30 Jahre Bosnienkrieg

Ehemalige Feinde begegnen sich

23:45 Minuten
Kemal und Srdjan - die beiden ehemaligen Soldaten sind in etwa gleich alt, stehen auf einer Mauer und blicken auf Sarajewo.
Kemal und Srdjan: Die beiden ehemaligen Soldaten stehen auf einer Mauer und blicken auf Sarajewo. Im Krieg haben sie gegeneinander gekämpft – hier treffen sie zum ersten Mal aufeinander. © BR / Srdjan Govedarica
Von Srdjan Govedarica · 31.05.2022
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Als 1992 in Bosnien und Herzegowina die Kämpfe begannen, waren viele fassungslos. Nun sollte man aufeinander schießen, obwohl man eben noch als Nachbarn zusammengelebt hatte? Zwei ehemalige Soldaten erinnern an den Wahnsinn, der Krieg heißt.
„Ungefähr hier war der Ausguck, von wo aus wir die serbischen Stellungen beobachtet haben.“ Kemal Salaka klettert die maroden Treppen eines verlassenen mehrstöckigen Gebäudes hinauf, das früher ein Altersheim war. Er erzählt aus der Vergangenheit.
„Beim Hochgehen konnten sie uns sehen und hätten geschossen, sodass wir manchmal sechs, sieben Stunden da oben hocken mussten, weil wir nicht zurück konnten“, erinnert er sich.
Kemal Salaka steht im Gegenlicht in einem Fensterdurchbruch.
Kemal Salaka hat sich mit 16 Jahren der Territorialverteidigung angeschlossen. Seine Stellung war lange Zeit ein zerstörtes ehemaliges Altersheim, das heute noch steht. © BR / Srdjan Govedarica

Mit 16 Jahren an der Front

Kemal ist gerade einmal 16 Jahre alt, als er freiwillig bei der Territorialverteidigung anheuert. Dabei hätte er Sarajevo verlassen können, als die ersten Schüsse in der Stadt fielen. Seine Eltern hatten Plätze in einem Evakuierungskonvoi für ihn und seine Schwester ergattert.
Aber sein Freund, bereits in Uniform, macht sich über ihn lustig und nennt ihn eine „Pussy“. Kemal will das nicht auf sich sitzen lassen und meldet sich bei der paramilitärischen Bürgermiliz. Eine Armee hat der junge Staat Bosnien und Herzegowina zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Mehr als drei Jahre verbringt der Jugendliche an der Frontlinie, die am Altersheim verläuft und sich kaum verändert. Er liefert sich einen zermürbenden Häuserkampf mit den Serben auf der anderen Seite.
Blick auf Sarajevo, das in einem einem Kessel zwischen den Bergen Trebevic, Igman und Bjelasnica liegt.
Sarajevo liegt in einem Kessel zwischen den Bergen Trebevic, Igman und Bjelasnica. Serbische Einheiten belagerten die Stadt 1425 Tage lang am Stück. © Srdjan Govedarica

Ich wusste, wer auf der anderen Seite ist, weil das Leute aus Sarajevo waren, die kurz vor dem Krieg die Stadt verlassen haben. Einige Leute sind nach Serbien oder ins Ausland gegangen, aber ein Teil der Leute ist gezielt auf die andere Seite gegangen, um für die serbische Sache und gegen uns zu kämpfen. Vor allem auf sie war ich wütend.

Kemal Salaka

Kemal kann sich durchaus vorstellen, heute einen dieser Männer, auf die er damals so wütend war, zu treffen. Auf seine Kriegserfahrung von damals könnte er – rückwirkend betrachtet – gerne verzichten.

"Ich wollte kein Deserteur sein"

Wir machen uns auf die Suche nach einem serbischen Soldaten, der damals ungefähr so alt wie Kemal war. Das erweist sich als nicht gerade einfach. Serbische Einheiten werden für den Großteil der Kriegsverbrechen in Bosnien und Herzegowina verantwortlich gemacht: Vertreibungen, Vergewaltigungen, zahlreiche Morde. Und dann der Völkermord von Srebrenica mit mehr als 8000 Toten.
Damit möchte auf serbischer Seite offenbar niemand in Verbindung gebracht werden. Und auch Srdjan Kenjic, ehemals serbischer Soldat, fällt es anfangs schwer, mit uns über den Krieg zu sprechen.
„Hier ist die Grenze. Da ist die Republika Srpska und dort ist die Föderation Bosnien und Herzegowina“, so beschreibt er den derzeitigen Status quo seines Wohnortes und die Zerstückelung des Landes, die das Ergebnis des Kriegs ist.
„Das heißt, die Menschen rechts und links haben nicht die gleichen Personalausweise und gehören nicht zur gleichen Krankenkasse und zum gleichen Rentenfond. Eigentlich unvorstellbar.“ Srdjan steuert seinen Wagen direkt an die alte Frontlinie.
Hier zwischen den Stadtteilen Dobrinja und Ilidza hat er 1992 gekämpft – als Mitglied der serbischen Spezialpolizei.
„Ich war 21. Ich hatte gerade den Wehrdienst in der Jugoslawischen Volksarmee abgeleistet. Zwei Monate nach meiner Rückkehr aus der Armee brach der Krieg aus“, erzählt er. „Ich war also von 1990 bis Anfang 1996 in Uniform. Die besten Jahre meines Lebens habe ich im Krieg verbracht“.
Auch Srdjan hat sich – wie Kemal – aus Stolz und Pflichtbewusstsein verpflichtet.

Als es zu ersten Kämpfen kam, wurden diejenigen, die geflohen sind, Deserteure genannt. Ich wollte nicht, dass jemand mich meinem Vater gegenüber so nennt. Und nachdem im August 1992 mein Wohnviertel frontal angegriffen wurde, hatte ich weder den Wunsch noch die Absicht wegzugehen.

Srdjan Kenjic

„Den Sinn von Straßenkämpfe habe ich nie verstanden“

Als er uns die Frontlinie zeigt, sagt Srdjan, er habe nur die Stellung halten wollen – ohne Absicht oder Befehl, die andere Seite einzunehmen. Im Gegensatz zu Kemal hatte Srdjan 1992 wenigstens eine militärische Vorbildung. Dennoch kann er sich an seine ersten Schusswechsel an dieser Front nur bruchstückhaft erinnern.
„Es war wie im Nebel. In den frühen Morgenstunden, so gegen halb fünf, begann der Angriff. Ich war hinten bei der Reservestellung und ich weiß überhaupt nicht, wie ich zu der Stellung gekommen bin. Ich hatte Angst, sodass ich kein klares Bild davon habe“, erzählt er.
Auch an dieser Stelle hat sich die Frontlinie während des gesamten Krieges kaum bewegt. Der zermürbende Häuserkampf über drei lange Jahre hat so manch einen seiner Kameraden am Sinn der eigenen Aufgabe zweifeln lassen – sagt Srdjan. Auch er selbst kam ins Grübeln, sagt er.

Es ist okay, wenn du deinen eigenen Grund und Boden verteidigst, das, was schon deinem Großvater gehört hat. Aber ich habe Straßenkämpfe nie verstanden. Die eine Wohnung gehört dem einen, die andere dem anderen und alle haben ein Anrecht darauf. Der Sinn von Straßenkämpfen hat sich mir nie erschlossen.

Srdjan Kenjic

Fassaden in Sarajevo, an denen die Kriegsschäden nur notdürftig repariert sind.
Die Spuren des Krieges sind in Sarajevo vielerorts auch heute noch sichtbar. Hier in der Nähe der damaligen Frontlinie im Stadtteil Dobrinja wurden die Kriegsschäden teilweise nur notdürftig repariert. © BR / Srdjan Govedarica
Srdjan ist bereit, einen Ex-Soldaten von der anderen Seite zu treffen und erzählt, dass sich Soldaten noch während des Krieges oft von der einen zur anderen Seite zugerufen hätten.
„Hauptsächlich wurde sich dafür interessiert, ob eine konkrete Person von der anderen Seite noch am Leben ist. Es war komisch, einerseits haben wir aufeinander geschossen, andererseits waren wir traurig, wenn wir erfahren haben, dass jemand von der anderen Seite, den man kannte, nicht mehr am Leben ist“, sagt er.
„Dann gab es meist Kommentare in die Richtung: ‚Warum er – es gibt Schlimmere als ihn!‘ Alle haben sich gewünscht, dass gute Bekannte von der anderen Seite den Krieg überleben.“

"Man sollte besser abhauen"

Sowohl Kemal als auch Srdjan haben heute Familie, Kinder, einen Job. Im Krieg haben sie aufeinander geschossen – jetzt stehen sie sich gegenüber und begrüßen sich.
Kemal und Srdjan treffen zum ersten Mal aufeinander.
Was den Krieg anbetrifft sind sich die beiden ehemaligen Feinde einig: Noch einmal würden sie nicht zur Waffe greifen© BR / Srdjan Govedarica
Die beiden scheinen sich auf Anhieb sympathisch zu sein, sind sofort im Gespräch. Sie finden heraus, dass sie gemeinsame Bekannte haben. Und sie erklären sich gegenseitig, wo genau sie damals im Krieg stationiert waren.
Was den Krieg anbetrifft sind sich die beiden ehemaligen Feinde einig. Noch einmal würden sie nicht zur Waffe greifen, sagen sie bei einer gemeinsamen Zigarette.
„Wir beide hätten den Krieg bestimmt nicht angefangen“, glaubt Srdjan. Und Kemal hält es heute für einen Fehler, dass er sich damals von seinem Freund hat unter Druck setzen lassen, nur weil er keine „Pussy“ sein wollte.

Man sollte besser abhauen und von denen, die geblieben sind, verurteilt werden, als am Krieg teilzunehmen und erst später die Fehler einsehen. Wenn man überhaupt überlebt!

Kemal Salaka

Kemal kämpft heute an einer ganz anderen Front für die Zukunft seines Landes. Seinen achtjährigen Sohn Faruk hat er gegen sehr viele Widerstände als Bürger Bosnien und Herzegowinas ins Geburtenregister eintragen lassen und nicht als Bosniaken– aus Protest gegen die vorherrschende ethnonationale Spaltung sagt er.
Kemal Salaka und seine drei Kinder.
Kemal Salaka hat drei Kinder. Seinen achtjährigen Sohn hat er gegen sehr viele Widerstände als Bürger Bosnien und Herzegowinas ins Geburtenregister eintragen lassen und nicht als Bosniaken. © BR / Srdjan Govedarica
„Weil ich kein Nationalist bin. Ich bevorzuge keine Religionsgruppe, ich halte alle für gleich“, erklärt er. „Es ist mir äußerst wichtig, dass diese Gesellschaft von dieser Last frei wird und mindestens einen gemeinsamen Punkt findet, damit sich die Menschen verbunden fühlen, dass sie alle zu einem Land gehören.“
Aus einer gemeinsamen Zigarette werden an diesem Abend mehrere. Dann steigen die beiden ehemaligen Feinde in Srdjans Auto und fahren hinunter in die Stadt. Gemeinsam.

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