Cornelia Siebeck: "'Einzug ins verheißene Land'. Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985"
In: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 12 (2015), H. 1
Erlösung durch Erinnerung?
07:06 Minuten
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, so formulierte Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Jahr 1985. Seine Rede markierte einen Wendepunkt in der deutschen Erinnerungspolitik. Doch sie offenbarte auch Ambivalenzen im Umgang mit der NS-Diktatur.
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."
Mit diesen Worten setzt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 neue Maßstäbe für das Erinnern in der Bundesrepublik.
"Und ich würde sagen, dass das durchaus eine antifaschistische Botschaft gewesen ist und dass man das in diesem Sinne auch anerkennen muss", kommentiert Cornelia Siebeck, Historikerin in Berlin, die sich seit vielen Jahren mit dem bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurs beschäftigt.
Breite Zustimmung durch Perspektiven-Vielfalt
Die Deutung des Kriegsendes als Befreiung sowie die Verpflichtung, an den Terror des Nationalsozialismus zu erinnern, sind für sich genommen zum damaligen Zeitpunkt keineswegs neu. Schon Bundespräsident Walter Scheel hatte zehn Jahre zuvor ähnliche Standpunkte formuliert, und Gedenkinitiativen hatten begonnen, die nationalsozialistische Vergangenheit im öffentlichen Raum zu verankern. Durchaus neu war aber die weitreichende Wirkung dieser Rede: Weizsäckers Auftritt im Bundestag stößt auf überparteiliche Zustimmung.
Diese breite Akzeptanz gründet vor allem darin, dass sie verschiedene Perspektiven auf das Kriegsende vereint, meint Cornelia Siebeck:
"Weizsäcker hat dieses antifaschistische Motiv des 8. Mai als 'Tag der Befreiung' aufgenommen, und er hat ein breites Spektrum an Opfern des Nationalsozialismus gewürdigt. Er ist aber gleichzeitig auch ausführlich auf deutsche Leiden durch Krieg und Vertreibung eingegangen und das auch mit großer Empathie. Und vor allem hat er auch dieses Angebot der Erlösung durch Erinnerung gemacht."
Wer erinnert, wird erlöst
"Das Vergessen-Wollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung", sagte Richard von Weizsäcker.
Diese, eigentlich religiös gemeinte Sentenz stammt von dem jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov und ist heute in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem verewigt. Ausgerechnet mit diesem Zitat schlägt der Bundespräsident den Deutschen ein vielsprechendes Tauschgeschäft vor, das das Erinnern an den Nationalsozialismus mit einer demokratischen Erfolgsgeschichte verknüpft:
"Und dieser demokratischen Erfolgsgeschichte können wir uns nach 40 Jahren eben auch wirklich sicher sein – das ist eine ganz zentrale Botschaft dieser Rede. Und daraus folgt, dass wir, indem wir uns der NS-Vergangenheit erinnern, uns gleichzeitig eben auch dieser demokratischen Erfolgsgeschichte vergewissern können", so Cornelia Siebeck.
"Und ich denke, dass es letztlich diese metaphysische Erlösungsperspektive gewesen ist, die diese Rede bis heute so erfolgreich gemacht hat. Also, das Versprechen, dass wir auch etwas dafür kriegen, wenn wir uns erinnern, nämlich Selbstvergewisserung, Versöhnung, Wiedervereinigung."
"Und ich denke, dass es letztlich diese metaphysische Erlösungsperspektive gewesen ist, die diese Rede bis heute so erfolgreich gemacht hat. Also, das Versprechen, dass wir auch etwas dafür kriegen, wenn wir uns erinnern, nämlich Selbstvergewisserung, Versöhnung, Wiedervereinigung."
Nationale Selbstfindung auf Grundlage von Auschwitz?
Weizsäckers Angebot ist aus heutiger Sicht also äußerst zwiespältig: Einerseits verpflichtet er die Deutschen auf eine anhaltende Erinnerung an die NS-Verbrechen: "Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren", heißt es in der Rede.
Gleichzeitig stellt er die Erinnerung an deutsche Verbrechen in den Dienst einer deutschen Selbstbestätigung: Das Gedenken wird nun selbst zur Grundlage einer nationalen Identität.
"Und das ist natürlich, wenn ich so sagen darf, auch eine stockkonservative und vaterländische Perspektive, weil was sie eben meint, ist nicht ein Erinnern zum Zwecke einer andauernden kritischen Selbstreflexion, sondern ein Erinnern, das prinzipiell auf nationale Harmonisierung und Vergemeinschaftung ausgerichtet ist. Und in dem die Deutschen gewissermaßen zu sich finden sollen – und das ausgerechnet auf der Grundlage von Auschwitz, also von Deutschen aufgetürmten Leichenbergen", gibt Siebeck zu bedenken.
Risse im Bild der "erfolgreichen Aufarbeitung"
Die Gefahr dabei: Allem, was ins Bild des erfolgreichen historischen Lernprozesses nicht passt, wird von Öffentlichkeit und Politik wenig Aufmerksamkeit geschenkt, oder es wird zur Ausnahme stilisiert. So, wie es jahrzehntelang selbst mit tödlichen rechten Gewalttaten geschah.
Spätestens aber die Forderung des Thüringer AfD-Chefs Björn Höcke nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" hat gezeigt, dass sich der vermeintliche "Erinnerungskonsens" nach Weizsäcker bei einem Teil der Bevölkerung nicht durchgesetzt hat – ebenso wenig wie die demokratische Läuterung.
Inzwischen scheint diese Erkenntnis auch den seit der Weizsäcker-Rede etablierten Erinnerungsdiskurs zu verändern: Jedenfalls beobachtet Cornelia Siebeck derzeit im öffentlichen Gedenken ein Abrücken vom Narrativ der erfolgreichen Aufarbeitung. Das zeige sich etwa an der Rede, die Bundespräsident Steinmeier zu Beginn dieses Jahres in Yad Vashem gehalten hat:
"I wish I could say, we Germans had learned from history once and for all", formulierte Steinmeier.
Siebeck erläutert: "Da sagt er ja ganz klar: Ich wünschte, ich könnte heute vor Ihnen stehen und sagen, wir Deutschen haben aus der Geschichte gelernt. Aber angesichts eben dieser Hochkonjunktur rechter Gewalt, Antisemitismus, und so weiter kann ich das nicht. Und da, finde ich, zeigt sich schon ein ganz klarer Paradigmenwechsel."
Bekenntnis zu Schuld und Erinnerung als Meilenstein
Allerdings: Bei aller berechtigten Kritik an der Weizsäcker-Rede, bleibt sie mit ihrem Bekenntnis zu Schuld und Erinnerung für Siebeck doch ein Meilenstein.
Das betont auch Siebeck: "Das ist natürlich trotzdem eine Errungenschaft. Und ein Fortschritt, der sehr viel auch ermöglicht hat, eine Gedenkstättenkultur und eine Erinnerungskultur und auch eine Kultur des historischen Lernens zu den NS-Verbrechen, die natürlich on the ground ganz anders aussehen kann, als so eine Politikerrede das darstellt."
Und diese Errungenschaften in Folge der Weizsäcker-Rede gilt es heute, vielleicht mehr denn je gegen rechte Attacken zu verteidigen.