"Die Kirche ist bis heute ein entscheidender Faktor"
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Am 4. Juni 1989 fanden in Polen die ersten teilweise freien Wahlen statt. Auf dem Weg dahin spielte die katholische Kirche eine entscheidende Rolle. Bis heute habe sie großen Einfluss auf die polnische Politik, sagt Dieter Bingen vom Deutschen Polen-Institut.
Thorsten Jabs: Das Jahr 1989 ist das Jahr des Mauerfalls in Deutschland. Der Eiserne Vorhang wurde hochgezogen, die Welt veränderte sich auf eine Weise, wie es selbst viele Politiker ein paar Jahr vorher noch nicht für möglich gehalten hatten – auch die Welt in Polen. Übermorgen, vor 30 Jahren fanden dort zum ersten Mal freie Wahlen statt, zumindest zum Teil, denn 65 Prozent der Sitze im Parlament waren zunächst weiter für die sogenannten Blockparteien vergeben. Den Rest gewann bei der Wahl das Bürgerkomitee Solidarnosc. Die Gewerkschaft hatte einen wichtigen Anteil an der Wende in Polen, aber kurz vorher saß auch die katholische Kirche mit an einem runden Tisch. Mit Professor Dieter Bingen, dem Direktor des Deutschen Polen-Instituts spreche ich jetzt darüber, welche Rolle die Kirche für die Politik in Polen damals und heute hatte beziehungsweise hat.
Politik und Kirche gehörten und gehören zusammen
Jabs: Herr Bingen, Politik und Kirche, das gehört in Polen zusammen, oder?
Dieter Bingen: Es gehört zusammen, es gehörte zusammen in der gesamten neueren Geschichte, Zeitgeschichte Polens. Die Geschichte Polens und Politik Polens ist ohne die katholische Kirche nicht denkbar. Sie hat einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklungen Nachkriegspolens gehabt und bringt auch ein Erbe mit aus der Zeit vor 1945, in der sie Träger von nationaler, kultureller Identität gewesen ist und sogar teilweise dann auch Vertreter für einen nichtexistenten polnischen Staat in Zeiten der Teilungen. Also das heißt, sie hat in der Tradition schon auch, in der Wahrnehmung, eine entscheidende Rolle für die Geschicke Polens gehabt.
Kirche war ein Träger des nationalen Überlebens
Jabs: Lassen Sie uns einmal die Entwicklung ein wenig Revue passieren. Starten wir mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Mitte der Siebzigerjahre. Grundsätzlich war der Kampf gegen Religion und Kirche ein Wesen des Sozialismus. In der Realität wurde die Kirche einerseits unterdrückt, andererseits aber auch mit ihr zusammengearbeitet. Wie war das in Polen in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg?
Bingen: Es war ein sehr komplexes Verhältnis, und der totale Kirchenkampf konnte von Seiten der kommunistischen Partei nicht durchgeführt werden. Das war einfach aufgrund dessen schwer, dass die katholische Kirche in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Terrorbesatzung in Polen mit unter den größten Opfern war. Von den Nazis wurde die katholische Kirche eben als entscheidend für die nationale Substanz, für den Erhalt der nationalen Identität Polens angesehen. Von daher war der Kirchenkampf der Nazis, der deutschen Besatzung, sehr deutlich, und 28 Prozent des polnischen Klerus sind während des Zweiten Weltkriegs Opfer des deutschen Terrors, ermordet oder zu Tode gekommen in Lagern. Das ist der größte Blutzoll nach dem alles überragenden, negativ überragenden Holocaust der Judenvernichtung. Das heißt, katholische Kirche war kein Träger in dem Sinne, nicht Kollaborant der Besatzer, es war ein Träger des nationalen Überlebens. Darauf musste die kommunistische Partei Rücksicht nehmen.
Nach 1945 ist in den neu übernommenen ehemaligen deutschen Ostgebieten die katholische Kirche ganz wichtig gewesen, auch für die Errichtung einer Staatlichkeit, von Gesellschaftlichkeit, von menschlichem Zusammenleben. Ohne katholische Kirche wären Städtegemeinden so in den Westprovinzen nicht aufgebaut worden. Das heißt, der totale Kirchenkampf war nicht möglich. Auf der anderen Seite hat man natürlich versucht, nach 1945 den Einfluss der Kirche zu verringern. Man hat versucht, also auch die Kirche von innen heraus zu spalten. Sie war immer ein Fremdkörper und zugleich ein Träger der gesellschaftlichen Realität und nicht einfach rauszudenken. Das war unmöglich, im Unterschied zu den Situationen in den kommunistischen Nachbarländern, wo die Kirche, auch die katholische Kirche, teilweise doch auch kollaboriert hat mit der Besatzung. In Polen ist eine Sondersituation gegeben und gerade auch in Zeiten der Krisen, auch schon vor den 80er-Jahren, war die Kirche in gewissem Sinne dann auch als Stabilisator der Situation gefragt gewesen.
Ein Pole auf dem Papstthron - auch die Kommunisten sind stolz
Jabs: Ein einschneidendes Datum war der 16. Oktober 1978. An diesem Tag wurde Kardinal Karol Wojtyla beim Konklave im achten Wahlgang in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan zum Stellvertreter Christi auf Erden gewählt. Es begann das Pontifikat von Papst Johannes Paul II., das bis zu seinem Tod am 2. April 2005 andauern sollte. Welche Bedeutung hatte dieses Pontifikat für Polen, auch dieser Tag für Polen?
Bingen: Das ist vielleicht das einschneidendste Datum gewesen, nicht kurzfristig, aber mit seiner Langzeitwirkung in der polnischen Nachkriegsgeschichte, weil mit diesem Beginn des Pontifikats von Johannes Paul II. der Niedergang des schon in einer Krise befindlichen Realsozialismus in Polen einschneidend beschleunigt worden ist. Ohne Johannes Paul II. hätte es das Ende des Kommunismus letztendlich in Polen nicht gegeben, und wahrscheinlich ist er auch mitentscheidend gewesen für die Beschleunigung der gesamten Prozesse in Ost-, Mittel- und Osteuropa bis in die Sowjetunion hinein. Mit der Wahl Johannes Paul II., vor allem aber auch dann mit seiner ersten Pilgerreise im Juni 1979, wurde die Atomisierung der Gesellschaft, die vollständige Abhängigkeit von den parteilichen und staatlichen Institutionen sichtbar aufgebrochen. Der 16. Oktober war erst mal ein Tag des Stolzes für alle Polen, ob die nun katholisch, agnostisch oder kommunistisch gewesen sind. Es ist ein Pole auf dem Papstthron.
Jabs: Also "Wir sind Papst" auch in Polen?
Bingen: "Wir sind Papst" auch in Polen, und das kam wirklich von innen heraus. Polen galt ja wie die anderen Länder Mittelosteuropas, die kommunistischen Länder, irgendwie als Satellit der Sowjetunion: irgendwo in der östlichen Ecke, nicht wirklich wahrgenommen, diejenigen, die nach 1945 dann die Freiheit nicht erlebt haben – und jetzt auf einmal die Blicke der Welt auf Polen gerichtet. Die katholische Kirche war schon vor 1978 gefragt als eine Einrichtung, die auch pazifizierend auf die eigene Gesellschaft wirken sollte, nach Willen der Kommunisten. Das heißt, sie wussten, dass sie ihnen etwas dafür geben mussten, der katholischen Kirche mehr Freiraum, aber mit 1978, mit der Wahl des Papstes, ist der Pfropfen losgegangen und vor allem dann durch den Besuch im Juni 1979, in dem erstmals in der kommunistischen Zeit seit den 40er Jahren Millionen von Menschen zu den unterschiedlichen riesigen Messen, Gottesdiensten mit dem Papst in ganz Polen zusammengekommen sind und nicht zusammengerufen worden von der kommunistischen Partei, von den Transmissionsriemen, von den Gewerkschaften, sondern es waren Millionen von Menschen unterwegs, nicht vom Staat organisierte Massen. Das heißt, dass Organisationsmonopol der Partei wurde sichtbar aufgebrochen. Durch diesen Schirm der Kirche konnte sich politische, gesellschaftliche und kulturelle Selbstorganisation weiterentwickeln, und das war nicht mehr aufzuhalten.
Ohne Papstwahl und Papstbesuch keine Solidarnosc
Jabs: Sie beschreiben die Zeit – das war dann ja Anfang der 80er-Jahre, eine Zeit, in der Sie häufiger in Polen waren. Da stand dann die Gewerkschaft Solidarnosc. Welchen Anteil hatte daran die Kirche?
Bingen: Ohne die Papstwahl, ohne den Papstbesuch 1979 hätte es die Solidarnosc, beziehungsweise dann diese Streikbewegung im Jahre 1980 nicht gegeben. Also die katholische Kirche hat sich nicht hundertprozentig auf Seiten der politischen Bewegung, der Gewerkschaftsbewegung gestellt, sie war der Vermittler. Ohne die katholische Kirche hätte es dann auch in der Zeit der Solidarnosc, eben von Sommer 1980 bis Herbst 1981, auch nicht diese letztlich gescheiterten Vermittlungsbemühungen geben können. Also die Kirche versuchte sich auch zwischen Parteiregierung auf der einen Seite und Gewerkschaften auf der anderen Seite einzuschalten. Da wurde dann teilweise von einer Dreiteilung der Macht – Partei, Kirche und Walesa-Solidarnosc – gesprochen. Das war so die Dreieinigkeit, die ist dann im Dezember 1981 auseinandergefallen, aber die Kirche war hier ein Schirm. Andererseits eben auch die Emanzipierung. Es gab jetzt erstmals einen Sprecher für die Nation. Bis 1980 war das die katholische Kirche, die sprach für die Gesellschaft, weil es sonst niemanden gab, und seit 1980 gab es jetzt auch eine politische, gesellschaftliche, gewerkschaftliche Bewegung, eine gesamtnationale Bewegung, die Solidarnosc, und das war potenziell eine Konkurrenz für dieses alternative Monopol der katholischen Kirche, für die Nation zu sprechen.
Jabs: Eigentlich standen Gewerkschaften ja nie in dem Ruf, besonders kirchennah zu sein. Haben denn in den 80er Jahren die Kirche und die Gewerkschaft auch zusammengearbeitet?
Bingen: Der Begriff der Zusammenarbeit ist vielleicht nicht genau passend. Es war eine Inspiration und es war ein Machtfaktor, der günstig war für Opposition. Nach 1986 war die katholische Kirche dann bis hin zum runden Tisch auch der Vermittler gewesen auf dem Weg in die Demokratisierung.
Mit Pluralismus hat die Kirche ein Problem
Jabs: Und was änderte sich danach, nach der Wende '89? War die Kirche weiterhin ein wichtiger Faktor in der Politik, oder zog sie sich ein bisschen zurück?
Bingen: Sie war weiter und bis heute ein entscheidender Faktor, und das ist sicher auch diese sehr gemischte Bilanz der Zeit davor, für die Zeit dann auch nach 1989, dass das Monopol, für die Gesellschaft, für die Nation zu sprechen, 1989 endgültig verlorengegangen war. Es gab eine sich pluralisierende Gesellschaft, einen politischen Pluralismus, auch einen sich weiterentwickelnden Wertepluralismus. Die Sonderrolle der katholischen Kirche war in Gefahr und für die katholische Kirche war es schwierig und ist es bis heute schwierig, sich dem pluralistischen Staat einer Demokratie und einem Wertepluralismus und einer Weltoffenheit zu stellen. Die Kirche war immer eine Kirche der Nation gewesen. Es hatte nicht unbedingt sehr viel mit Alltagsreligiosität zu tun und der Verankerung des Christentums in jedem einzelnen Christen und Christin, was ja eigentlich das Entscheidende ist.
Und das wird heute dann auch von kritischen Betrachtern aus der Kirche selbst in Polen gesehen: dass die größte Herausforderung für die katholische Kirche in Polen nicht der Pluralismus und alle diese Übel, die aus dem Westen kommen, sind, sondern dass die katholische Kirche für sich selbst die größte Herausforderung und die größte Gefahr ist, die aus ihrer Unvorbereitetheit auf eine sich verändernde Welt und Gesellschaft schwächer wird. Und die sich im Augenblick, in der Mehrheit der Bischöfe, eher darauf richtet, ihre Privilegien, die sie hatte, auch weiter zu verteidigen, über den Staat und dessen Institutionen, quasi den Staat als Instrument für die Wertevermittlung der katholischen Kirche, und das ist eine große Auseinandersetzung.
Regierungspartei und Kirche sind eng verbunden
Jabs: Ganz aktuell ist die regierende PIS-Partei um ihren Vorsitzenden Jaroslaw Kaczinsky mit etwas mehr als 45 Prozent der Stimmen stärkste Kraft vor der Europäischen Koalition, einem Zusammenschluss von proeuropäischen Parteien, bei der Europawahl geworden. Kaczinsky hat einmal gesagt, wer Hand an die Kirche legt, legt Hand an Polen. Wie stark ist die Verbindung zwischen katholischer Kirche und der PIS?
Bingen: Die Verbindung zwischen der PIS und katholischer Kirche ist stark faktisch. Die große Mehrheit des Episkopals und des Klerus unterstützt die PIS oder Positionen von PIS, und die PIS-Partei und Jaroslaw Kaczinsky selbst und die führenden Politiker suchen die Nähe zu der katholischen Kirche, vor allem zu ihrem konservativen Flügel, und das ist der stärkere Flügel. Es ist eine gegenseitige Instrumentalisierung mit Gefahren für beide Seiten, siehe jetzt der Missbrauchsskandal, der im Augenblick aber, wie wir am Wahlergebnis sehen, da nicht diesen Einfluss hatte. Aber es ist eine Verbindung zwischen, sagen wir, Thron und Altar, die in der Vergangenheit immer auf längerer Sicht zu Brüchen führt und auch zu einem Scheitern und eine Gefahr für die katholische Kirche in Polen ist.
Säkularisierung nimmt zu - auch durch den Missbrauchsskandal
Jabs: Das sehen wir ja gerade. Der Dokumentarfilm "Sag es niemandem", darin geht es um den Missbrauchsskandal, der ist im Internet mehr als 20 Millionen Mal abgerufen worden bei 38 Millionen Menschen, die in Polen wohnen. Missbrauchsvorwürfe gibt es unter anderem gegen einen früheren Kaplan der Solidarnosc und einen Beichtvater des damaligen Anführers Lech Walesa. Gerät die katholische Kirche in Polen dadurch ins Wanken?
Bingen: Das ist kein Wanken von heute auf morgen innerhalb von wenigen Monaten, aber ein Prozess der Säkularisierung wird damit sicher beschleunigt. Der ist schon sichtbar gewesen in den letzten Jahren: Immer mehr Menschen, vor allem in den größeren Städten, haben sich von der katholischen Kirche gelöst. Das heißt, auch die Kirchlichkeit lässt vor allem in der jungen Generation dramatisch nach, und es gibt etwas in Polen jetzt, was es bis vor Kurzem nicht gegeben hat: Es gibt wirklich einen Antiklerikalismus, und einer, der sich nicht versteckt, sondern nach außen tritt. Ob man das gut oder schlecht findet, auf jeden Fall ist es ein Phänomen, das gab es früher nicht. Dieser Prozess wird durch diesen Skandal noch sicher beschleunigt werden, wenn es nicht zu einer wirklich kritischen Auseinandersetzung kommt. Wir haben ja sogar in Deutschland Probleme mit der Auseinandersetzung, und die katholische Kirche in Polen ist sehr viel stärker noch eine Festung, und je länger und stärker sie sich als Festung erhält desto schwieriger wird es für die Kirche selbst werden, aus dieser Krise herauszukommen.
Jabs: Glauben Sie also, dass in den kommenden Jahren sich einiges verändern wird, also dass zum Beispiel die jüngere Generation stärker an diesen Grundfesten rüttelt, also dass die Rolle der Kirche für die Politik in Polen auch schwächer wird?
Bingen: Der Prozess wird sich sicherlich beschleunigen, nicht nur bei der jüngeren Generation, aber dort besonders, und das ist ein Prozess, der sicher nicht aufzuhalten ist. Er hat viel länger gedauert, bis das in Polen eingetreten ist nach 1990, in Spanien ging das innerhalb von wenigen Jahren. Nach dem Ende der Diktatur in Polen hat das länger gedauert, aber es kann mit größerer Macht sich weiter entwickeln, weil die Kirche nicht darauf vorbereitet ist.