30 Jahre Mauerfall

Die gekaperte Revolution

04:38 Minuten
Ein Besucher der Designers' Open interessiert sich für einen Schrank in der Form des Hochhauses PH 16 aus der DDR.
Plattenbau der DDR als Möbelstück: Deutsche in Ost und West sollten auch das Verbindende sehen, regt Ines Geipel an. © picture alliance / dpa-Zentralbild/ Jan Woitas
Ein Einwurf von Ines Geipel |
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Von Feierstimmung keine Spur: Zum Mauerfalljubiläum dominieren die kritischen Töne. Die Schriftstellerin Ines Geipel hält wenig davon, die vergangenen 30 Jahre als eine Geschichte anhaltender Fremdheit zwischen Ost und West zu sehen.
Erinnerungen sind Erinnerungen sind Erinnerungen? Wenn es denn nur so einfach wäre. 30 Jahre nach dem glücklichsten Moment der deutschen Geschichte, 30 Jahre nach dem Mauerfall, dominiert im Land nicht Freude, sondern heftigster Streit. Dabei wurde über das, was aus Deutschland nach 1989 werden sollte, von Anfang an gestritten, allerdings substantieller als heute.
Im Mai 1994 stellte der ostdeutsche Schriftsteller Jürgen Fuchs dem westdeutschen Philosophen Jürgen Habermas bei einer Anhörung im Bundestag die Frage: "Warum habt ihr koexistiert?" - was pointiert auf den verstellten Blick der westdeutschen Linken im Hinblick auf die DDR-Diktatur zielte.
Habermas antwortete selbstkritisch und umstandslos. Er sprach vom Generationenkonflikt zwischen der Linken, die durch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus sozialisiert wurde, konzedierte "linke Einäugigkeiten" und schlussfolgerte, dass womöglich erst jetzt ein "antitotalitärer Konsens" in Deutschland denkbar würde.

Superopfer-Ossi und ewiger Schuld-Wessi

Wo steht es heute damit? Der 1994er Schlagabtausch war nicht nur eine Differenz in der Sprache, er hatte es in sich. Im Kern war es der Stoff für eine deutsch-deutsche Debatte, die es hätte ernst meinen können mit der politischen Einheit des Landes. Die Debatte fand nicht statt.
Diese Fehlstelle jedoch wuchs sich über die Jahre zu einem gedächtnispolitischen Krater aus, der durch allerlei Achtlosigkeiten gefüllt wurde und sich nun in einem denkwürdigen Konstrukt zusammenfindet: da das Superopfer Ost, dort der ewige Schuldwesten. Kaum ein Tag ohne neue Entlastungserzählung. Hauptsache kein Blick zurück in den harten Diktaturraum. Die Ostdeutschen sind in dieser Blase zu Gedemütigten, Abgehängten, Bürgern 2. Klasse geworden. Die Rede ist von Kolonisierung, von Migrations-Ostdeutschen, von Übernahme.

Deutschland bleibt im Alten gefangen

Das ist nicht einfach eine ungute Asymmetrie, sondern die Neuauflage des alten Spaltungssyndroms. Dabei stellt sich drängender denn je die Frage: Wozu das alles? Wer hat was davon, dass Deutschland derart prekär im Alten gefangen bleibt?
Wenn 30 Jahre nach dem Mauerfall die Infrastruktur im Osten um Längen besser ist als im Westen, die Renten gegenüber dem Westen bei 96,5 Prozent liegen, also fast angeglichen sind und die wahren Unterbezahlten heute insbesondere in einigen Regionen des Westens zu finden sind, geht es demnach nicht um die Sache mit den Zahlen.

Ost wie West sehnen sich zurück

Worum dann? Wir haben Angst. Wir wissen nicht, wie es geht miteinander. Es gibt kein Gefühlsmodell für die Einheit. Gefühle politisch? Fallen noch immer schwer. Wir trauen uns nicht, wir vertrauen uns nicht, wir trauen uns nichts zu. Deshalb sehnen sich Ost wie West zurück.
Der Westen in die Zeiten des guten alten Willy Brandt, wo man sich vorsichtig, aber beständig in jenen Typ des freundlichen Deutschen umbaute, vor dem die Welt nicht mehr Angst zu haben brauchte.
Und der Osten? Schauert sich immer tiefer hinein in sein altes Kollektiv, in ein Land im Land, wo es vermeintlich so solidarisch zugegangen sein soll.

Warum nicht das Verbindende sehen?

Gefühle sind ein verdammt harter Stoff. In entzündlichen Zeiten haben sie das Potential, auf spektakuläre Weise zur politischen Realität zu werden. Mehr als ein halbes Jahrhundert Diktatur im Osten samt 30 Jahren verwarteter Aufarbeitung sind ein endloser Schattenraum, der nun das Zeug hat, das Land zu destabilisieren.
Angesichts dessen, was dieser Schattenraum an Destruktion offenbart, fühlen wir uns überfordert. Ost und West suchen sich intensiv zurück. Die alten Identitäten sollen stabilisieren, den Abschied verzögern, der allerdings längst Gefahr läuft, zum verfehlten Abschied zu werden.
Worauf warten? Klar, es ist schwierig, es ist verzwickt und oft auch hart, aber warum nicht schätzen, was in 30 Jahren möglich geworden ist? Warum nicht das Verbindende sehen? Wieso ausgerechnet genau die Revolution kapern, die für das Land zur Erlösung geworden ist? Warum nicht die sein, die wir doch längst sind, falls wir uns mal für eine Sekunde von außen sehen würden?

Ines Geipel ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien ihr Buch "Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass", Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart, 2019.




Ines Geipel spricht in ein Mikrofon.
© dpa-Bildfunk / Rainer Jensen
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