Ist es 30 Jahre nach Mauerfall eigentlich noch wichtig, ob man aus dem Osten oder Westen Deutschlands kommt? Das diskutiert "Studio 9" in dieser Woche anhand großer Themen: Solidarität, Gleichberechtigung, Identitäten, Kunstfreiheit, Streitkultur – Wie prägt die Herkunft aus Ost und West die Person und ihr Denken darüber? Das fragen wir jeweils zwei Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft – und immer: aus Ost und aus West. Sechs Gespräche über Gemeinsamkeiten und Unterschiede – vom 4. bis zum 9. November 2019, jeden Morgen in "Studio 9".
Zusammenhalt in Ost und West
16:29 Minuten
Bei aller Verschiedenheit ost- und westdeutscher Sozialisation: Solidarität bedeutete vor allem Hilfsbereitschaft unter Nachbarn. Das berichten die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Kathrin Mahler Walther und die westdeutsche Theatermacherin Lisa Lucassen.
Dieter Kassel: Lisa Lucassen wurde 1969 in Düsseldorf geboren, studierte angewandte Theaterwissenschaft und ist Mitbegründerin des Theaterkollektivs She She Pop. Kathrin Mahler Walther wurde 1970 in Leipzig geboren, war Bürgerrechtlerin und saß mit an dem berühmten runden Tisch dann. Heute ist sie Geschäftsführerin der Europäischen Akademie für Frauen in der Politik.
Ich habe mich mit beiden unterhalten im Rahmen unserer Gesprächsreihe zu 30 Jahren Mauerfall, und ich habe zunächst über diesen Mythos geredet, von dieser großen Solidarität in der DDR, von dieser absoluten Hilfsbereitschaft unter Arbeitskollegen, unter Nachbarn und habe Kathrin Mahler Walther gefragt, ob sie das wirklich auch so aus ihrer Zeit in der DDR in Erinnerung hat.
Kathrin Mahler Walther: Ich habe das jedenfalls als ein starkes Miteinander in Erinnerung … Also ich habe als Kind und Jugendliche wenig Statusunterschiede wahrgenommen, wenig soziale Schichtung wahrgenommen, so wie ich das jetzt in Westdeutschland wahrnehme. Das war vor allen Dingen etwas, was sozusagen ein Gefühl von einem Miteinander ausgemacht hat.
Daneben natürlich die Notgemeinschaft, in der sich die Menschen befanden, also in einer Mangelwirtschaft, in der es einfach sehr, sehr knappe Ressourcen gibt. Da war weniger der Status entscheidend, weil man sich für Geld sowieso nicht viel kaufen konnte und die Gehälter relativ dicht beieinander lagen. Da war einfach wichtig, zu was man Zugänge hatte.
Der Bauarbeiter, der einem das Haus bauen konnte oder die Krankenschwester, die einen gut betreut hat in der Polyklinik et cetera. Das waren alles Ressourcen, über die man verfügte, und die waren nicht von sozialem Status abhängig.
Ich glaube, das ist vor allen Dingen etwas, was heute retrospektiv dieses Gefühl von "da war mehr Solidarität, da war mehr Zusammengehörigkeitsgefühl" ausmacht.
Kassel: Lisa Lucassen, im Umkehrschluss – und ich habe das Gefühl, manchmal wird das auch mitgedacht, wenn auch nicht mitgesagt, wenn die Rede ist von dieser DDR-Solidarität –, im Umkehrschluss hieße das ja, im Westen war das alles völlig anders, da hat keiner, zumindest nicht ohne Eigennutz dabei auch noch zu empfinden, jemandem geholfen, jeder hat immer nur für sich gekämpft. Haben Sie das so in Erinnerung?
Solidarität mit nicaraguanischen Kaffeebäuerinnen
Lisa Lucassen: Überhaupt nicht, ehrlich gesagt. Also ich kann mich erinnern, dass das Wort Solidarität erst relativ spät in mein Leben kam, und das war reserviert für sowas wie Solidarität mit nicaraguanischen Kaffeebäuerinnen oder so.
Ich habe auf meine Kindheit in der Bundesrepublik zurückgeblickt und festgestellt, ich bin in so einer relativ großen Zahl von relativ begrenzten Blasen aufgewachsen, aber dass man sich in der Nachbarschaft hilft, das habe ich sehr stark erlebt. Meine Eltern und unsere Nachbarn und deren Kinder und ich, das war eine Supergang, wo man gegenseitig beieinander zum Essen und zum Sesamstraße-Gucken war und wo man sich ausgeholfen hat, wenn irgendwo mal ein Kind übrig war. Also ich bin auch in einer inoffiziellen Pflegefamilie zwei Jahre lang gewesen. Da wusste kein Jugendamt oder irgendwas was davon.
Das war nämlich in der Nachbarschaft, und das war überhaupt kein Problem. Also wenn ich über gesellschaftlichen Zusammenhang nachdenke, dann ist das natürlich nicht soziale Schichten übergreifend gewesen, sondern da ging es um so eine Doppelhaushälftensituation mit lauter gut situierten Leuten, aber da könnte man sicher aus der Ferne guckend vorstellen, dass da eine gewisse soziale Kälte herrscht. Meiner Erfahrung nach war das nicht der Fall.
Walther: Das Wort Solidarität war übrigens bei uns ähnlich besetzt. Also Solidarität war immer die internationale Völkerfreundschaft. Solidarität war sozusagen nichts, was man im Land gelebt hat, sondern womit man andere unterstützt hat außerhalb des Landes. Das kann klingt in mir gut an.
Kassel: Aber das klingt für mich jetzt so, wenn Sie sagen, in der DDR war das Wort so besetzt, da denke ich jetzt sofort an die berühmte deutsch-sowjetische Freundschaft, eine sehr institutionalisierte Sache. War Solidarität in diesem internationalen politischen Sinne, wie Sie es gerade gesagt haben, dann auch was Negatives, wo man das Gefühl hatte, das wird uns aufoktroyiert?
Walther: Tatsächlich glaube ich, dass in dem Solidaritätsbegriff, den ich damals gelernt habe, sowas wie christliche Nächstenliebe enthalten war, also im Sinne von: Wir gucken auf jemanden runter ein Stück weit, uns geht es besser als anderen. Deswegen war das eine deutsch-sowjetische Völkerfreundschaft und nicht eine deutsch-sowjetische Solidaritätsgemeinschaft.
Also die wurden als Brüder und Schwestern angesehen, währenddessen zum Beispiel lateinamerikanische Befreiungskämpfe, mit denen sollte man in Solidarität gehen, und da ging es darum, dass die ja noch in einem Kampf sind, wo sie sozusagen zu einem Sozialismus kommen sollen. Da ging es um Solidarität. So war der Begriff für mich damals besetzt.
Solidarit = Nächstenliebe?
Lucassen: Das finde ich jetzt wirklich lustig. Ich habe mir total verkniffen, mit Nächstenliebe zu argumentieren, weil ich dachte, nein, so christlich bin ich nun auch wieder nicht aufgewachsen.
Walther: Ich auch nicht! Ich glaube, die DDR hat ja versucht, vieles zu ersetzen, weil man ja die Religion raushaben wollte aus dem Leben der Menschen, muss man ja die Dinge dann anders besetzen, und deswegen denke ich gerade, das war, glaube ich, sozusagen ein Wert, der in diesem Solidaritätsbegriff mit drin lag.
Lucassen: Aber das ist lustig. Also viele Sachen, die ich heute als solidarisches Handeln verstehen würde, hätten meine Eltern als Akt der christlichen Nächstenliebe etikettiert, und genau dasselbe gemeint.
Kassel: Zum Beispiel?
Lucassen: Na ja, sowas wie überschüssige Kinder in der Nachbarschaft in sein Haus lassen oder, was weiß ich, den Nachbarn helfen, deren Haus abgebrannt ist, weil sie ihren Weihnachtsbaum, als er schon total trocken war, noch mal angezündet haben. Also wirklich so tätige Nächstenliebe.
Kassel: Aber da kann man doch, glaube ich, sagen, um das zu tun, braucht man weder Religion noch einen Staat, der daraus irgendein Programm macht, oder?
Lucassen: Genau.
Kassel: Das muss doch eigentlich aus einem selber kommen.
Lucassen: Da muss man einfach so ein bisschen anständig sein und nach rechts und links gucken, ja.
Walther: Na ja, aber was ist "aus einem selber"? Also ich glaube, Sozialisation bedeutet ja immer, Werte vermittelt zu kriegen. Das, glaube ich, ist völlig unabhängig von Religion oder Ideologie. Das können die einen oder die anderen sein. Das erlebe ich auch oft heute, wenn ich mit Menschen rede über soziale Gerechtigkeit heute, dass ich immer sage, ja, aber die wichtige Frage ist doch, in welcher Gesellschaft wollen wir leben und nicht nur die Frage, what’s in it for me, wie bin ich am reichsten am Ende des Tages, sondern mir geht es doch nur gut, wenn ich in einer Gesellschaft lebe, in der es vielen gut geht und in der ich mich deswegen auch frei und mit anderen bewegen kann. Da merke ich, das sind schon manchmal sehr unterschiedliche Wertehaltungen, auf die ich da mit anderen treffe.
Lucassen hat She She Pop gegründet
Kassel: Frau Lucassen, Sie haben damals in Gießen – Sie leben inzwischen in Berlin, wie die Zeit vergeht – vor inzwischen 26 Jahren zusammen mit anderen She She Pop gegründet. Man kann lange erklären, was es ist, aber der eigentlich Begriff ist, es ist ein Theaterkollektiv.
Ich stelle mir ja ein Kollektiv, egal, ob es nun Theater macht oder was anderes, relativ solidarisch vor. Ich stelle mir vor, da gibt es weniger Konkurrenz als vielleicht in klassischen Ensembles, man hat mehr den Gedanken, wir ziehen alle am gleichen Strang, man darf seine Stärken einbringen, man darf seine Schwächen zugeben. Also leben Sie heute beruflich, vielleicht auch privat, in einem relativ solidarischen Umfeld?
Lucassen: Ja. Also es lässt sich so einfach sagen, ja. Wir haben das gegründet mit diesem damals ein bisschen komisch klingenden Namen, aber das war programmatisch, nämlich, dass wir als Gleiche unter Gleichen gemeinsam arbeiten und niemand jemandes Chef ist. Natürlich, ja, das handelt von dem Ausspielen der Stärken, die wir alle haben, und vom gemeinsamen Überbrücken der Schwächen, die wir alle haben.
Walther: Ich finde, das merkt man zum Beispiel eurem Stück "Schubladen" ja auch sehr an, dass man als Zuschauerin das Gefühl hat, das ist in einem Prozess derjenigen entstanden, die dort jetzt auf der Bühne stehen, die alle ihre Dinge eingebracht haben. Da hat nicht eine Person sozusagen durchdirigiert, sondern alle bringen ihre Dinge mit ein, ihre Sichtweisen.
Lucassen: Ja, und im Kleinen haben wir das geschafft, was du gerade beschrieben hast, in was für einer Gesellschaft wollen wir leben. Wir haben das zumindest für unser Arbeitsumfeld, unser direktes, durchsetzen können, dass wir da in einem solidarischen, von Gleichheit geprägten Umfeld tätig sein wollen. Wir haben leider noch nicht die Weltherrschaft übernommen und das überall so etabliert, aber zumindest so in 8,50 Meter um uns rum, ja.
Kassel: Wir sind im Gespräch mit der westdeutschen Theatermacherin Lisa Lucassen und mit Kathrin Mahler Walther, die als noch relativ junge Frau – Sie waren nicht mal volljährig – Teil der DDR-Bürgerbewegung war, dort mit am runden Tisch saß. Weil unser Thema die Solidarität ist, habe ich sie gefragt, was sie eigentlich an Solidarität damals in dieser Bürgerbewegung empfunden hat.
Walther: Das war auf jeden Fall ein sehr großes Zusammengehörigkeitsgefühl unter uns, weil wir gemeinsam für eine Sache gekämpft haben, der wir uns verschrieben haben und für die wir alle ja sehr, sehr viel riskiert haben. Willst du Demokratie ja oder nein, und wir wollen sie und wir setzen uns dafür ein mit allem, was uns möglich ist und auch mit all unserer Angst, die wir natürlich hatten vor den Gefahren, die uns damals drohten, und weil wir da so viel auch riskiert haben und gleichzeitig aber auch sehr eng miteinander arbeiten mussten.
Also ich habe gerade dann im Arbeitskreis Gerechtigkeit viel gearbeitet, wir haben konspirativ gearbeitet, also das heißt, man war extrem aufeinander angewiesen, und das war eine ganz, ganz starke Verbindung, die wir miteinander hatten und wo wir uns auch gegenseitig ein Stück weit Familie waren sozusagen, was nicht heißen soll, dass wir uns jetzt wirklich emotional getragen hätten.
Also ich glaube, das sind eher Dinge, die in so einer konspirativen Arbeit gegen eine Diktatur auf der Strecke bleiben. Also da ist ja auch sehr, sehr viel Funktionieren-Müssen miteinander mit im Spiel, aber natürlich haben wir auch uns verliebt und Partys gefeiert und als junge Menschen da auch viel gutes soziales Leben miteinander geführt.
"Schubladen"-Projekt aus Neugier
Kassel: Da waren Sie gerade noch relativ frisch an der Uni in Gießen, Frau Lucassen, als die Mauer fiel, und dann vergingen ein paar Jahre, nämlich vor 26 Jahren wurde dann She She Pop gegründet, Sie waren als Gründungsmitglied damals auch schon dabei, und dann vergingen doch eine ganze Menge Jahre, auch wieder ziemlich viele, und dann muss doch irgendwann zuerst die Idee, bevor es dann wirklich das erste Mal auf die Bühne kam, zu den "Schubladen" entstanden sein.
Ich mogel mich ein bisschen rum, weil ich finde, bei euch, bei eurem Kollektiv kann man nie so richtig sagen: Theaterstück, das trifft es ja irgendwie nicht, aber dieses Projekt, wie kam denn die Idee? War das wirklich auch damals das Gefühl, was mir heute immer noch viele Westler erzählen, nun ist die Mauer gefallen, nun ist das auch schon wieder einige Jahre her, aber eigentlich wissen wir im Westen viel zu wenig über den Osten?
Lucassen: Genau. Also blanke Neugier war der Beweggrund, dieses Ding zu machen. Also wir haben festgestellt, wir wissen ganz wenig, haben dann irgendwie unsere Telefonbücher durchgeguckt und nachgeschaut, wen kennen wir denn überhaupt, der aus dem Osten kommt, und haben uns dann sagen lassen von denen, die wir tatsächlich kannten: ja, ihr seid auch doof, ihr erkennt keine Ostfrau, wenn sie euch vor der Nase steht, da lachen die sich heute noch drüber tot, dass wir einfach den Unterschied nicht sehen.
Kassel: Worin besteht der denn? Ich meine, das klingt ja so, als könne man ihn sehen. Kann man heute noch?
Lucassen: Ich kann es nicht. Das habe ich gelernt.
Kassel: Da wollen wir doch sofort mit einer Betroffenen sprechen. Frau Mahler Walther, könnten Sie das auch, zumindest wird es wahrscheinlich Pannen geben, aber meistens erkennen Sie es?
Walther: Na ja, ich glaube, unter allen Gruppen gibt es sozusagen soziale Codes, die jetzt nicht irgendwo niedergeschrieben sind und die man, wenn man eine gleiche Geschichte teilt, sehr schnell erkennt, wenn die fallen, also bestimmte Worte, bestimmte Bezüge, die man nimmt, und das hört man, also nimmt man sehr schnell wahr im Gespräch, und das lässt sich in der Tat ganz schwer an andere Gruppen transferieren.
Geschlossene Kultur im Osten
Kassel: Ich weiß immer nicht, ich höre das oft, und ich kann das auch so irgendwie aus dem Bauch heraus nachvollziehen, intellektuell schwierig, weil ich frage mich immer, klar, nun haben Menschen in zum Beispiel Sachsen, die haben halt nicht die gleiche Geschichte wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, nun kann man aber ganz banal sagen, die in Schleswig-Holstein haben auch nicht genau die gleiche wie die in Rheinland-Pfalz, und irgendwie ist es ja doch anders. Wieso – und das ist ja so, dazu gibt es relativ glaubwürdige Umfragen –, wieso ist der Unterschied immer noch so groß heute zwischen Ost und West?
Walther: Wo fange ich an, wo höre ich auf. Also zum einen, die DDR war ja ein sehr rigides und geschlossenes System, das heißt, es wurde möglichst viel von dem, was sozusagen vorher bürgerlich deutsch war, abgelöst. Neue Kinder- und Jugendbücher, neue Lieder. Dadurch entsteht auch eine Kultur miteinander, die sich sehr deutlich von westdeutscher Kultur unterscheidet.
Dann die Bezüge sozusagen auf Autorinnen, auf Autoren, auf historische Zahlen, auf Dinge, die, weiß ich nicht, Kindertag, sowas war in der DDR der erste Juni. Gucken mich heute ganz viele verwundert an, hä, wieso erster Juni. Ja, aber wenn man damit aufgewachsen ist, 16 Jahre, 19 Jahre, das hat sich absolut eingeprägt, da hat das ganze Land den Kindertag gefeiert.
Das sind zum Beispiel solche kleinen Codes, woran man tatsächlich heute noch Menschen erkennt, aber wenn wir heute auf diese ganzen Landkarten gucken, egal welche soziökonomischen Faktoren wir untersuchen, dann haben wir in fast allen Dimensionen, die da untersucht werden, immer noch eine sehr klare farbliche Kennzeichnung ostdeutscher Bundesländer und westdeutscher Bundesländer.
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Schleswig-Holstein und Bayern, keine Frage, aber wir sehen, dass es in Ostdeutschland immer noch sehr viele vereinigende Faktoren zwischen diesen sogenannten neuen Bundesländern gibt, die sie als Gruppe deutlich unterscheiden von Westdeutschland.
Alamierende Tendenzen in der Gesellschaft
Kassel: Frau Lucassen, haben Sie den Eindruck – jetzt gehe ich mal weg von dem Wort Solidarität –, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland nachgelassen hat, geringer geworden ist, oder bilden wir das uns nur ein, dieses Ding, dass man oft glaubt, früher war alles besser?
Lucassen: Natürlich gibt es irgendwie so Tendenzen in der Gesellschaft, die alarmierend sind. Also wie sich zum Beispiel die Schere von Einkommen und Erbe auftut und die auch in diese Ost-West-Spaltung, also dass tendenziell die westdeutschen Bürgerstöchter wie ich sich ein bisschen entspannen können mit ihrer Rente, weil sie irgendwann ein Viertel von dieser Doppelhaushälfte erben werden, anders als die ebenso gut ausgebildeten Kolleginnen, die eben nicht erben werden.
Also solche Faktoren gibt es schon von sich auseinanderentwickelnden Teilen der Gesellschaft, aber ich hoffe eigentlich nicht, dass sich das alles entsolidarisiert. In der Blase, in der ich wohne, ist es nicht so, aber außerhalb davon kenne ich mich, ehrlich gesagt, eben auch ganz schlecht aus.
Kassel: Wie ist denn in Ihrer Blase?
Walther: Ich glaube, das war sicher einer der Gründe, warum ich nach Berlin gezogen bin, dass man hier wirklich das Glück hat, auf viele Menschen zu treffen, mit denen man Ideen von einem solidarischen und guten Miteinander leben kann. Wir kritisieren ja heute oft dieses In-Blasen-leben. Ich kann da für mich immer nur sagen, ja, aber genau das hat mich in die große Stadt Berlin gezogen.
Die Entwicklung, die ich da wahrnehme, das geht immer mehr auseinander, und das bedeutet für viele Menschen, dass Abstiegsängste steigen, und wenn Abstiegsängste steigen, sind Menschen oft eher gewillt, sich um ihr eigenes Auskommen zu kümmern, als das sozusagen der Gemeinschaft.
Also damit wird auch eher ein Egoismus in dem Sinne geschürt. Insofern bin ich schon der Ansicht, dass das, was wir an sowohl wirtschaftlichen – Stichwort Neoliberalismus – Entwicklungen als auch politischen Entwicklungen haben, dass das auch etwas mit unserer Gesellschaft macht und eher dazu führt, dass der Zusammenhalt geringer wird.
Gleichzeitig nehme ich aber auch wahr, dass das wiederum auch zusammenschweißt, nämlich genau diejenigen, die das nicht wollen und die da in hoher Alarmbereitschaft versetzt sind und die dann Demos wie "Unteilbar" organisieren in kürzester Zeit, viele kleine Initiativen, die sich lokal, regional dazu organisieren, und das stärkt dann auch wieder den Zusammenhalt.
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