4 Opern in 28 Stunden

Von Bernhard Doppler |
Im US-amerikanischen Städtchen Glimmerglass trifft sich jeden Sommer die Opernszene und der Sängernachwuchs. In diesem Jahr gab es Verdis "La Traviata", Rossinis "La Cenerentola", Purcells "Dido und Aneis" und Menottis "Der Konsul" zu sehen.
Auf einer alten Truthahnfarm nahe Cooperstown am Otsego-See ist 1987 ein Opernhaus errichtet worden. Glimmerglass, ein Ort am See, der auch in James Fennimores Coopers Lederstrumpf-Romanen eine wichtige Rolle spielt. Unter konzentrierten Arbeitsbedingungen werden dort innerhalb von drei Monaten jedes Jahr vier neue Opernproduktionen herausgebracht, das ist sehr ungewöhnlich für den amerikanischen Opernbetrieb, da sonst meist ältere von anderen Theatern eingekaufte Inszenierungen gezeigt werden.

Doch das abgeschiedene Glimmerglass – obwohl gut drei Stunden von den nächsten Großstädten New York und Boston entfernt - ist auf diese Weise im Sommer zu einem Treffpunkt der amerikanischen Opernszene geworden. Vor allem auch durch sein Young Artist Programm, das den Teilnehmern neben Studium, der Übernahme von Chor- und Nebenrollen, eigenen Liederabenden auch viele Auditions bietet. Viele Sänger haben in Glimmerglass als Young Artists begonnen und kehren dann – berühmt – wieder dorthin zurück.

Während Glimmerglass immer neu produziert, werden umgekehrt viele Glimmerglass-Produktionen oft noch viele Jahre später von anderen amerikanischen Opernhäusern eingekauft. Drei von sechs Neuproduktionen der New York City Oper werden 2009/2010 ehemalige Glimmerglass-Produktionen sein (Puccinis "Butterfly", Chapentieres "Etoile" und Händels "Tolmeo").

Diesmal wurden gezeigt: Verdis "La Traviata", Inszenierung J. Miller, Rossinis "La Cenerentola", Inszenierung Kewin Neeburs, Purcells "Dido und Aneis", Inszenierung J. Miller und G.C. Menottis "Der Konsul", Inszenierung S. Helfrich. Vier Opern in 28 Stunden. In Glimmerglass am Otsego-See ist das möglich. Man kann an einem Wochenende hintereinander gleich vier neue Opernproduktionen besuchen. Und es ist seit den 80er-Jahren immer der gleiche Mix: Zuerst eine amerikanische Oper, manchmal eine Uraufführung, dann ein Werk Alter Musik, dann ein populäres und schließlich ein weniger bekanntes Werk – immer in völlig neuen Produktionen.

Zunächst die amerikanische Oper. Sie ist schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt: Gian Carlo Menottis "Der Konsul". Wo und wann dieser kafkaeske Thriller spielt, ist nicht genau auszumachen. In einem sozialistischen totalitären Land in den 50er-Jahren, wie es wohl Menotti dachte, oder heute? Und ist das Konsulat, das sich hinter seiner Bürokratie zurückzieht, ein amerikanisches? In der Inszenierung von Sam Helfrich und im Einheitsbühnenbild von Andrew Liebermann, einem großen 50er-Jahre-Wartesaal, vermischen sich die familiären Nöte und die staatlichen Schikanen. David Agnus, Musikdirektor von Glimmerglass, hat sich mit großer Leidenschaft Menottis Musik angenommen und große Oper mit kräftigen Stimmen dirigiert – etwa Melissa Citro als für ihren Mann im Konsulat kämpfende Magda Sorell, eine Wagner-Heroin. Sentimental und voll Thrill ist Menottis Broadway-Musik, die geschickt auch immer wieder das Tippen der Schreibmaschinen und den Klang eines alten Radios in die Musik mischt.

Zunächst war es nur als halbkonzertante Aufführung angekündigt, aber als sich Jonathan Miller als Regisseur des Werks annahm, ist es die frischeste Produktion von Glimmerglass 2009 geworden: Das Werk Alter Musik, wenngleich nicht wie in Europa sonst üblich auf Originalinstrumenten gespielt, Henry Purcells "Dido und Aeneas". Dido, eine junge Frau auf einer Parkbank, sie trifft dort Aeneas und lässt ihn wieder gehen, kommentiert von einem Chor junger Leute, in einer bis in die kleinsten Gesten ausgeklügelten, immer wieder überraschenden Personenführung. Den Chor stellt das Young Artist Programm, eine Einrichtung, wie es sie in jeder amerikanischen Oper gibt, aber das Young Artist Programm-Glimmerglass, verbunden mit Training, Masterclasses und vielen Auditions gilt als eines der besten im Lande und als wichtiger letzter Schritt für eine Karriere.

Jonathan Miller hat auch "La Traviata" inszeniert, die in Amerika zu den drei beliebtesten Opern überhaupt gehört, Miller inszenierte sie bereits vor 20 Jahren auch in Glimmerglass – doch die Inszenierung 2009 ist nicht nur im Bühnenbild vollkommen neu. Wieder ein sehr intimes psychologisches Kammerspiel, in marmorgetäfelten Räumen bei Kerzenschein. Man könnte sich gut vorstellen, dass Violettas Liebesgeschichte sich hier, in den prunkvollen Villen Neuenglands zugetragen haben könnte. Und aktuell ist sie paradoxerweise gerade deshalb, weil man sich ängstigt, dass die Vaterliebe, die vorgeschützte puritanischen Ehrbegriffe und die finanziellen Hintergründe, so altmodisch sie erscheinen mögen, noch heute 2009 genauso gelten könnten. Mary Dunleeavy – in Europa noch wenig bekannt – ist eine Traviata stimmgewaltig und doch auch von lyrischer Intensität.

Bleibt noch Rossinis "La Cenerentola". In New York zwar bereits 1826 aufgeführt, aber dann wenig und in Glimmerglass noch nie gespielt. Mit Walt Disneys Cinderella sind viele Amerikaner groß geworden. Und auch Regisseur Kewin Newbury zeigt mit "Aschenbrödel" einen amerikanischen Traum – ein wenig ins Milieu der 30er-Jahre gerückt: die Geschichte vom Aufstieg eines Mädchens vom Platz an der Asche zum Traumprinzen. Auf dem Weg dorthin mit dem Zauberer Alidoro: Arbeitslose in der Suppenküche, denen kein Geldinstitut, wie auf einem großen Schild zu lesen ist, mehr helfen kann. Doch auffällige Musiktheater-Regie, als "european trash" verschrien, hält sich 2009 in Glimmerglass in Grenzen. Es sind vielleicht etwas zu hektische, choreographierte komisch paradoxe Lustspielszenen und frische Sängerstimmen, die brillieren, wie John Tessier als Prinz und der tiefe Mezzo von Julie Boulianne als Aschenbrödel.

Krise ist immer: Als in den 80er-Jahren das neue Opernhaus am Otsego See erbaut wurde, meinte man gleichzeitig, die Oper in Amerika sei am Ende. Sicher, auch die aktuelle Wirtschaftskrise macht ein wenig zu schaffen, es gibt, für Glimmerglass ganz ungewöhnlich, auch hin und wieder leere, nicht verkaufte Plätze. Aber nach langen intensiven Proben und dann sieben Wochen Aufführungen, manchmal mehrmals täglich, denkt niemand an Krise. Nach so viel Oper ununterbrochen sind das Orchester und die Young Artists vor allem eines: urlaubsreif.