Dagrun Hintze, geboren 1971 in Lübeck, lebt seit 20 Jahren als freie Autorin und Theatermacherin in Hamburg. 2017 erschien ihr Essayband "Ballbesitz - Frauen, Männer und Fußball", 2018 folgte der Lyrikband "Einvernehmlicher Sex", 2019 "Wer was in welcher Nacht träumte - Erzählungen zu Kunst, Design und Architektur".
Schlagabtausch der Klischees
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Vor fast 30 Jahren war die Wiedervereinigung – aber wirklich zusammengewachsen sind Ost und West bislang nicht. Auf beiden Seiten dominieren Befremden und Klischees. Die Schriftstellerin Dagrun Hintze findet, es ist noch nicht zu spät, einander mit Neugier und Respekt zu begegnen.
Blühende Landschaften wurden versprochen. Und dass zusammenwachsen würde, was zusammen gehört. 30 Jahre nach der friedlichen Revolution müssen wir feststellen: Es ist anders gekommen. Die Spaltung, die unsere Gesellschaft durchzieht, verläuft auch entlang der ehemals innerdeutschen Grenze.
Nicht erst seit Chemnitz oder der jüngsten Europawahl stehen Westdeutsche dem Osten oft ratlos gegenüber und wünschen sich insgeheim manchmal die Mauer zurück. Ostdeutsche fragen sich, warum ihre Lebensleistung so selten eine Rolle spielt und Führungspositionen von Wessis besetzt werden, während Autor Uwe Tellkamp "das Ostdeutsche" gleich als neue Identitätskategorie beschwört.
Filme wie "Sonnenallee", "Helden wie wir" oder "Good Bye, Lenin!" prägten schnell das Bild, das sich der Westen von der ehemaligen DDR machte – ein seltsames Land mit seltsamen Ritualen, mit Ampelmännchen und Worten wie "Broiler" oder "Erdmöbel", das nach der Wende vor allem als Stoff für Komödien taugte. Und natürlich ein Land, in dem eine unmündige Bevölkerung sich von alten Männern mit Hut drangsalieren ließ, während man sich gleichzeitig gegenseitig bespitzelte.
Ossis und Wessis hegen ihre Vorurteile weiter
Der Sieg des Kapitalismus und "das Ende der Geschichte" ließen wenig Platz für die Auseinandersetzung mit ostdeutschen Biographien und ostdeutscher Identität. Man ging davon aus, dass "die da drüben" die Angliederung an den Westen ausschließlich als Segen begreifen und sich klaglos ins System einpassen würden, und war dann auch schnell schon genervt vom Solidaritätsbeitrag.
Heute blickt der Westen zunehmend beklommen nach Osten und versucht, Erklärungen zu finden für das, was mit denen "da drüben" nicht stimmt: Sie empfinden sich als "Abgehängte", brauchen einen Staat, der ihnen ihr Leben organisiert, haben Demokratie nicht gelernt und sind nie in Kontakt gekommen mit Menschen anderer Herkunft.
Umgekehrt ist man als Wessi in den neuen Bundesländern ebenso mit Vorurteilen konfrontiert: Die wollen uns immer weiter bevormunden, denen geht's nur ums Geld, und die West‐Frauen können nicht mal Fliesen verlegen, wollen aber unbedingt geheiratet und versorgt werden. Schlechter im Bett sind sie auch.
Schüleraustausch zwischen Ost und West wäre sinnvoll
Abwehr ist oft der erste Reflex, wenn jemand ausspricht, was Not tut. So forderte Helmut Holter, im letzten Jahr Präsident der Kultusministerkonferenz, einen verstärkten Schüleraustausch zwischen Ost‐ und Westdeutschland und formulierte die Überzeugung, dass Ost und West viel zu wenig miteinander redeten über das, was war und was heute ist. Ostdeutsche Erfahrungen müssten in den Westen gebracht werden und umgekehrt. Die sinnvolle Debatte, die daraus hätte erwachsen können, versandete – man hielt Holters Anliegen für "überholt" und meinte, junge Menschen würden die Unterschiede doch längst nicht mehr empfinden.
Wer hingegen den 2018 erschienenen Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" von Lukas Rietzschel liest, stellt schnell fest, dass dort aus einem Land berichtet wird, das kein Westdeutscher kennt. Vielleicht sollten wir also endlich anfangen zu bejahen, dass sich in den Jahrzehnten der deutschen Teilung zwei unterschiedliche Kulturen herausgebildet haben, mit unterschiedlichen Prägungen, unterschiedlichen Wertvorstellungen und unterschiedlichen Codes.
Um sich auf Augenhöhe begegnen zu können, bräuchte es auf beiden Seiten Sensibilität und Respekt, genauso wie Offenheit und Neugier auf "das Fremde". Ein flächendeckendes interkulturelles Training könnte helfen, nur dass im Hinblick auf Ost- und Westdeutschland bis heute kein ausgearbeitetes Format dazu existiert. Kann sich das bitte bald mal jemand ausdenken? Schlimm genug, dass es mit 30 Jahren Verspätung passiert.