Provokation im Mainstream angekommen
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Vor 30 Jahren wurde "Nevermind" von Nirvana veröffentlicht. Was damals provozierte, ist längst im kulturellen Kanon nicht nur der USA angekommen. Gerichtsprozesse gibt es um die Platte trotzdem noch.
"Nevermind" traf das Lebensgefühl einer Generation, der "Generation X", die gegen Yuppies und Spießertum aufbegehrte. Das sagt Jack Endino, einer der ersten Produzenten von Nirvana.
"'Nevermind' hat 1991 einen kommerziellen Boom in Seattles Musikszene ausgelöst. Bands wie Pearl Jam, Radiohead, Mudhoney oder Soundgarden sind im Fahrwasser von Nirvana auf der Grunge-Welle mitgeschwommen. Viele dieser Bands aus Seattle schafften es bis in die Charts. Aus einer Nischenmusik wurde Mainstream. Das war eine ziemlich abgefahrene Zeit", sagt Endino.
"Smells Like Teen Spirit" wurde zur punkigen Hymne, die den Grunge mit einem Schlag aus der schrabbeligen Westküstennische in die Topränge der Charts beförderte: "Nevermind" verkaufte sich innerhalb weniger Wochen rund zehn Millionen Mal.
Das Album wurde mit Auszeichnungen rund um den Globus überhäuft, Kurt Cobain zum Idol der frühen 1990er-Jahre: Schmuddellook, fettige Haare und Converse-Turnschuhe waren sein Markenzeichen.
Ein Baby im Swimmingpool
Das Plattencover von "Nevermind" war Anklage und Provokation zugleich: ein nacktes, fröhliches Baby, das unter Wasser schwimmt und vergeblich nach einer Dollarnote greift, die an einem Angelhaken hängt.
Das Baby mit den entblößten Genitalien im azurblauen Schwimmbadwasser ist zu einem ikonografischen Bild geworden. Gerade kürzlich ist um das Plattencover ein Rechtsstreit entbrannt: Spencer Elden hat die noch lebenden Bandmitglieder, das Plattenlabel, den Fotografen sowie weitere Personen verklagt.
Der 30-Jährige ist das Baby auf dem Cover. Ihm zufolge sei er damals "zu kommerziellen sexuellen Handlungen gezwungen" worden, die Nacktdarstellung verstoße gegen US-Gesetze. Seine Eltern hätten der Veröffentlichung des Fotos niemals schriftlich zugestimmt.
Jetzt beschäftigt sich das Bundesgericht in Los Angeles mit dem Fall. Elden fordert von jedem der 15 Beklagten 150.000 US-Dollar Schadensersatz wegen "lebenslanger Schäden" und "sexueller Ausbeutung".
Aufstand gegen weichgespülte Rockmusik
Mit seiner charismatischen, von Schwermut gezeichneten Stimme elektrisierte Cobain sein Publikum: mal als sensibler Melancholiker, dann wieder als aggressiver Schreihals.
Cobain und seine Bandmitglieder, der Bassist Krist Novoselic und der brachial losdreschende Schlagzeuger Dave Grohl, probten den Aufstand gegen saubere, weichgespülte Rockmusik. Ihre Texte waren voller Gewaltfantasien wie in "Rape me" – 'vergewaltige mich'.
Auch das sei eine gezielte Provokation gewesen, sagt Megan Jasper, damals Praktikantin, heute CEO von Sub Pop - jenem Independent-Label, bei dem Nirvana zeitweilig unter Vertrag stand: "Wenn man zum Idol einer ganzen Generation wird, dann geht die Persönlichkeit über den Jordan. Man verliert seine menschlichen Qualitäten und am Ende ist man nur noch Projektionsfläche für die Fans."
1994 starb Kurt Cobain
Ganze drei Studioalben veröffentlichte die Band, bevor sich Cobain 1994 mit einer Schrotflinte in den Kopf schoss. Erfolg und Tod gehören zum Mythos: Nirvana ist tot, Kurt Cobain ist tot, "Nevermind" hat sich bis heute über 30 Millionen Mal verkauft.
2004 wurde "Nevermind" von der Library of Congress in Washington DC in ihre Tonsammlung aufgenommen, wegen der kulturellen, historischen und ästhetischen Bedeutung des Albums.
Eine Ehre, die bisher nur wenigen Rockmusikern zuteilwurde. Dabei waren ihnen Ruhm und Establishment verhasst: Heute gehörten Nirvana, Cobain und "Nevermind" zum Kulturkanon nicht nur der USA.