35 Jahre Pro Asyl

Geburtsstunde der Geflüchtetenhilfe

09:21 Minuten
Ein junger Mann sitzt in einem Raum mit anderen Personen an einem Tisch.
Der türkische Aktivist Cemal Altun am 30. August 1983 im Gerichtsgebäude in Westberlin, kurz bevor er Suizid begeht. © picture alliance / AP / Elke Bruhn-Hoffmann
Von Constantin Eckner |
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August 1983: Der Aktivist Cemal Altun soll in die Türkei abgeschoben werden. Aus purer Verzweiflung springt er in den Tod. Drei Jahre später gründet sich die Hilfsorganisation Pro Asyl, um den Flüchtlingen in Deutschland eine Lobby zu verschaffen.
30. August 1983: Im Gebäude des Berliner Oberverwaltungsgerichts gegenüber dem Bahnhof Zoo geht das Verfahren von Cemal Altun weiter. Der 23-Jährige ist vor der Militärdiktatur in der Türkei nach Deutschland geflüchtet. Er war dort ein linker Aktivist, hat für Freiheit und Demokratie gekämpft.
Die Militärjunta will ihn zurückhaben, Cemal Altun droht Folter in seiner Heimat. Aber die Bundesrepublik hat seine Auslieferung bewilligt. Nur durch einen Entrüstungssturm der Öffentlichkeit und die Bemühungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte sitzt er noch in Deutschland.
Jetzt soll das Oberverwaltungsgericht Berlin entscheiden. Seit 14 Monaten sitzt er in Moabit in Abschiebehaft. Als die Handschellen abgenommen werden, ruft sein Anwalt Wolfgang Wieland noch: "Cemal, tu’s nicht!"
"Zu Beginn des zweiten Verhandlungstages sprang dann Cemal Altun auf, stürzte zum Fenster und sprang in einem Akt, ohne noch mal innezuhalten oder sich umzusehen, aus dem Fenster heraus. Cemal Altun hatte mir öfters gesagt: Ich muss mich opfern. Wenn sie mich wieder ausliefern wollen, dann bringe ich mich um."


Cemal Altun überlebt den Sturz aus dem sechsten Stock nicht. Die Erschütterung bei Menschenrechtsaktivisten ist groß, die Regierung der Bundesrepublik in Erklärungsnot. Amnesty International schreibt in einer Todesanzeige:
"Die fortschreitende Aushöhlung des Asylrechts und die Atmosphäre der Ausländerfeindlichkeit haben ihm das Vertrauen in das Grundgesetz genommen. Im Alter von 23 Jahren starb er als Opfer einer Politik, die die guten Beziehungen zu den türkischen Militärs über den Schutz eines verfolgten Menschen stellte."
In den Folgetagen – im September 1983 – protestieren Tausende türkischstämmige Einwanderer und Asylbefürworter auf den Straßen Westberlins. Der Tod von Altun befeuert die Debatte um den Umgang mit Asylsuchenden in Westdeutschland. Dazu erklärt Jochen Oltmer, renommierter Migrationsforscher von der Universität Osnabrück:
"Diese enorme mediale Öffentlichkeit, die damals entsteht, ist auch ein wichtiger kurzfristiger Faktor, der einen Beitrag dazu leistet, dass das Thema Asyl zunehmend stärker in der Öffentlichkeit eine Bedeutung hat."
Doch daraus resultiert nicht nur ein politischer Streit um das im Grundgesetz festgeschriebene Asylrecht, sondern auch zivilgesellschaftliches Aufbegehren. Jürgen Quandt leitet zur damaligen Zeit die Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin-Kreuzberg. Er erinnert sich an das Schicksal von Altun und dessen Auswirkungen:
"Es kam zu einer breiten Solidarität mit diesem jungen Mann. Es gab Demonstrationen und Versuche, ihn aus der Auslieferungshaft herauszuholen. Eine der Aktionen war damals ein Hungerstreik, den Menschen im Haus der Gemeinde durchführten. Das war die erste Begegnung der Gemeinde mit diesem Flüchtlingsschicksal. Das endete allerdings sehr tragisch.
Er ist dann auch hier beerdigt worden auf dem Gemeindefriedhof. Das waren die Anfänge. Und sechs Wochen später kam es dann zum ersten Kirchenasyl im Gemeindehaus – die Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge aus dem Libanon."

Kirchenasyl – ein Politikum in der Bundesrepublik

Die Erteilung dieses Kirchenasyls durch Quandt wird zu einem Politikum in der Bundesrepublik. Denn damit setzt sich die Kirchgemeinde de facto über die asylpolitische Zuständigkeit der Behörden hinweg. Es entsteht ein Dilemma für die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, die sich nicht gegen die Kirchen stellen kann, die aber Asylpolitik so restriktiv wie möglich betreiben will.
Doch das Kirchenasyl findet immer mehr Nachahmer. Zu den Gründen meint Migrationsforscher Jochen Oltmer:
"Die neuen sozialen Bewegungen, die es in der Bundesrepublik gibt, Stichwort 1968, entdecken dieses Thema Asyl zunehmend stärker. Wir haben es auch mit einer Politisierung der Kirchen – insbesondere auch der evangelischen Kirche – zu tun. Das zeigt sich dann beispielsweise in der Kirchenasylbewegung. Das zeigt sich auch an der ganz wichtigen Rolle, die protestantische Geistliche beispielsweise im Kontext von Pro Asyl haben."
Vor 35 Jahren – am 8. September 1986 – gründet sich Pro Asyl. In Form einer Bundesarbeitsgemeinschaft schließen sich so Mitarbeiter aus Menschenrechtsorganisationen, Kirchgemeinden und Gewerkschaften zusammen. Sie wollen die zersplitterten kleinen Hilfsangebote, die es in den 80er-Jahren für Geflüchtete gibt, unter einem Dach bündeln und institutionalisieren. Auch, um so politisch eine stärkere Stimme zu haben, um für eine humane Asylpolitik zu kämpfen.
An der Gründung beteiligt ist Günter Burkhardt, der bis heute als Geschäftsführer für Pro Asyl arbeitet.
"Es ging um eine öffentliche Diskussion, die – ich ziehe mal den Vergleich zu heute – auch heute noch oft losgelöst von Fakten geführt wird, und darum, in der Zeit hörbar zu sein. Dass an der Stelle in Deutschland eine Zivilgesellschaft politische Diskurse mitgestaltet, mit Position bezieht und am öffentlichen Leben teilnimmt. Das war die Gründungsidee von Pro Asyl."

Heftige Debatten um das bestehende Asylrecht

Zum Zeitpunkt der Gründung von Pro Asyl im Herbst 1986 ist die politische Auseinandersetzung um das bestehende Asylrecht in Westdeutschland auf einem vorläufigen Höhepunkt angelangt.
In West-Berlin halten sich Zehntausende Asylsuchende auf, von denen viele zuvor von der DDR als Teil eines politischen Machtspiels über die Grenze an der Friedrichstraße geleitet wurden. Zugleich tobt der Bundestagswahlkampf, in welchem besonders Teile von CDU und CSU mit ihrem restriktiven Standpunkt um Stimmen werben. Bayerns Innenminister und CSU-Funktionär Gerold Tandler:
"Ich bin auch der Meinung, dass sich die Not der Erde nicht auf deutschem Boden lösen lässt. Das geht einfach nicht."
Nur weil FDP und auch SPD abblocken, bleibt in den Folgejahren eine Einengung des Grundrechts auf Asyl zunächst aus. Erst Anfang der 90er-Jahre – nachdem Rechtsextreme immer mehr Anschläge auf Asylbewerber verüben – geben Liberale und Sozialdemokraten ihre Position auf und willigen 1993 einer Umformulierung des Grundgesetzartikels 16 ein.
Pro Asyl versucht damals, den politischen Entscheidern deutlich zu machen, dass Teile der Zivilgesellschaft nicht einverstanden sind.
"Der Sprecher der Asylbewegung in Deutschland war Herbert Leuninger, ein katholischer Priester, der sich zur Hälfte freistellen ließ von der katholischen Kirche, damit er unabhängig sprechen kann. Und in der Funktion hat Herbert Leuninger mit der Überzeugungskraft, die hinter seinem Glauben stand, basierend auf einem Menschenrechtsgedanken, der über eine kirchliche Welt hinaus geht, strömungsübergreifend für Pro Asyl Position bezogen – etwa eine fundamentale Rede gehalten vor dem Deutschen Bundestag, als es um die faktische Entkernung des Asylrechts ging, wo er klar und deutlich formulierte: Wir sind der Verfassungsschutz, wir verteidigen die Grundrechte, die Grundwerte, das Recht auf Asyl, das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit."

Es ging damals um Menschenrechte

Nach der Grundgesetzänderung von 1993 nahm die Zahl der in Deutschland eintreffenden Asylsuchenden recht schnell ab und blieb auf diesem Niveau für längere Zeit. Für Pro Asyl endete aber deshalb die Arbeit nicht, sondern wurde internationaler, wie das Gründungsmitglied Günter Burkhardt erklärt:
"Wir haben uns damals verstanden als eine deutsche Menschenrechtsorganisation, die die Grundrechte verteidigt, auch geprägt, dass unser Land in der Nazizeit eine Ursache war für Tod, Vertreibung und Verfolgung. Das hat die Gründungsmission sehr stark geprägt. Diese Skizzierung auf das Grundgesetz, auf das Grundrecht auf Asyl für politische Verfolgte mussten wir öffnen im Hinblick auf Europa.
Ein Meilenstein unserer Entwicklung war dann, das praktisch mit Leben zu füllen. Das taten wir 2007, als mein Kollege Karl Kopp und ich in Griechenland unterwegs waren, als erste europäische NGO dokumentierten, was in Griechenland passiert.
Und wir waren damals auch mit demselben Ansatz wie heute unterwegs auf Lesbos, auf den Inseln, übrigens nicht als Deutsche, sondern gemeinsam mit griechischen Anwält:innen, mit denen wir heute noch im engen Verbund arbeiten, weil immer der Ansatz war, anhand von Einzelfällen die gesamte Misere aufzuzeigen, konkret zu helfen und durchzuprozessieren."
Seit der Gründung von Pro Asyl hat sich die Landschaft der Geflüchtetenhilfe stark verändert. Inwieweit die grundsätzliche Aufnahme- und Hilfsbereitschaft in der Zivilgesellschaft gestiegen ist, bleibt indes auch unter Experten umstritten.
Wegzudenken ist die Geflüchtetenhilfe und damit auch Pro Asyl jedoch nicht mehr. Sie sind wichtige Akteure, sei es in der humanitären Unterstützung, der Rechtsberatung oder der politischen Lobbyarbeit.
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