Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren und lebt in Berlin. Er studierte Alt-Griechisch, Latein und Germanistik in Jena und arbeitete bis 1990 als Dramaturg. 1995 erhielt Ingo Schulze für sein Debüt "33 Augenblicke des Glücks" unter anderem den aspekte-Literaturpreis. Auch seine folgenden Bücher und Erzählungen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in 30 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien von Schulze "Die rechtschaffenen Mörder" bei S. Fischer Verlage.
Von der Profitgier des Stärkeren überrollt
06:33 Minuten
Der Schriftsteller Ingo Schulze sieht im Beitritt der DDR zur BRD eine vertane Chance für ein ostdeutsches Experiment einer Demokratie 2.0. Mit dem Kapitalismus wurde ein Sieger erkoren, dessen Wirken heute die Lebensgrundlage der Menschheit bedrohe.
Jurek Becker wunderte sich in einer Frankfurter Vorlesung zur Poetik am 30. Mai 1989 darüber, warum es "keinen nennenswerten Bedarf an Auflehnung, Widerspruch und dergleichen" im Westen gebe und sich die Schriftsteller so wenig empörten. Er wolle seine Zuhörer nicht mit einer Liste von Empörungsvorschlägen langweilen, sagte er, doch "wie wäre es mit diesem einen: Die moderne, freiheitliche, demokratische Industriegesellschaft bringt uns um, nicht mehr und nicht weniger. Und zwar nicht allegorisch, sondern buchstäblich. Und nicht nur uns, in der näheren Umgebung, sondern alle: die Menschheit."
Was vor 31 Jahren für Jurek Becker – und nicht nur für ihn – offensichtlich war, ist es heute mehr denn je. Unser "Way of Life", das an Maximalprofit und Wachstum orientierte "Weiter so" bringt die Menschheit um. Die Frontstellungen des Kalten Krieges und seiner Aufrüstungsspirale sind modifiziert zurückgekehrt, die soziale und ökonomische Polarisierung setzt sich unaufhörlich fort, national wie international. Die sogenannte Asylreform der EU höhlt das Asylrecht noch weiter aus und liefert in einem Akt der Kollaboration die Flüchtlinge Kriminellen aus oder überlässt sie bestenfalls ihrem Schicksal.
Und da sollen wir uns mit dem Jahr 1990 und dem Beitritt beschäftigen?
Der Kapitalismus wurde zum Sieger gekürt
Ja, unbedingt! Wir müssen es sogar. Denn damals, so meine These, erlebte der stets in Frage gestellte Kapitalismus eine Bestätigung, die ihn zum vermeintlichen Sieger der Geschichte kürte und Alternativen in den Köpfen und der alltäglichen Praxis tilgte. Der Kapitalismus schien so deutlich gewonnen zu haben, dass sogar sein schlecht beleumundeter Name aus der Öffentlichkeit verschwand, und diejenigen, die ihn weiterhin beim Namen nannten, als ewig Gestrige galten. Paradoxerweise folgte diese Siegerehrung auf die Selbstermächtigung der Bevölkerung in Osteuropa, einschließlich der DDR.
Dort war plötzlich das Noch-nie-Versuchte, nämlich Gemeineigentum und Demokratie, nicht nur greifbar, sondern wurde ansatzweise Ende 1989 und Anfang 1990 praktiziert. Freiheit und Demokratie machten vor der Ökonomie nicht Halt.
Ob im Betrieb, der Schule, dem Institut oder der Uni – allerorts wurde versucht, diejenigen an die Spitze zu wählen, die als fähig und vertrauenswürdig galten. Die Beschäftigten sollten als Eigentümer Verfügungsgewalt über ihre Betriebe erlangen. Es würde lohnen, nochmals genauer hinzuschauen, wie dieser Prozess abgebrochen wurde. Hier sei nur ein Punkt genannt: Als die Ost-CDU Anfang Februar 1990 in der Wählergunst bei elf Prozent lag und damit um ein Prozent hinter der PDS, gründete Helmut Kohl am 6. Februar in Westberlin die sogenannte "Allianz für Deutschland", ein politisches Bündnis, das die schnelle Einführung der D-Mark im Osten versprach. Nicht nur Bundesbankpräsident Pöhl war entsetzt. Erst sechs Tage danach ist jenes stark rezipierte Plakat an Bambusstöcken nachweisbar, das androht, zur D-Mark zu gehen, käme diese nicht in den Osten.
Dort war plötzlich das Noch-nie-Versuchte, nämlich Gemeineigentum und Demokratie, nicht nur greifbar, sondern wurde ansatzweise Ende 1989 und Anfang 1990 praktiziert. Freiheit und Demokratie machten vor der Ökonomie nicht Halt.
Ob im Betrieb, der Schule, dem Institut oder der Uni – allerorts wurde versucht, diejenigen an die Spitze zu wählen, die als fähig und vertrauenswürdig galten. Die Beschäftigten sollten als Eigentümer Verfügungsgewalt über ihre Betriebe erlangen. Es würde lohnen, nochmals genauer hinzuschauen, wie dieser Prozess abgebrochen wurde. Hier sei nur ein Punkt genannt: Als die Ost-CDU Anfang Februar 1990 in der Wählergunst bei elf Prozent lag und damit um ein Prozent hinter der PDS, gründete Helmut Kohl am 6. Februar in Westberlin die sogenannte "Allianz für Deutschland", ein politisches Bündnis, das die schnelle Einführung der D-Mark im Osten versprach. Nicht nur Bundesbankpräsident Pöhl war entsetzt. Erst sechs Tage danach ist jenes stark rezipierte Plakat an Bambusstöcken nachweisbar, das androht, zur D-Mark zu gehen, käme diese nicht in den Osten.
Subventionierter Absatzmarkt ohne ökonomische Konkurrenz
Statt einer Vereinigung, die womöglich auch den Westen auf den Prüfstand gestellt hätte, gab es nur einen Beitritt. Die Ergebnisse für den Osten sind bekannt: 70 Prozent Deindustrialisierung, mehr als in jedem anderen Land des Ostens, vier Millionen Arbeitslose, 2,2 Millionen Haushalte waren von der Maßgabe "Rückgabe vor Entschädigung" betroffen und mussten um ihre Wohnung, ihr Haus oder Grundstück fürchten oder verloren es.
Kein Wunder, dass auch die Geburtenrate einbricht. Die Treuhand und sogenannte Altlasten (Schulden, die keine tatsächlichen Schulden waren und laut Bundesbankpräsident Pöhl mit einem Federstrich zu tilgen gewesen wären) sorgen dafür, dass das Territorium der DDR zu einem staatlich hoch subventionierten Absatzmarkt ohne ökonomische Konkurrenz wurde. Heute gibt es kein Gebiet in Europa, in dem der Bevölkerung so wenig von dem Grund und Boden gehört, auf dem sie lebt, in der so wenige Immobilien und Betriebe ihr eigen nennen können wie im Osten Deutschlands. Hinzu kommt, dass selbst im Osten Führungspositionen mehrheitlich nicht in Händen der Ostler sind, bundesweit gesehen sind es nur 1,7 Prozent.
Die Abwanderung, die man vermeiden wollte, stieg nach der Einführung der D-Mark stark an. Eine Stadt wie Altenburg schrumpfte von 51.000 Einwohnern Ende 1989 auf 32.000 Einwohner im letzten Jahr. Dies kann als exemplarisch gelten, sieht man von Zentren wie Berlin, Leipzig, Jena, Erfurt oder Dresden ab. Diejenigen, die weggegangen sind, waren eher jünger als älter, eher Frauen als Männer und eher gut ausgebildet.
Kein Wunder, dass auch die Geburtenrate einbricht. Die Treuhand und sogenannte Altlasten (Schulden, die keine tatsächlichen Schulden waren und laut Bundesbankpräsident Pöhl mit einem Federstrich zu tilgen gewesen wären) sorgen dafür, dass das Territorium der DDR zu einem staatlich hoch subventionierten Absatzmarkt ohne ökonomische Konkurrenz wurde. Heute gibt es kein Gebiet in Europa, in dem der Bevölkerung so wenig von dem Grund und Boden gehört, auf dem sie lebt, in der so wenige Immobilien und Betriebe ihr eigen nennen können wie im Osten Deutschlands. Hinzu kommt, dass selbst im Osten Führungspositionen mehrheitlich nicht in Händen der Ostler sind, bundesweit gesehen sind es nur 1,7 Prozent.
Die Abwanderung, die man vermeiden wollte, stieg nach der Einführung der D-Mark stark an. Eine Stadt wie Altenburg schrumpfte von 51.000 Einwohnern Ende 1989 auf 32.000 Einwohner im letzten Jahr. Dies kann als exemplarisch gelten, sieht man von Zentren wie Berlin, Leipzig, Jena, Erfurt oder Dresden ab. Diejenigen, die weggegangen sind, waren eher jünger als älter, eher Frauen als Männer und eher gut ausgebildet.
Dringen auf Veränderung – eine Frage des Überlebens
Der Verweis auf die angebliche Alternativlosigkeit der damaligen Entscheidungen, also der Alternativlosigkeit zum Kapitalismus, lähmt noch heute unser Denken, Fühlen und Handeln.
Viel wäre schon gewonnen, würde zum 30. Jahrestag des Beitritts in der Öffentlichkeit nicht nur die ehemalige DDR problematisiert, sondern auch die ehemalige BRD. Dabei geht es nicht um ein besser und schlechter, nicht um eine Aufrechnung, um Gleichheits- oder Ungleichheitszeichen, sondern darum, ob wir in Ost wie in West, in West wie in Ost Anregungen und Anknüpfungspunkte finden für eine Friedenspolitik, für soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung, für einen Ausgleich von Nord und Süd, für ein Denken und Handeln jenseits von Wachstum- und Profitstreben.
Viel wäre schon gewonnen, würde zum 30. Jahrestag des Beitritts in der Öffentlichkeit nicht nur die ehemalige DDR problematisiert, sondern auch die ehemalige BRD. Dabei geht es nicht um ein besser und schlechter, nicht um eine Aufrechnung, um Gleichheits- oder Ungleichheitszeichen, sondern darum, ob wir in Ost wie in West, in West wie in Ost Anregungen und Anknüpfungspunkte finden für eine Friedenspolitik, für soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung, für einen Ausgleich von Nord und Süd, für ein Denken und Handeln jenseits von Wachstum- und Profitstreben.
Ein Widerspruch gegen den Status quo, ein Dringen auf Veränderung ist keine Frage des Ermessens mehr, sondern des Überlebens.