Markus Ziener, Jahrgang 1960, ist Autor, Journalist und Hochschulprofessor in Berlin. Er war Korrespondent in Moskau und Washington und berichtete mehrere Jahre aus dem Mittleren Osten. Zuletzt ist von ihm der Roman "DDR, mon amour" erschienen (PalmArtPress, Berlin 2018).
Jammer-Ossis, Besser-Wessis
04:24 Minuten
Eine Generation ist seit der Wiedervereinigung vergangen. Aber verschmolzen sind die beiden Teile Deutschlands bis heute nicht, meint der Publizist Markus Ziener. Er hofft auf die jüngere Generation, um die Vorurteile zwischen Ost und West zu überwinden.
"Mann, isses da noch ostig", sagte neulich eine Freundin, als sie von einem Wochenende in der sächsischen Schweiz zurückkehrte. "Ostig?", fragte ich. "Was meinst Du damit?". Ich stellte mich dumm. Natürlich wusste ich, was sie meinte. Aber ich wollte es von ihr hören. Ich wollte, dass sie es ausbuchstabierte.
O-s-t-i-g. Und ich wollte Sylvia ein wenig ärgern. "Na Du weißt schon, was ich meine", antwortete sie. Ich schüttelte den Kopf. "Ostig eben, alles nicht so wie bei uns, mit DDR-Charme, mit Linoleumboden und Plastikblumen auf den Tischen". Ich ließ eine kurze Pause. Dann sagte ich "Aha. Und sonst?". Sylvia weiter: "Die Menschen sind irgendwie anders, sehr unter sich und überhaupt nicht neugierig. Meinst Du, die hätten mal irgendwas gefragt?"
"Vielleicht haben sie ja auch genug von uns Wessis", sagte ich darauf. "Nach 30 Jahren wäre das kein Wunder". Und dann: "Warst Du denn auf die Sachsen neugierig?" Sylvia blickte von ihrem Laptop hoch, auf dem sie irgendetwas tippte und verzog die Augenbrauen. So, als wolle sie sagen: "Also hoppla, was für eine Frage?" Dann war wieder nur das leise Klicken der Tastatur zu hören.
Der Osten – fremd und faszinierend
Ich erinnerte mich an meine ersten Reisen in der DDR nach dem Mauerfall. Kreuz und quer war ich als Journalist durch den Osten Deutschlands gefahren und hatte Leute interviewt. Von Rostock bis Ilmenau, von Jena bis Senftenberg. Was die Menschen mir erzählten, kam aus einem anderen Kosmos. Meine Notizbücher füllten sich in Windeseile, ich schrieb so genau wie möglich mit, weil ich das, was ich da zu hören bekam, überhaupt nicht verstand. Die Menschen sprachen zwar auch deutsch, und die Grenze war weg. Aber mit meiner Heimat, mit Hessen und Bayern, hatte das nichts zu tun. Es war fremd.
Heute, 30 Jahre später, hat sich die Neugier irgendwie in Luft aufgelöst. Sie ist erstarrt in Klischees. Wir glauben, dass wir genug voneinander wissen. Hier die ewig unzufriedenen Ossis, die auch schon mal gerne die AfD wählen und Lügenpresse rufen. Dort die Wessis, denen es vor allem um sich selbst und ums Geld geht. Und so ganz falsch scheinen diese Klischees tatsächlich nicht zu sein.
Die Bertelsmann-Stiftung hat kürzlich Ost- und Westdeutsche befragt. Heraus kam, dass die Menschen in der ehemaligen DDR beklagen, dass nach der Wiedervereinigung keine neue gemeinsame Gesellschaft entstanden sei. Das westliche System sei ihnen übergestülpt worden und sie fühlten sich wie Menschen zweiter Klasse. Umgekehrt meinten die Westdeutschen, dass sie mehr Dankbarkeit für die Finanzierung der Einheit verdient hätten.
In Ost- und West-Klischees erstarrt
Zementiert hat sich dieses Denken - und zwar gerade auf der Seite der Westdeutschen. So wie ich 1990 als Zaungast in die ehemalige DDR gereist bin, der sich nach ein paar Tagen wieder in seine West-Berliner Komfortzone zurückziehen konnte, so passiert das auch heute noch.
Wir fahren rüber, genießen die Ostsee, die Mecklenburgische Seenplatte, das Elbsandsteingebirge. Dann fahren wir wieder zurück und nehmen kaum etwas von unseren Reisen nach Hause mit. Höchstens, dass es da drüben noch immer irgendwie komisch ist, dass es "ostig" ist, dass es noch einen DDR-Charme gibt, den wir nicht mal richtig beschreiben können.
Reisen, reden, zuhören
Für den langen Zeitraum von 30 Jahren haben wir Wessis damit eine ziemlich flache Lernkurve hingelegt. Wir verlangen die Anpassung noch immer zuallererst von den Ostdeutschen. Wir wollen, dass diese neugierig sind, dass sie mehr Tempo machen, dass sie mehr Dankbarkeit zeigen. Wir verlangen das also von jenen, deren Leben 1989/90 komplett umgekrempelt wurde und die eine Veränderung erlebten, wie sie im Westen in den vergangenen 75 Jahren nicht im Ansatz stattfand.
30 Jahre sind eine Generation. Der Stab wird nun an die nächste übergeben, die jetzt 30-Jährigen, die gerade geboren wurden, als Deutschland wieder eins wurde. Mein Wunsch: Dass diese Jungen jetzt reisen, reden, zuhören. Dass sie im Osten nicht nur das "Ostige" suchen, sondern das Andere. Dass sie alle Klischees vergessen. Dass sie auf Entdeckungstour gehen.
Sie könnte es um so vieles besser machen als wir.