurch erwachsen, darunter das Recht, mitreden zu dürfen, auch über die Geografie des Landes, und ein Wörtchen beizusteuern, und sei es ein Ja oder ein Nein, zu so gewichtigen Fragen wie jener, ob denn das Volk, das wieder vereinte, von Berlin aus zu regieren sei oder von Bonn."

Dieses Zeitfragenfeature wurde erstmals am 28. August 2019 im Rahmen der Serie "Als die DDR untergegangen war" ausgestrahlt.

Als die Mauer gefallen, die Mark (Ost) abgeschafft und die DDR schließlich untergegangen war, fehlte noch eine gewichtige Entscheidung für die Zukunft der neuen Bundesrepublik Deutschland: Von wo aus sollte dieser Staat regiert werden? Von Bonn aus, wie die alte Bundesrepublik, oder von Berlin aus? Die Entscheidung fiel im Bonner Bundestag am 20. Juni 1991.
"Die Spannung ist riesengroß, und ich geb das Ergebnis jetzt bekannt: abgegebene Stimmen 660, davon gültige Stimmen 659, für den Antrag Bundesstaatslösung, Bonn-Antrag, 320 Stimmen, für den Antrag Vollendung der Einheit Deutschlands, Berlin-Antrag, 337 Stimmen, Enthaltungen zwei."

Zweieinhalb Monate nachdem Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth die Entscheidung für Berlin verkündet hat, gibt Stefan Heym in einer öffentlichen Veranstaltung des RIAS, des Rundfunks im amerikanischen Sektor, seine satirische Antwort auf die Regierungssitz-Frage, die ihm nicht gestellt wurde.
Jugendliche informieren sich am 21. Juni 1991 vor dem Brandenburger Tor aus der Zeitung über das Abstimmungsergebnis zur Entscheidung für Berlin als künftigen Regierungssitz.
21. Juni 1991: Am Tag zuvor hatte eine Mehrheit im Bundestag für Berlin als zukünftigen Regierungssitz gestimmt.© picture alliance/dpa/Andreas Altwein

Stefan Heym wollte Bonn

"Hätte jedoch mich einer gefragt, ich hätte geantwortet: Bonn. Und hätte das gesagt als Berliner, der ich nun seit langen Jahren bin. Gerade als Berliner. Und nicht nur aus der großzügigen Lässigkeit heraus, nein, aus purem von Vernunft und Erfahrung diktiertem Egoismus.
Wir lebten ja schon, erinnern wir uns, zumindest wir Ossis, in einer Hauptstadt. Zusammen mit einer Regierung. Wer sieht nicht nur vor seinem geistigen Auge die großen blauen Schilder entlang der Autobahn – Berlin, Hauptstadt der DDR –, die uns erinnern sollten, dass wir nicht in ein Fischerdorf an der Spree kamen, wenn wir das Holperpflaster spürten unter unseren Reifen bei der Einfahrt in die Kapitale. Ah, welcher Hauptstadtduft, welches Hauptstadtflair, besonders in der Normannenstraße im Stadtbezirk Lichtenberg!

Aber unsere neue Regierung, so höre ich Stimmen, das ist doch was ganz anderes. Das sind, bitte sehr, aufgeklärte und demokratisch denkende Herrschaften, tolerant, klug und mit anerkannt großem Herzen, auch für den kleinen Mann. Und die Mitglieder dieser Regierung sind, von der Spitze bis zum hinteren Ende, gewählt. Wirklich und wahrhaftig gewählt. Zugegeben. Und dennoch scheint mir im Licht der Weltgeschichte, als ähnelten die Regierungen, seit es Regierungen gibt, einander doch sehr. Wenn nicht im Background ihres Personals, so doch in Wesen und Gehabe.
Und was ist denn, gebe ich zu überlegen, so schön an einer Regierung, auch der besten, dass man sie unbedingt in der Nähe haben muss. Wir haben schon so viele Regierungen gehabt in Berlin, brauchen wir diese da auch noch? Wir hatten den Kaiser, den mit dem vergüldeten Helm über dem gezwirbelten Schnurrbart, der ging dann nach Doorn in Holland und übte sich im Holz hacken. Dann hatten wir den dicken Ebert, der in die Inflation schlitterte, und den Feldmarschall Hindenburg, der den ganzen bankrotten Laden an Hitler übergab. Und Hitler zog in die Wilhelmstraße und starb in dem Bunker dort, als die Sowjets auf dem Reichstag ihre Fahne hissten, die rote. Und dann hatten wir den Genossen Ulbricht und den Genossen Honecker. Und Honecker promeniert jetzt mit seiner Margot im Garten eines Moskauer Krankenhauses.

Ja, ich glaube wirklich sagen zu können, dass Berlin eine Unglücksstadt ist für deutsche Regierungen. Sie enden alle böse hier. Und wenn ich ein deutscher Regierungschef wäre heute, ich zöge lieber, als dass ich nach Berlin käme, in den Kyffhäuser, wie der Kaiser Barbarossa selig, und ließe meinen Bart durch den steinernen Tisch hindurchwachsen dort. Oder ich bliebe wenigstens in Bonn. Aber mich fragt ja keiner."
Schriftsteller Stefan Heym in der Ost-Berliner Erlöserkirche im Oktober 1989.
Schriftsteller Stefan Heym in der Ost-Berliner Erlöserkirche im Oktober 1989.© imago images / epd

Angela Merkel war nicht glücklich, aber zufrieden

1991 ist noch offen, wann und in welchem Umfang die Regierung an die Spree ziehen wird. In Bonn am Rhein regiert Helmut Kohl, und seine Ministerin für Frauen und Jugend wird nach der Hauptstadtentscheidung vom Deutschlandfunk befragt, wie sie denn diese Entscheidung sieht: Angela Merkel.
"Ja, ich bin zufrieden, glücklich wäre zu viel gesagt. Ich glaube, Bonn hat sich in 40 Jahren als Hauptstadt eines demokratischen Teils von Deutschland bewährt, und ich sehe sehr wohl die Probleme, die jetzt mit einem solchen Umzug verbunden sind. Deshalb, denke ich, ist es wichtig, dass wir uns Zeit lassen, dass wir diese Legislaturperiode in Ruhe und Besonnenheit vorübergehen lassen. Aber ich denke, vielleicht geben wir dem neuen Deutschland auch ein neues Gesicht. Deshalb war ich dafür. Ich seh auch die Gefahren, die sachlich für Berlin sprechen. Dass es schwer sein wird, in einer so großen Stadt immer Regierungsfähigkeit herzustellen, man ist anfälliger gegen politische Strömungen, und insofern werden wir bei aller Freude über die Zukunft von Berlin von der ersten Stunde an auch sehr aufmerksam beobachten müssen, wie sich die Entwicklungen dort vollziehen."

Berlin 1991. Mit dem Hauptstadtbeschluss ist die Entscheidung über die Zukunft der Stadt gefallen, aber die Zukunft liegt noch in ziemlich weiter Ferne. Die Gegenwart ist geprägt von der Vergangenheit, deren Verschwinden den holländischen Schriftsteller Cees Nooteboom fasziniert. Im September 1991 sitzt er auf dem Podium einer RIAS-Veranstaltung in der Humboldt-Universität:
Abbau des Checkpoint Charlie, Berlin am 22. Juni 1990. Mit einem Kran wird das ehemalige Wärterhäuschen zum Abtransport angehoben. 
Am 22. Juni 1990 wird der Checkpoint Charlie abgebaut.© imago/teutopress
"Im Fernsehen sehe ich, wie die Holzbaracke am Checkpoint Charlie, an der ich so oft vorbeigegangen bin, an einem hohen Kran in die Luft gehoben wird. Eine Levitation. Eine spiritistische Seance, der kurze Gedanke, sie würde in den Himmel gefahren. Ein in der Luft hängendes Haus ist etwas Sonderbares. Plötzlich sieht man, was für ein unsinniges Gebilde es immer war. Die Umstände gucken auf die entstandene Leere wie Kinder auf einen Zaubertrick. Es ist da, und dann ist es nicht mehr da. In diesen Tagen wird hier viel gezaubert. Die ganze Stadt wird von Zauberern bevölkert. Mauern und Türme verschwinden, lösen sich in Luft auf. Das Gewesene wird eine Fata Morgana, Menschen gehen durch die Mauer, als wäre sie aus Luft, was dasteht, steht nicht da.

Deutschland ist nicht fertig

Deutschland ist nicht fertig. Es ist uralt, aber immer noch in der Mache. Das Doppelsinnige macht es faszinierend. Herder spricht über Personen, die die Charakteristik von Persönlichkeiten haben. Und wenn man sich ihm anschließt, könnte man sagen, dass die Persönlichkeiten Frankreichs und Englands fertig sind. Erwachsen. Wir kennen sie. Kennen wir Deutschland? Kennt es sich selbst? Weiß es, was es werden will, wenn es groß ist?
Ich bin nach Berlin zurückgekehrt, weil ich sehen wollte, wie diese beiden so ungleichen Teile der zerrissenen Stadt samt ihren Bewohnern aufeinander zugehen. Doch nun, da ich hier bin, weiß ich eigentlich nicht so recht, weshalb ich in Berlin bin. Die Atmosphäre in der Stadt ähnelt der eines Wartezimmers. Man wartet auf bessere Straßen. Auf einen ausgeglichenen Etat. Auf die Bebauung des Potsdamer Platzes. Auf den Prozess gegen Mielke. Auf neue Zuwanderer. Auf Arbeit und auf Enthüllungen. Investitionen und Konkurse. Die Wartezeit wird mit Reden, Klagen, Beschuldigungen, Erinnerungen verkürzt. Und vielleicht wäre es seltsam, wenn es nicht so wäre.
Während alles, was geschieht, sehr wirklich ist, liegt gleichzeitig ein Anflug von Unwirklichkeit über den Straßen und Plätzen, als wäre die Welt nicht ganz echt. Als könne noch etwas ganz anderes geschehen. Und niemand weiß, was. Doch was es auch sein mag, es wird etwas mit der Idee der Geschichte zu tun haben. Dem entrinnt diese Stadt nicht. Sie ist gesättigt mit Erinnerungen, mit Denkmälern und Einschusslöchern, historische Stätten, und das alles doppelt und zwiespältig.
Vielleicht hat diese Wartestimmung ihren Ursprung in der Gewöhnung der Berliner, dass Geschichte ein Ende hat. Oder zumindest so tut. Weimar endete. Das 1000-jährige Reich endete, historisch gesehen nicht lange danach. Die DDR existierte 40 Jahre, aber dann fiel auch dort der Vorhang. Und zum dritten Mal in einem Jahrhundert, wenn man das Ende des Ersten Weltkrieges nicht mitzählt, war etwas zu Ende. Das macht vielleicht begreiflich, warum die Berliner noch nicht recht glauben mögen, dass eine Zeit angebrochen ist, die, wer weiß, tatsächlich kein Ende hat."


Berlin 1991. Der Moderator der RIAS-Veranstaltung, Hannes Schwenger, verbindet eine historische mit einer geografischen Standortbestimmung dieser Stadt im Übergang.
Blick auf den Breitscheidplatz in den 80er-Jahren mit der Ruine der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche, direkt dahinter der Eiermann-Turm und das Hochhaus des Europa-Centers mit dem Mercedes-Stern.
Blick auf den Breitscheidplatz in den 80er-Jahren mit der Ruine der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche.© picture alliance / dpa / Martin Athenstaedt
"Ich lebe seit 1962 in Berlin und ich erinnere mich noch ganz gut, wie wir uns in den Tagen der Studentenbewegung 1968 über die allzu platten Sprüche des Berliner Bürgermeisters Klaus Schütz halb totlachen wollten. Einer davon, der damals am meisten Heiterkeit provozierte, hieß: Berlin liegt nun einmal da, wo es heute liegt. Niemand kann es dort wegschieben, und warum auch. Gewiss war das eine Plattitüde. Aber nur scheinbar selbstverständlich. Wie sonst soll man sich erklären, dass die Politik der letzten Jahrzehnte sie so hartnäckig zu ignorieren versucht hat. Eine so einfache Feststellung wie die, dass Berlin in Mitteleuropa liegt, stand Jahrzehnte lang fast unter Verdikt. György Konrad wird sich erinnern, dass sie vor ein paar Jahren auf dem Schriftstellerkongress hier in Berlin – Ein Traum von Europa – noch wie eine Offenbarung verkündet wurde.
Tatsächlich hat es ja mancher dort wegschieben wollen, sogar ein Regierender Bürgermeister, der ernsthaft erwog, Westberlin in die Lüneburger Heide auszusiedeln. Seit Berlin 1945 aufgehört hat, in Preußen zu liegen, haben wir immer wieder die abenteuerlichsten Spekulationen über seine Lage gehört. Natürlich mit einem Körnchen Wahrheit.
Zum Beispiel sollte es in Deutschland liegen. Aber wo lag in diesen letzten 40 Jahren Deutschland? Ob das Deutsche Reich aufgehört hatte zu existieren? Oder ob es als juristisches Gespenst fortexistierte, vielleicht mit der Geisterhauptstadt Berlin, war selbst unter Staatsrechtlern umstritten. Aber – lag es etwa auf dem Territorium der DDR, wie diese gelegentlich glauben machen wollte? Was dort lag und sich Hauptstadt der DDR nannte, war für den ersten Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, immer nur Pankow. Für ihn vermutlich ein Synonym für Klein-Moskau. War aber, darin hatte er recht, nur ein Pars pro Toto, ein Teil, der für das Ganze stehen sollte.

"Nur für die Bayern hat Berlin stets im Ausland gelegen"

Und wo lag Rest-Berlin, wie wir respektlos sagten? Oder präziser: West-Berlin, was wir nicht schreiben durften, weil die Stadt nach ihrem bundesdeutschen Selbstverständnis Land Berlin, nach Vier-Mächte-Recht aber schlicht Berlin (West) heißen sollte? Kein Zweifel, dass es für eine Mehrheit der Bundesbürger wie für 99 Prozent der USA im Osten lag. Wenn auch für eine Minderheit, nämlich die wehrpflichtigen Bundesbürger, im neutralen Ausland, während es für die Mehrheit der DDR-Bürger eindeutig im Westen lag.
Für uns Deutsche Ost und West ergaben sich aus all dem so kuriose Unterfragen wie die, ob Berlin im In- oder Ausland lag. Die sich aus verschiedener Perspektive betrachten ließ: Als staatsrechtliche Frage, wenn es um den Reisepass ging, als verkehrstechnische Frage, wenn man in Frankfurt den richtigen Flugsteig nach Berlin suchte, Abflughalle In- oder Ausland, als Generationsfrage, wenn es an Bundes-, Ost- und gesamtdeutschen Stammtischen hoch herging. Dort war zuweilen auch zu hören, dass Berlin in Mitteldeutschland gelegen sei. Nur für die Bayern hat Berlin stets unverändert im Ausland gelegen, nämlich in Preußen."


Berlin 1991: Noch ist nichts Neues entstanden, nur etwas Altes untergegangen: Berlin, Hauptstadt der DDR. Aber auch das klar abgegrenzte West-Berlin. Der Schriftsteller György Konrad wirft einen sentimentalen Blick zurück auf diese Halbstadt mit ihrer sehr speziellen Atmosphäre. Es wird viel über das Zusammenwachsen nach dem Mauerfall gesprochen, aber die Bodenhaftung ist auch in der Metropole groß. Viele bleiben lieber in ihren vertrauten Umgebungen und – frei nach Cees Nooteboom – verharren in ihrem Wartezimmer.
Mauerbrache in Berlin Anfang der 90er-Jahre. Zu sehen ist unbebautes Gelände in Berlins Mitte. Im Hintergrund stehen DDR-Neubauten und der Fernsehturm. 
Eine Atmosphäre wie in einem Wartezimmer: Mauerbrache zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz Anfang der 90er-Jahre.© Deutschlandradio / Winfried Sträter
Die Politiker können das nicht, denn sie müssen die unausweichlichen Veränderungen gestalten. Auf der Internationalen Funkausstellung wird im September 1991 über die Zukunft der Kultur in Berlin diskutiert. Christoph Stölzl ist beauftragt, das Deutsche Historische Museum aufzubauen, ohne zu wissen, wo: Ob in einem Neubau vor dem Reichstagsgebäude – diese Pläne sind dann bekanntlich aufgegeben worden – oder im ehemaligen Zeughaus Unter den Linden. Ulrich Roloff-Momin ist Kultursenator Berlins.

"Das wird noch mal zu Verwerfungen führen"

"Ich finde, dass man zu wenig sieht, was hier passiert", sagt dazu Christoph Stölzl: "Die Leute in der DDR haben eine Revolution gemacht, wie sanft oder nicht, das Ganze ist eine soziale Revolution. Kluge Analytiker haben gesagt, dies sei kein Sozialismus, sondern ein Feudalstaat, und wenn ein Feudalstaat mit all den Kostgängern und vielen Nischen zusammenbricht, dann ist erst einmal wie 1789 wilde Stimmung los. Und daran gemessen, was zwingend daraus hervorgeht, geht es uns eigentlich ganz gut.
Und seit diese Hauptstadtfrage entschieden ist, muss sich jeder, der hier etwas macht, kulturell dran messen lassen, was die Welt sagt. Ob nun westberlinisch provinziell oder ostberlinisch provinziell – es wird nicht zu retten sein. Es wird nur standhalten, wenn es so gut ist, dass es in Paris und London auch standhalten würde. Also, ich glaube, man muss den – diesen Wind, der weht natürlich manchen Leuten, auch uns – früher dachten wir auch nicht dran, ob wir nun viele Kataloge verkaufen oder wenige kommen. Das ist schon ein Staatsauftritt hier in Berlin, das muss hier sein. Das ist vorbei. Die Abstimmung des Publikums mit den Füßen wird in Zukunft darüber entscheiden, was wir tun, und auch in Zukunft übers Geld entscheiden."

"Nur – wir dürfen nicht vergessen, dass in den östlichen Bezirken insbesondere, was die Versorgung mit kultureller Infrastruktur angeht... Dieser kulturelle Standard unterhalb der Spitze der Pyramide, an der Basis der Bezirke, ist fast zusammengebrochen", so Roloff-Momin. "Insofern ist doch was zusammengebrochen. Und in diesem Punkte wird im Ostteil der Stadt von einer Mentalität gesprochen, wo die Kolonisationsmentalität des Westens beklagt und beschrieben wird. Und damit muss man sich auseinandersetzen.
DDR-Grenzsoldaten lassen am 29. Juni 1990 –zwei Tage vor Inkrafttreten des Staatsvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten – Besucher am Potsdamer Platz in Ost-Berlin ungehindert passieren.
DDR-Grenzsoldaten in Berlin am 29. Juni 1990 – zwei Tage vor Inkrafttreten des Staatsvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten.© picture alliance/dpa/Thomas Wattenberg
Und deswegen meine ich, wenn wir so weitergehen, dass man sich auf der einen Seite als der Besiegte fühlt und auf der anderen Seite – auch dieses ist da, da kann man gar nicht drüber wegreden – als der Sieger der Geschichte fühlt, dann wird sich das so schnell nicht ausgleichen, sondern da wird es noch einmal zu Verwerfungen führen."

"Wir stehen vor Riesenproblemen"

Repräsentativ gefeiert wird in West-Berlin, im Internationale Congress Centrum. Es ist der erste Presse- und Funkball im wiedervereinten Deutschland, mit viel, auch politischer Prominenz – darunter der Regierende Bürgermeister, der schon in West-Berlin regiert hatte und nun, nach der gewonnenen Abgeordnetenhauswahl 1990, die ganze Stadt regiert: Eberhard Diepgen.
"Aber wissen Sie, das Entscheidende für die nächsten Jahre ist, wir stehen vor Riesenproblemen. Wir müssen vorexerzieren das Zusammenwachsen der beiden ehemals deutschen Staaten oder Staaten in Deutschland. Das bedeutet auch: Gürtel enger schnallen, Verständnis wecken. Das heißt, deutlich machen, dass man an den Problemen hautnah dran sein muss, ohne Extravaganzen, auch die Bereitschaft bei einigen zurückzustellen, um die Angleichung der Lebensverhältnisse in dieser Stadt sicherzustellen. Das ist die Aufgabe. Sozialer Frieden, Angleichung der sozialen Verhältnisse, den wirtschaftlichen Aufschwung und die Stadt wirklich zu einer einheitlichen Stadt zu formen. Es darf nicht so sein, dass man am Straßenpflaster merkt, wo man im ehemals geteilten Berlin ist."
Wenig später wird Eberhard Diepgen umziehen – der West-Berliner Amtssitz des Regierenden Bürgermeisters im Rathaus Schöneberg hat ausgedient, der neue Sitz ist das Rote Rathaus in Berlin Mitte.

Hochtrasse in der Schönhauser Alle, ugsprl. "Magistratschirm"
Hochbahn in Prenzlauer Berg Anfang der 90er-Jahre. Damals ein eigenständiger Bezirk, heute ein Teil von Pankow.© dpa/ Peer Grimm
Im Deutschlandfunk gibt es die Sendung "Tagebuch. Notizen zum deutschen Alltag." Im November widmet sich diese Sendung einem Stadtteil im Osten Berlins, der am stärksten verfallen ist, aber in dem schon erkennbar ist, dass er mit seiner historischen Bausubstanz eine strahlende Zukunft haben wird.
"Prenzlauer Berg. Zu DDR-Zeiten berühmt-berüchtigt als Kiez für Künstler. Da, wo der Widerstand gedieh. Von der Dimitroffstraße ein Blick auf eine alte Brauerei, die sich Kulturbrauerei nennt, einen Jugendclub beherbergt und ein Möbellager. Kiez und Kultur. Worte, in einem Atemzug genannt mit Prenzlauer Berg. Jetzt ist vom größten geschlossenen Sanierungsgebiet Europas die Rede. 143.000 Menschen leben hier. Beileibe nicht der größte Bezirk Berlins, aber der dichtest besiedelte.
Was ihn von anderen Sanierungsgebieten unterscheidet, ist die bunte Mischung der Bewohner in den verfallenen Häusern. Die Menschen vom Prenzlauer Berg unterscheiden sich hinsichtlich ihres Alters, ihrer Ausbildung und ihrer Berufe nicht von anderen Berlinern, hat es jetzt eine Stadtforschungsgesellschaft formuliert. Gibt es ihn also gar nicht mehr – den typischen Bewohner vom Prenzlauer Berg?

"Es riecht nach verkochtem Kohl und verbrannten Kohlen"

Zu finden ist er sicher nicht in der Husemannstraße, durch die sich heute Touristenbusse zwängen und westdeutsche Besucher schieben. Noch von der DDR-Regierung rekonstruiert, sollte sie das erhalten, was zwei Straßen weiter zum Abriss freigegeben war: einen geschlossenen Straßenzug des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Schuhmacherei, Modesalon, Web- und Spinnstube: So steht es in alten Lettern an erneuerten Fassaden. An Zilles Milieu soll das alles erinnern in der Husemannstraße. Stattdessen wähnt man sich als Besucher eher in Bavaria Filmstudios. Zumal die Touristen, die hier flanieren und in die neuen In-Kneipen einfallen mit recht bayerischem Idiom ihr Bier bestellen.
Maria Hinz ist eine der Alten, die noch im Prenzlauer Berg wohnt. Seit ihrer Jugend. Vor 86 Jahren im heute polnischen Stahlwerk geboren, kam sie mit ihrem Mann 1928 nach Berlin. In der Rykestraße 13, Hinterhaus, bezogen sie die erste eigene Wohnung. Wohnzimmer, Küche, Außenklo. Maria Hinz lebt noch heute in der Wohnung. Bis zu ihrer Pension hat sie als Kontrolleurin im polnischen Kulturzentrum gearbeitet. Jetzt sitzt sie in ihrer Hinterhauswohnung, wohin sich selten ein Sonnenstrahl verirrt. Es riecht nach verkochtem Kohl und verbrannten Kohlen. Das Essen schmeckt ihr nicht so recht, und das einzige, worauf sie sich freut, ist eine Wohnung zur Straße hin. Da hat man wenigstens etwas zu schauen. Die wird sie bald bekommen. Denn die Mieter ihres Hauses haben sich zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen. Sie wollen das Haus kaufen, erneuern und in neue Wohneinheiten zusammenfassen.

"Auf den Bürgersteigen liegen Wohnungseinrichtungen"

In der Rykestraße, zu DDR-Zeiten noch dem Abriss freigegeben, tut sich was. Es wird gebaggert, geschaufelt und gesägt. Auf den Bürgersteigen liegen ganze Wohnungseinrichtungen. Doch nicht nur die Wohnungen werden in Eigeninitiative renoviert, auch neue Mieter ziehen ein. Immer mehr Westberliner kommen zum Prenzlauer Berg. Vor allem die jungen. Denn der Mauerfall hat ihnen ihren Kiez namens Kreuzberg genommen und in die Stadtmitte gerückt.
Noch verkraftet der Prenzlauer Berg den Zuzug aus dem Westen. Doch wird Maria Hinz die Vorderhauswohnung, auf die sie sich freut, noch bezahlen können? Der Prenzelberg, wie ihn seine Bewohner nennen, verändert sich. Sei es durch rosige Geranien, die auf bröckelnden Fensterbänken auftauchen und als Vorboten von neuer Biederkeit künden. Sei es durch die vielen neuen Kneipen, die mehr West- als Ostberliner besuchen. Ein Bezirk, der seinen Bewohnern einmal zu einer Identität verholfen hat, verliert seine eigene. Wenn er Glück hat, wird er so etwas wie Kreuzberg. Wenn er Pech hat, zu einem zweiten Charlottenburg."


Berlin 1991. Eine Stadt im Umbruch. Der Potsdamer Platz ist noch eine Post-Mauer-Wüste. Aber die Konturen der künftigen Bebauung zeichnen sich schon ab: Der Bau des Sony Centers ist beschlossen. Völlig offen ist noch die Frage, was aus dem Zentrum Berlins wird, wo die DDR an der Stelle des alten Stadtschlosses den Palast der Republik errichtet hatte. Der Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm lässt 1991 seiner Fantasie freien Lauf:
Potsdamer Platz, Berlin
War in den 90er-Jahren in heftiger Diskussion: die künftige Bebauung des Potsdamer Platzes.© ZB/ Hanns-Peter Lochmann

Der Traum vom Stadtschloss-Palast

"Ich glaube also, so wie die Berliner sind, ist der Wiederaufbau des Schlosses nicht zu vermeiden. Also darüber müssen wir gar nicht diskutieren. Was man machen kann, ist, eine Erinnerung an diese unersetzliche Architektur. Das war etwas ganz, ganz Großes, was Sie nur mit dem Allerbesten an Architektur vergleichen können, was Schlüter da gemacht hat. Ich hätte gern, dass der Palast der Republik stehen bleibt, dass man ihn aber so weit abwrackt – da sind ja zwei fantastische Säle drin und das ist Technik, die muss weiter benutzt werden – und dass man da das alte Schloss sozusagen reinschiebt. Und zwar nicht, indem man es wieder aufbaut, sondern indem man genau in den Dimensionen des alten Schlosses ein Stahl- und Glasgerüst da reinschiebt, sodass man die beiden Höfe wieder hat und den Außenbau des alten Schlosses in dieser ganz modernen Konstruktion, und dann gräbt man überall, wo das Schloss vergraben ist.

Also, wo diese sehr schönen Architekturteile – die hat man ja gar nicht alle kaputt machen können. Die sind ja zum Beispiel unterm Elefantenhügel im Tiergarten, und die liegen in irgendwelchen Depots, sind verstreut und anderswo eingebaut, zum Beispiel Portalteile sind im Staatsratsgebäude eingebaut. Das braucht man nur rauszupulen, dann fällt das Staatsratsgebäude sowieso zusammen, das stört ja auch an der Stelle – und das kann man ja genau an die Stelle, wo es Schlüter hingesetzt hat, kann man es ja da wieder reinhängen.
Palast der Republik Anfang der 90er-Jahre. Im Vordergrund fährt ein Trabant.
Palast der Republik Anfang der 90er-Jahre: Zu DDR-Zeiten sollte er die Macht der SED symbolisieren und zugleich dem Vergnügen des Volkes dienen. © Deutschlandradio / Winfried Sträter
Also, dass da nicht gelogen wird, dass jedem klar wird: Wir haben es abgerissen, das Schloss, das ist nicht mehr das Schloss, aber da war es. Und so in dieser Form, wie im Pergamonmuseum sozusagen, so möchte ich eigentlich das Schlüterportal mit diesen großen Säulen, dieses Inbild von Preußen, von dem, was an Preußen heute noch eindrucksvoll ist nach all dem Desaster, so möchte ich es eigentlich irgendwann mal wiedersehen. Aber ich glaube, das erleb ich noch."
Zwei Baugeschichten, zwei Epochen im Zentrum Berlins miteinander zu verbinden: Das war eine kühne Vision, zu der die Umbruchzeit nach Mauerfall, Wiedervereinigung und Hauptstadtentscheidung den Stadtplaner inspirierte. Die Realisierung eines solchen architektonischen Traums zu erleben, sollte Dieter Hoffmann-Axthelm nicht vergönnt sein. Denn bald trat Herr von Boddien auf – mit seiner Stadtschlossattrappe.
Mehr zum Thema