Am frühen Morgen des 18. März 1990 fuhr der Zug "Leningrad-Berlin" in den Bahnhof Lichtenberg ein. Meine Mutter und ich stiegen voller Erwartung aus. Eine Freundin meiner Mutter hatte uns eingeladen. Um 10 Uhr wollten wir uns mit ihr treffen, direkt vor dem Eingang des Palastes der Republik.
Doch das markante Gebäude mit den Glaswänden war weiträumig abgesperrt. Denn an diesem Tag fanden die ersten demokratischen Wahlen der DDR statt. Dass ich Zeugin dieses historischen Augenblicks war, wurde mir erst viel später bewusst. Und dass an diesem Ort nach nur wenigen Wochen über mein späteres Schicksal entschieden wurde, konnte ich mir damals auch nicht vorstellen.
Doch dass meine Familie 1997 als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland emigrieren durfte, verdanken wir wohl auch dieser ersten demokratischen Volkskammerregierung der DDR. Bald nach den Wahlen sprach sie sich dafür aus, Juden aus der Sowjetunion aufzunehmen:
"Die Position der SED-Regierung war ja bis dahin gewesen, dass die DDR als antifaschistischer Staat für die Verbrechen des Faschismus eben keine Verantwortung trug", sagt Jannis Panagiotidis, Migrationsforscher an der Universität Wien.
"Die demokratisch gewählte Regierung der DDR wollte das ändern, wollte dezidiert Verantwortung übernehmen für die Verbrechen der deutschen Nation während des Nationalsozialismus und bot aus diesem Grund verfolgten Juden die Aufnahme in der DDR an."
"Es gab beunruhigende Gerüchte"
Mit "verfolgten Juden" waren wir gemeint - Juden aus der Sowjetunion. Mein Vater, heute 83 Jahre alt, kann sich an die bedrohliche Lage kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion noch gut erinnern:
"Es gab einen nationalistisch-antisemitischen Verein. 'Pamjat' – übersetzt bedeutet das 'Das Gedenken'. Sie demonstrierten im Zentrum Leningrads, verteilten Flugblätter gegen Juden. Es gab beunruhigende Gerüchte, dass es bald zu Pogromen kommen würde."
Jetzt, da mein Vater das erzählt, erinnere ich mich wieder an diese schwarzgekleideten Menschen, die vor der zentralen U-Bahnstation "Nevsky Prospekt" im damaligen Leningrad, heute Sankt Petersburg, den Eingang versperrten. Sie grölten "Juden raus nach Israel!".
Die Eltern von Julia Smilga kurz nach ihrer Ankunft: Prost Deutschland!© Deutschlandradio / Julia Smilga
Ich weiß noch, dass ich, damals 18, möglichst unauffällig an dieser schreienden Menge vorbei zur U-Bahn huschte.
"Als das Thema Deutschland aufkam, hat mein Vater gesagt, er würde nie nach Deutschland gehen, weil sein Vater im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen ist", sagt Lena Gorelik. Die Schriftstellerin stammt wie ich auch aus Leningrad. Als ihre Familie sich zur Auswanderung entschied, war sie zehn.
"Und dann gab es einen antisemitischen Vorfall, den er erlebt hat" erzählt sie. "Er saß in der Metro, und dann saß ihm ein Mann gegenüber, und dann hat er irgendwie, seinen Fuß angehoben und hat sozusagen seine schmutzigen Stiefel an den Knien meines Vaters abgeputzt und hat gesagt: 'Du Drecksjude, geh nach Israel, geh doch nach Hause.' Und dann, - und das ist, glaube ich, das, was mein Vater am meisten mitgenommen hat, - hat halt keiner was gesagt. Alle haben irgendwie betreten weggeguckt. Und da hat dann mein Vater gesagt - okay, wir gehen doch."
Wirtschaftliche Krise der Sowjetunion
Das Erstarken des Antisemitismus war aber nicht der einzige Grund, der die Menschen zur Auswanderung zwang, erklärt Jannis Panagiotidis:
"In der Zeit der Perestroika war es ja so, dass die Wirtschaft in eine massive Krise geriet, dass die Zukunft sehr unsicher schien. Und dass es letztlich auch die Angst um die eigene Zukunft und die Zukunft der Kinder war, die die Menschen aus dem Land trieb, so sie denn die Möglichkeit dazu hatten."
Die Russlanddeutschen gingen in die BRD. Die Griechen – nach Griechenland. Viele unserer Verwandten und meine Jugendfreunde wanderten nach Israel aus. Und dann, im Sommer 1990, kam plötzlich die Nachricht: Die DDR nimmt Juden aus der Sowjetunion auf. In den wenigen Monaten bis zur Wiedervereinigung kamen insgesamt 2650 von ihnen nach Ost-Berlin.
Nach der Wiedervereinigung war es zunächst überhaupt nicht klar, ob die Bundesrepublik das Prozedere dieser einmaligen jüdischen Einwanderung fortsetzen würde, erinnert sich Almuth Berger, die erste und die letzte Ausländerbeauftragte der DDR:
"Es war uns ja völlig klar - das kann nicht mit dem Ende der DDR zu Ende sein. Wir haben versucht, das damals in den Einigungsvertrag einzubringen. Das ist nicht gelungen. Aber es gab ja dann sehr intensive Verhandlungen mit der Bundesregierung. Da hat sich dann auch der Zentralrat der Juden sehr massiv eingeschaltet unter dem damaligen Vorsitzenden Heinz Galinski."
Eine Zuwanderung mit großer Symbolkraft
Hartnäckig drängte Heinz Galinski, der damalige Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, die bundesdeutschen Politiker zu einer schnellen und unkomplizierten Einwanderungslösung.
In einem Interview mit dem Berliner Rundfunk eine Woche vor dem 3. Oktober 1990 betonte er die große politische Symbolkraft dieser Zuwanderung.
"Der Grund ist ein ganz klarer, dass auch die Bundesrepublik und das gilt auch für das vereinte Deutschland eine besondere Verpflichtung hat gegenüber Juden aufgrund einer schrecklichen Vergangenheit. Es haben einst in Deutschland 540.000 Juden gelebt und jetzt leben 30.000 und es würde dem neuen vereinten Deutschland gut zur Gesicht stehen, noch eine größere Zahl von Juden aufzunehmen", so Galinski damals.
"Wenn man sich fragt, welche Zukunft die jüdischen Gemeinden hatten", sagt Ellen Presser, "und man sich die Zahlen der Gemeinden anschaut, über die Jahre, - dann war tatsächlich ein Abwärtstrend."
Ellen Presser ist als Kind polnischer Holocaustüberlebender in München 1954 geboren. Die Eltern wollten eigentlich nach dem Krieg nach Israel auswandern, doch es kam anders.
"Unsere Familie ist hier hängen geblieben", sagt sie. "Und für meine Eltern oder für unsere Eltern ist das niemals Heimat gewesen. Aber für meinen Bruder und mich schon."
Seit den 1980er-Jahren leitet Ellen Presser die Kulturabteilung der Israeltischen Gemeinde München und Oberbayern. 1989 zählte diese drittgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland rund 4000 Mitglieder. Die Überalterung wäre jetzt in ihrer großen Gemeinde Münchens vielleicht nicht so schnell bemerkbar gewesen, sagt Ellen Presser. Und dennoch:
"Es wäre ein Trend gewesen, dem man kaum etwas entgegensetzen konnte. Und darum war die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Riesenchance."
Galinski verhandelt mit Schäuble
Diese Chance ließ Heinz Galinski sich nicht entgehen. Nach der Wiedervereinigung verhandelte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden intensiv mit dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble über die Regeln für einen dauerhaften Verbleib der sowjetischen Juden in Deutschland.
In einem Interview mit dem Jüdischen Museum Frankfurt im Jahr 2010 erklärt der heutige Bundestagspräsident, warum diese Verhandlungen überhaupt notwendig waren:
"Die Bundesrepublik Deutschland war per definitionem kein Einwanderungsland. Es musste für einige Tausend Menschen, die aus der Sowjetunion kommen wollten, Rechtsgrundlage gefunden werden: Russlanddeutsche waren sie nicht, Vertriebene eigentlich auch nicht und auch keine Asylbewerber im eigentlichen Sinne. Nach den Bestimmungen des damals geltenden Aufenthaltsrechtes konnten Bund und Länder vereinbaren, dass ein bestimmtes Kontingent von Flüchtlingen aufgenommen wird."
Am 9. Januar 1991 schließlich legte die Innenministerkonferenz des wiedervereinigten Deutschlands die Grundlagen fest. Juden aus der Sowjetunion durften fortan als "jüdische Kontingentflüchtlinge" einwandern.
"Und das heißt: Wenn man nachweisen konnte, dass man selber Jude war oder von jüdischen Eltern in diesem Sinne abstammte, konnte man Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland bekommen", sagt Migrationsforscher Jannis Panagiotidis.
Sofort bildeten sich lange Schlangen vor den deutschen Konsulaten. Politische Unsicherheit und wirtschaftliche Not zwangen die Menschen, fortzugehen - so formulierte es mein heute 83-jähriger Vater in seinem Tagebuch, das er seit Ankunft in Deutschland führt.
31. März 1997 - "Zusammen mit der untergegangenen Sowjetunion verschwanden alle gesellschaftlichen Regeln. Bestechungen und Diebstähle, genannt 'Privatisierung', bestimmten meinen Alltag. 1994 hat mir ein Auftraggeber die von meinem Baubüro geleisteten Arbeiten nicht bezahlt. Ich musste aber meine Bauarbeiter entlohnen und wandte mich ans Arbeitsgericht. Am Tag vor der Gerichtsverhandlung rief mich ein unbekannter Mann an und drohte mir, dass meine Fahrt zum Gericht meine letzte sein kann, wenn ich meine Forderungen nicht zurückziehe. Und erinnerte mich daran, dass ich eine Tochter habe."
In dem korrupten und unsicheren Land, in das sich Russland unaufhörlich verwandelte, sahen meine Eltern keine Zukunft mehr - weder für sich noch für mich. Wer nicht nach Israel auswandern wollte und nicht in die USA einreisen konnte, entschied sich eben für Deutschland.
"Es geschah nicht aus Liebe zu Deutschland"
Nicht nur meine Familie, auch die Familie von Lena Gorelik.
"Tatsächlich waren es sehr pragmatische Gründe", erzählt sie. "Also wir wollen nicht hierbleiben. Israel fällt weg. USA fällt weg. Also gehen wir nach Deutschland. Es geschah nicht aus Liebe zu Deutschland.
Die Schriftstellerin Lena Gorelik kam als Kind nach Deutschland.© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Jüdische Religion, Bräuche und Traditionen - meiner Familie bedeuteten sie wenig. Judentum war einfach zu einer Art Volkszugehörigkeit geworden. Mein Vater gibt zu, dass er in Leningrad nie in die Synagoge ging.
Man trug eben sein Päckchen, als Jude im Pass abgestempelt zu sein: "Jude zu sein war in der Sowjetunion wie etwas, wofür man sich eher schämen musste. Es herrschte so ein Volksantisemitismus: 'Ah, das ist ein Jude.' Nicht jede Uni ließ einen Juden studieren. Wir waren so etwas wie eine 'behinderte Nation'."
Mit solch einem jüdischen Selbstverständnis reichten wir unsere Personenstanddokumente 1993 im deutschen Konsulat ein. Die Bearbeitung dauerte drei Jahre, erst Im Frühjahr 1997 konnten wir nach Deutschland auswandern. Mein Vater war 60, meine Mutter, eine Deutschlehrerin, 50 und ich war gerade 25 geworden, in der Tasche ein frisches Unidiplom im Fach "Musik für Lehramt".
Was wussten wir über Deutschland und unsere Perspektiven hier? Zugegebenermaßen – recht wenig. Mir war klar, dass ich vielleicht ein, zwei Jahre zusätzlich studieren muss, um im Deutschland als Lehrerin arbeiten zu können. Meine Mutter aber war sich absolut sicher, dass sie mit ihrem guten Deutsch eine Arbeit finden würde.
Seit den ersten Tagen in Deutschland hielt mein Vater seine Eindrücke über das neue Land und das für ihn völlig neue jüdische Leben in seinem Tagebuch fest.
22. April 1997 - "Heute ist Wladimir Lenins Geburtstag. Ausgerechnet heute feiern wir zum ersten Mal in unserem Leben Pessach. Es heißt ‚Seder‘. Im großen Saal der Synagoge stehen gedeckte Tische – darauf Rotwein und nach unserem Verständnis ein ziemlich bescheidenes Festessen - bittere Kräuter, Radieschen und gekochte Eier. Ein bärtiger Mann erklärt, dass dieses Essen symbolisch für den Auszug aus Ägypten steht und für die Befreiung der Juden aus der Sklaverei. Aber - wie stark ist eigentlich unser Atheismus und wie schwer ist es, sich jetzt auf die völlig vergessenen jüdischen Traditionen zu besinnen, die 70 Jahre lang im Kommunismus so gut wie verboten waren. Lange dauert die Erzählung des Mannes – und die russischen Juden werden langsam ungeduldig, sie möchten endlich Wein trinken und essen, es wird immer lauter und bald hört keiner mehr dem Erzähler zu."
Kulturen prallen aufeinander
Das Aufeinanderprallen der Kulturen war unvermeidbar – und oft von Streit und Auseinandersetzungen begleitet – sagt Historiker Dimitri Belkin. Er wanderte selbst 1993 als jüdischer Kontingentflüchtling aus dem ukrainischen Dnipro ein. Heute ist Belkin Leiter des Projekts "Shalom Alejkum" im Zentralrat der Juden, der den jüdisch-muslimischen Dialog fördert.
Der Dialog innerhalb der jüdischen Gemeinden, weiß Belkin, war lange Zeit schwer zu führen. Die Alteingesessenen hatten sich die Stärkung des jüdischen Lebens durch die Zuwanderer ganz anders vorgestellt.
"Konflikte waren riesig in den Gemeinden", sagt er. "Das war auch ein Erinnerungskonflikt, weil sehr viele hier konnten nicht verstehen, wie können jetzt die Menschen zu uns kommen, die einerseits die Religion nicht wirklich praktizieren wollen und andererseits sagen: Wir sind doch keine Opfer des Zweiten Weltkriegs. Wir sind selber Sieger, weil die Sowjetunion hat ja Nazideutschland besiegt. Und das waren alles Faktoren, die sowohl die Gemeinden als auch die Gesellschaft stark überfordert haben."
Ein Tannenbaum für "Väterchen Frost"
Auch Ellen Presser von der jüdischen Gemeinde München fühlte sich durch die Neuankömmlinge oft vor den Kopf gestoßen. Zum Beispiel, als sie erfuhr, dass in einem jüdischen Übergangsheim die Bewohner kurz vor Silvester einen geschmückten Tannenbaum aufgestellt hatten.
"Moment mal", sagt sie. "Also, wir sind doch Juden und die sind Juden - eindeutig. Was wollen sie denn mit diesen Tannenbäumen? Bis man irgendwann gelernt hat, es geht hier gar nicht um Weihnachten und gar nicht um Jesus. Es geht um 'Väterchen Frost', und das ist ein ganz wichtiger Feiertag in der russischen Kultur überhaupt, und der wird auch von bekennenden Juden wahrgenommen."
Ellen Presser, die in den 1990er-Jahren ein Begegnungscafé und Sachspenden für die Neuangekommenen organisierte, sah sich mit dem Unverständnis der alteingesessenen Juden in der Münchener Gemeinde konfrontiert:
"Ich bekam schon ab und zu zu hören, warum ich mir da so ein Bein ausreiße, ob man das jetzt für meine Eltern auch getan hätte. Für ihre Eltern hätten sie das Gefühl, wäre das nicht der Fall gewesen ist. Ich sagte: Genau das ist der Punkt, so möchte ich nicht irgendwo, nicht willkommen geheißen werden. Und dann tue ich eben was."
Die rund 50 jüdischen Gemeinden standen seit 1991 vor einer riesigen Aufgabe – ein kleiner Teil sollte eine fast zehn Mal so große Masse an Neuankömmlingen integrieren. Enttäuschungen waren vorprogrammiert. Ein Ergebnis: Nur knapp die Hälfte der jüdischen Zuwanderer sind Mitglieder der jüdischen Gemeinde geworden. Zum Teil wegen des unlösbaren religiösen Dilemmas.
Während der deutsche Staat Menschen einwandern ließ, die mindestens ein jüdisches Elternteil hatten, egal ob Vater oder Mutter, nahmen die Zentralratsgemeinden generell, den Religionsgesetzen folgend, nur auf, wer eine jüdische Mutter hatte.
Doch das war nicht der einzige Grund, betont Historiker Dimitri Belkin: "Vor allem haben sehr viele mit dem Gedanken zu kämpfen: Wozu die Gemeinde? Dass man die Religion über die Gemeinde definiert, und dass man sich in einer Gemeinde trifft. Das war für viele eine sehr paradoxe, und fast unnötige Frage: Was mache ich dort?"
Aus dem Tagebuch meines Vaters.
17. Juli 1997 - "Ich bin heute zum ersten Mal in die Synagoge zum Shabbatgebet gegangen. Der vierjährige Sohn des Rabbiners betet mit großer Hingabe, er schaukelt hin und her und man sieht, das Gebet macht ihm genau so viel Spaß wie ein Spiel… Ich bin überzeugt, dass man diese Traditionen als Kind vermittelt bekommen haben muss. Für mich ist es wohl etwas zu spät. Und dennoch, auch wenn die 'hiesigen' Juden etwas kühl zu unsereinem sind und sich abseits halten – hier in der Synagoge fühle ich mich zugehörig. Hier werde ich keinen kalten Schauer am Rücken spüren, wenn man das Wort 'Jude' ausspricht."
"Für mich als Kind war das unverständlich"
"Wir waren dann bei so einem Schabbat-Gottesdienst, der dauert ja gut und gerne drei Stunden auf Hebräisch", sagt Lena Gorelik. "Wir haben kein Wort verstanden. Ich fand es todlangweilig. Ich weiß noch, dass ich dachte - oh, wie lange dauert denn der Spaß hier. Also für mich als Kind war das überhaupt unverständlich, warum wir das jetzt tun müssen. Und schon auch die Angst, dass wir das jetzt jeden Samstag tun müssen."
Das Jugendzentrum der jüdischen Gemeinde in Stuttgart wird später ein Heimatort für Lena Gorelik, dort findet sie neue Freunde, dort geht sie zum jüdischen Religionsunterricht. Auf dem Gymnasium ist sie die einzige Jüdin - eine ambivalente Vorzeigrolle.
"Rabin wurde ermordet", erinnert sie sich. "Da war ich 14, glaube ich. Und dann musste ich den gesamten Nahostkonflikt erklären im Geschichtsunterricht. Und am Pessach - dann musste ich immer erklären, wie wir Pessach feiern. Ich meine, klar, wusste ich inzwischen was, aber es war jetzt keine Tradition in meiner Familie. Was ich daran genossen habe, war dieses ‚Ich darf aus dem Unterricht raus, weil ich muss den Katholiken aus der Siebten Pessach erklären‘. Und ich habe genossen, wenn ich sagen konnte: Ich komme morgen nicht in die Schule, schreib Mathe nicht mit, weil ich feiere Rosch Haschana."
Anders als Lena Gorelik fand ich als 25-jährige gar keinen Zugang zu den jüdischen Traditionen, was ich im Nachhinein richtig schade finde. Aber 1997, kurz nach unserer Ankunft, hatte ich ganz andere Sorgen. Mein Universitätsdiplom als Musiklehrerin war für die bayerische Anerkennungsbehörde nicht einmal dem deutschen Abitur gleichwertig. Um in Deutschland studieren zu können, musste ich erst mal das deutsche Abitur machen.
Julia Smilgas Universitätsdiplom als Musiklehrerin wurde nicht anerkannt.© Deutschlandradio / Julia Smilga
Mein Widerspruchverfahren gegen diesen Bescheid zog sich über ein halbes Jahr hin. Als dann der veränderte Bescheid mir nun doch mein "Fachabitur" anerkannte, war ich längst Studentin an einer Musikakademie in Weimar. Denn für das künstlerische Studium im Fach "Chordirigieren" brauchte ich zum Glück kein Abitur.
Große Schwierigkeiten bei der Arbeitsintegration
Meiner Mutter erging es ähnlich. Ihr sowjetisches Lehrerdiplom war in Deutschland auch nichts wert. Das Arbeitsamt bot ihr eine Umschulung zur Bürokauffrau an. Nichts war meiner Mutter fremder, doch sie machte gehorsam diese Weiterbildung. Einen Job als Bürokauffrau hat sie nie bekommen. Später gab sie ab und zu Deutschunterricht bei Integrationskursen.
Doch allein von dieser Tätigkeit konnte sie nicht leben und kam nie aus der Sozialhilfeabhängigkeit raus. Vielleicht hängt ihre psychische Erkrankung und ihr früher Tod mit nur 72 Jahren auch damit zusammen? Die Antwort werde ich zum Glück nie bekommen.
Was ich heute aber mit Sicherheit weiß – die misslungene Arbeitsintegration meiner Mutter war nicht nur ihr persönliches Pech. Jannis Panagiotidis hat für sein neues Buch "Postsowjetische Migration" zum ersten Mal die Arbeitssituation der jüdischen Zuwanderer umfassend untersucht:
"Es handelte sich insgesamt um eine vergleichsweise alte Migration. Es war auch eine relativ hochqualifizierte Migration. In den Statistiken, die mir vorliegen, haben über 40 Prozent einen akademischen Abschluss, über 50 haben Abitur. Was kontrastiert mit der Situation etwa bei den russlanddeutschen Spätaussiedlern, wo man eher eine Dominanz von mittleren Bildungsabschlüssen ausmachen kann. Auf dem Arbeitsmarkt allerdings wirkt sich dieses Qualifikationsniveau im Grunde umgekehrt aus. Also, da sieht man, dass die Integration der Kontingentflüchtlinge tatsächlich über lange Jahre sich sehr schwierig gestaltete, dass wir von Arbeitslosenzahlen im zweistelligen Bereich über lange Jahre sprechen."
Was auch damit zu tun hat, dass jüdische Kontingentflüchtlinge kein Recht auf Anerkennung ihrer Diplome hatten. Spätaussiedler dagegen schon. Sie hatten oft dieselben Hochschulen in Russland besucht, hatten dieselben Abschlüsse wie die Kontingentflüchtlinge, doch ihre Berufsqualifikationen wurden in Deutschland anerkannt.
Diese ungleiche Behandlung wurde erst 2012 mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Anerkennung der ausländischen Berufsqualifikationen behoben. Doch bei sehr vielen jüdischen Migranten der ersten Generation blieben Arbeitspotenziale einfach ungenutzt.
Der zweiten Generation ergeht es besser
"Was die zweite Generation betrifft, da ist es schwer, wirklich systematische Aussagen zu treffen", sagt Jannis Panagiotidis. "Mein Eindruck ist allerdings schon, dass dort die Bildungserfolge sehr stark sind, also dass tatsächlich viele Kinder von Kontingentflüchtlingen Abitur machen, auf die Universität gehen und auch beruflich sehr gut Fuß fassen."
Auch Lena Gorelik gehört zu dieser zweiten Generation. Sie hat in München Osteuropäische Geschichte studiert. Mit 23 Jahren verfasste sie ihren ersten vielbeachteten Roman "Meine weißen Nächte", der sich, etwas augenzwinkernd auf ihre eigene Zuwanderungsgeschichte bezieht.
Sie ist Mitglied einer liberalen jüdischen Gemeinde in München und fühlt sich in der jüdischen Tradition mittlerweile zu Hause:
"Wir feiern Pessach und Chanukka und Rosch Haschana. Und vorher google ich, was auf den Seder-Teller kommt. Meinen Kindern ist durchaus bewusst, dass sie jüdisch sind und sie feiern sehr gerne die jüdischen Feste. Sie würden aber auch gern die muslimischen Feste feiern, die feiern einfach gerne Feste."
Bis 2005 kamen nach Deutschland etwa 220.000 jüdische Kontingentflüchtlinge. Seit 15 Jahren ist diese Zuwanderung jedoch so gut wie erloschen.
"Es wurde ein anderer Zugangsweg gefunden", erklärt der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis.© Deutschlandradio / Julia Smilga
"2005 wurde das Aufnahmeverfahren für die jüdischen Zuwanderer aus der Sowjetunion verändert", erklärt Jannis Panagiotidis. "Und zwar wurde dieser 'Kontingentflüchtlingsstatus' abgeschafft, und es wurde ein anderer Zugangsweg gefunden, der zwar immer noch die jüdische Herkunft der Menschen berücksichtigte, der aber auch auf einmal auf die Integrationsprognosen Rücksicht nahm. Dann mussten Qualifikation, Deutschkenntnisse und so weiter nachgewiesen werden."
Wer stand hinter der Begrenzung ab 2005?
Wer hinter dieser Idee der jüdischen Zuwanderungsbegrenzung maßgeblich stand - die Regierung oder der Zentralrat der Juden, das lässt sich heute nicht mehr hundertprozentig sagen. Indizien gibt es durchaus.
Bereits im Jahr 2001 hatte der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, im Interview mit dem "Spiegel"-Magazin klare Forderungen aufgestellt, die den Kreis der jüdischen Berechtigten einschränken sollten:
"Nur wer Deutsch kann, hat eine Chance, hier in den Arbeitsmarkt eingegliedert zu werden. Zwei Drittel der bisher als Kontingentflüchtlinge aufgenommenen Juden leben hier von der Sozialhilfe, das hat viel mit fehlenden Sprachkenntnissen zu tun. In den letzten Jahren sind 30.000 Menschen - gegen unseren Rat - hier aufgenommen worden, die nach unserem halachischen Religionsgesetz keine wirklichen Juden sind. Das Zuwanderungsgesetz soll sich an unsere strengeren Regeln halten."
Auch noch vier Jahre später, 2005, erklärte der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, dem Deutschlandfunk gegenüber, warum der Zentralrat einer staatlichen Einwanderungsbegrenzung zustimme:
"Diese Zuwanderung stellt viele der jüdischen Gemeinden zum Teil vor existentielle Probleme. Ich denke, wir sind in einer Situation angelangt, dass – wenn dieses Verfahren nicht eine vernünftige Revision erfährt – das Ziel, nämlich die Stärkung jüdischen Lebens, dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland konterkariert wird und die Gemeinden eher gefährdet werden."
Folgen der gedrosselten Zuwanderung
Tatsache ist - die jüdischen Gemeinden sind heute, 15 Jahre drauf wieder gefährdet. Ihre Mitgliederzahlen schrumpfen. 2006 gab es in Deutschland 107.000 Mitglieder, heute sind es nur noch knapp über 90.000 – ein Ergebnis der gedrosselten jüdischen Zuwanderung.
Ich lese immer wieder die russischsprachigen Foren im Netz zu diesem Thema. Und ich sehe, dass es durchaus noch viele ausreisewillige Juden in Russland oder der Ukraine gibt. Sie zählen dort ihre möglichen Integrationspunkte zusammen und rätseln, ob diese für eine positive Integrationsprognose ausreichen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärt die neuen Regeln so:
"Eine der Aufnahmevoraussetzungen ist, dass die Antragstellenden in der Bundesrepublik Deutschland selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können und nicht dauerhaft auf Sozialleistungen des Staates angewiesen sind. Um eine Feststellung darüber treffen zu können, erstellt das Bundesamt eine sogenannte Integrationsprognose, bei der auch das familiäre Umfeld berücksichtigt wird. Kriterien für die Erstellung einer solchen Prognose sind vom Beirat ‚Jüdische Zuwanderung‘ entwickelt worden. Der Beirat, dem Vertreter des Bundes, der Länder, des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Union der progressiven Juden in Deutschland und des BAMF angehören, hatte empfohlen, die Integrationsprognose auf der Basis eines Punktesystems zu erstellen."
Doch nur wenige erreichen die geforderte Punktzahl. 2019 zum Beispiel kamen lediglich 789 Juden aus den GUS-Ländern. Als ich 1997 als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland einwanderte, waren es mehr als 19.000.
"Das ist doch kein Bestellkatalog"
Vor 30 Jahren begann das Experiment "Jüdische Zuwanderung nach Deutschland". Ist dieses Experiment gelungen, hat Deutschland das bekommen, was es sich erhofft hat, will ich von der Schriftstellerin Lena Gorelik wissen.
"Wissen Sie was? Es ist mir total egal, ob sie das bekommen haben, was sie wollten oder nicht", sagt sie. "Ich finde diesen Gedanken, den man damals ja auch so ein bisschen gerade in der Presse hatte, irgendwie so: Wir haben es zwar ein bisschen vermasselt in den 40er-Jahren, aber jetzt holen wir uns mal wieder die deutsch-jüdische Symbiose zurück. Verdammt noch mal ja, ihr habt eine Menge vermasselt, und jetzt passiert das, was passiert und nicht das, was ihr Euch gewünscht hat. Das ist doch kein Bestellkatalog nach dem Motto: Jetzt holen wir uns mal die klugen Juden, und die machen uns die literarischen Salons wieder auf!"
Diese Haltung war in der deutschen Gesellschaft vor allem zu Beginn der jüdischen Einwanderung stark wahrnehmbar, bestätigt der Wissenschaftler Jannis Panagiotidis.
"Es war irgendwo an unrealistische Erwartungen vonseiten der Aufnahmegesellschaft geknüpft, dass man sozusagen das zurückbekäme, was man ja vorher selber mit Gewalt zerstört hat. Wer sich das erhofft hat, der musste zwangsläufig enttäuscht werden", sagt er. "Aber es gibt mittlerweile wieder jüdisches Leben in Deutschland, es gibt aktive Gemeinden auch wieder in viel mehr Städten als früher, es gibt die auch jüdische Kulturschaffenden, die auch gehört werden und gesehen werden."
2. März 2020 - "Seit dem Tag, als wir Sankt Peterburg für immer verlassen haben, sind 23 Jahre vergangen. Es ist viel passiert, es gab gute und traurige Momente in unserem Leben. Schwer und fast unmöglich ist es für mich, über die Krankheit und den viel zu frühen Tod meiner Frau im letzten Jahr zu schreiben. Umso mehr freue ich mich über die journalistischen Erfolge meiner Tochter. Welche Ironie des Schicksals – ich träumte mein Leben lang von einer Journalistenkarriere in Russland, traute mich aber nicht, das zu studieren. Meine Tochter hat diesen Traum in einem anderen Land und in einer anderen Sprache verwirklicht. Und ich - ich habe endlich Zeit, dieses Tagebuch zu führen."
Was wäre aus mir geworden?
Oft spreche ich mit meinem Vater darüber, ob die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, richtig war. Er antwortet mir immer, er habe diesen Schritt nie bereut. Vor allem meinetwegen. Manchmal stelle ich auch mir diese Frage. Vor allem, wenn ich in Russland bei Freunden und Verwandten zu Besuch bin.
Dann frage ich mich, was wäre aus mir geworden, wäre ich nicht nach Deutschland gegangen. Eine Antwort auf diese Frage habe ich nicht. Sie wäre auch nur hypothetisch. Was ich weiß: Mein Leben und meine Heimat sind hier. Ausgerechnet in Deutschland.
Autorin: Julia Smilga
Sprecher: Frank Arnold
Regie: Frank Merfort
Ton: Sonja Rebel
Redaktion: Susanne Arlt