"Das Gefühl, dass das Erreichte sehr brüchig sein kann"
Auf das 40. Jubiläum des Berliner Christopher Street Day am Samstag in Berlin blickt der Chefredakteur des queeren Magazins "Siegessäule", Jan Noll, mit gemischten Gefühlen. Vor allem wegen des Erstarkens rechtspopulistischer Positionen - auch in der LGBTI-Community selbst.
Mehr als 500.000 Menschen werden heute in Berlin zum Christopher Street Day (CSD) erwartet. Sie werden in einer bunten Parade durch die Innenstadt ziehen, um für einen offenen Umgang mit Geschlechteridentitäten und sexuellen Orientierungen demonstrieren. Umstritten ist in der Community die Teilnahme des US-Botschafters in Berlin, Richard Grenell, der sich zwar offen zum schwulen Leben bekennt, aber seit seiner Berufung als rechtspopulistischer Anhänger des US-Präsidenten Donald Trump agiert.
"Diese Parade ist durchaus nicht frei von Ambivalenzen", sagte der Chefredakteur des queeren Magazins "Siegessäule", Jan Noll, im Deutschlandfunk Kultur. Deshalb gingen auch nicht alle Menschen aus der Community dorthin. "Die LGBTI-Szene ist nun auch nicht die große Familie, die sie von außen betrachtet vielleicht ist", sagte er. Wie in anderen Familien auch gebe es unterschiedliche politische Meinungen.
Ablehnung der AfD
Auch die lesbische AfD-Politikerin Alice Weidel zeige, dass in der Community alle politischen Positionen vertreten seien. Es sei dann ein Problem, wenn bestimmte Politiker und Politikerinnen oder Vertreter von bestimmten Unternehmen sich sehr großflächig präsentierten und die Parade instrumentalisiert werde.
Zu dem Slogan "CSD statt AfD" sagte Noll: "Das ist natürlich eine rechtspopulistische Partei, die massiv in ihrem Wahlprogramm und auch durch die Politik, die sie macht, in der Opposition versucht, Minderheitenrechte einzuschränken." Sie könne für die rechtliche Situation von Schwulen und Lesben nicht gut sein. Im Falle eines konservativen Rückfalls seien zuallererst die Minderheitenrechte in Gefahr. "Dass solchen Leuten auf dem CSD keine Plattform geboten werden sollte, finde ich absolut korrekt", sagte Noll.
Das Interview im Wortlaut:
Axel Rahmlow: In Berlin beginnt in wenigen Stunden der Christopher Street Day, die Demonstration für die Rechte der LGBTI-Gemeinschaft, zu der sich unter anderem Schwule, Lesben, aber auch bi- und transsexuelle Menschen zählen. Das ist ein Jubiläum, zum 40. Mal findet der CSD in Berlin statt, und juristisch hat sich ja viel getan in diesen 40 Jahren: Der berüchtigte Schwulenparagraf ist schon lange abgeschafft, die Ehe ist mittlerweile auch für Schwule und Lesben offen, und 80 Prozent der Deutschen halten es für eine gute Sache.
Gleichzeitig sagen 40 Prozent in einer Studie, wenn sich zwei Männer in der Öffentlichkeit küssen, dann ist das für mich etwas Negatives. Daran hat auch der CSD nichts geändert. Jan Noll ist am Telefon, das möchte ich mit ihm besprechen. Er ist Chefredakteur des Magazins "Siegessäule", dem Berliner Magazin für queere Menschen. Schönen guten Morgen, Herr Noll!
Jan Noll: Schönen guten Morgen!
Rahmlow: Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?
Noll: Na ja, irgendwie ist es ja so, dass es tatsächlich eben eine rechtliche, eine politische Ebene gibt, auf der Politiker*innen Gesetze beschließen, debattieren und so weiter und so fort, und dann gibt es die Lebensrealität der Leute auf der Straße, wo meines Erachtens a) irgendwie ein gewisser gap besteht – also Antidiskriminierungsgesetze et cetera sind natürlich schön, das ändert an der Situation im täglichen Leben meistens aber relativ wenig. Und weshalb es jetzt so ist, dass die gleichen Personen vielleicht die Ehe für alle irgendwie gut finden, aber zwei küssende Männer eklig, ehrlich gesagt, kann ich Ihnen das auch nicht sagen, ich hätte auch gern die Antwort auf solche Fragen.
Rahmlow: Aber das heißt, dass ja zum Beispiel so etwas wie der CSD auch noch viel Potenzial nach oben hat, um Menschen zu erreichen?
Noll: Ja, also ich meine, darüber wird natürlich immer viel geredet irgendwie – was bringt der CSD. Es ist auf der einen Seite natürlich irgendwie eine Möglichkeit für die LGBTI-Community, sichtbar zu werden mit ihren Forderungen, andererseits gab es tatsächlich, glaube ich auch, letztes oder vorletztes Jahr eine Umfrage vom Berliner CSD e.V., das ist der Verein, der den CSD organisiert. Die haben über tausend Leute befragt im Rahmen der Demo, und dann kam am Ende da raus, dass, glaube ich, 70 Prozent der Befragten sich als heterosexuell identifizieren.
Das heißt, die kommen natürlich auch in Solidarität, aber andererseits ist es natürlich für viele auch – es gibt nun die Love Parade nicht mehr und man hat irgendwie in Berlin jetzt so viele Gelegenheiten nicht, mal so auf einer Straße irgendwie eine Party zu feiern. Deswegen ist es gar nicht mal so klar, also mir ist es nicht so klar, warum kommen die Leute: Weil sie sich auch für die Rechte von LGBTI stark machen wollen oder weil sie einfach nur zuschauen wollen, so ein bisschen wie eine Freakshow oder weil sie einfach mitfeiern wollen, aber es ist eigentlich egal, worum es geht. Ich würde aber natürlich sagen, dass die Relevanz des CSD auch nach wie vor oder gerade 2018 ungebrochen ist.
Umstrittene Teilnahme des US-Botschafters
Rahmlow: Aber Ihr Gefühl ist schon, Herr Noll, dass der CSD, der Christopher Street Day, wenn ich das richtig verstanden habe, gekapert worden ist und heute ein Event von vielen ist?
Noll: Na ja, gekapert worden, das klingt gleich wieder so abwertend. Ich würde schon sagen, dass es durchaus möglich ist, eine Veranstaltung wie den Christopher Street Day noch mehr mit politischen Inhalten aufzuladen. Die LGBTI-Szene ist jetzt nun auch nicht die große Familie, die sie von außen betrachtet vielleicht ist, es gibt also auch genauso wie überall anders auch in Familien irgendwie unterschiedliche politische Meinungen. Und da gab es auch so eigentlich seit den 90ern immer wieder auch Kritik am CSD, es wäre alles zu kommerziell und die politischen Botschaften würden dann untergehen neben Wagen von der Deutschen Bank oder was auch immer für große Unternehmen da mitfahren. Also jetzt in diesem Jahr aktuell wird viel debattiert, weil ja die amerikanische Botschaft traditionell dabei ist. Nun haben die gerade einen schwulen Botschafter, der aber relativ rechtskonservativ …
Rahmlow: Richard Grenell.
Noll: Genau. Also diese Parade ist durchaus auch nicht frei von Ambivalenzen, und insofern gehen eben auch nicht alle Menschen aus der Community dort hin.
Rahmlow: Aber ist das ein Problem für die Community, wie Sie das gerade beschrieben haben, dass da zum Beispiel ein Rechtspopulist wie der amerikanische Botschafter Richard Grenell mit dabei ist? Man kann doch auch konservativ oder sehr konservativ und schwul oder lesbisch sein, oder?
Noll: Ja, das sehen wir ja auch an Lesben zum Beispiel, wie Alice Weidel in der AfD, dass natürlich Schwule, Lesben, Trans-, Inter-Menschen alle politischen Positionen vertreten können. Leider ist es so, beziehungsweise Gott sei Dank ist es so. Es ist eben in manchen Fällen natürlich eine politische Meinung, der man sich lieber nicht anschließen möchte.
Und es stellt natürlich ein Problem dar, wenn eben bestimmte Politiker*innen beziehungsweise Vertreter*innen von bestimmten Regierungen, aber auch Vertreter*innen von bestimmten Unternehmen sich auf dem CSD sehr großflächig präsentieren, was natürlich gelesen werden kann als Diversity und ja, wie toll. Mal ins Blaue gesprochen: Nestlé setzt sich ja so schön für seine schwul-lesbischen Mitarbeiter*innen ein, letztendlich ist man dann aber schnell bei so einer Form von Pinkwashing-Debatte, also inwieweit wird auch die LGBTI-Community instrumentalisiert, um sozusagen dem Unternehmen einen möglichst diversen offenen Anstrich zu geben.
Rahmlow: Aber das würde ja bedeuten, dass die Community schon relativ gut angekommen ist, wenn sie jetzt instrumentalisiert wird wie alle anderen auch. Ich möchte noch mal kurz zurückkommen auf Richard Grenell und auf sozusagen Rechtspopulisten, ob schwul oder lesbisch, die sich auch auf dem CSD blicken lassen, die sich dort auch vielleicht engagieren. Es gibt ja gleichzeitig auch morgen den Slogan "CSD statt AfD" – warum soll gerade die AfD so gefährlich sein für die schwul-lesbische Community in Deutschland?
Noll: Das ist natürlich eine rechtspopulistische Partei, die irgendwie massiv in ihrem Wahlprogramm und auch durch die Politik, die sie macht in der Opposition, versucht, irgendwie Minderheitenrechte einzuschränken. Und in einer Partei, die sich gegen die Rechte von bestimmten Minderheiten engagiert, ob das nun geflüchtete Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund sind oder ob es LGBTI sind, die kann eben nicht gut sein für die rechtliche Situation von Schwulen und Lesben, weil natürlich, wenn sich ein konservativer Rollback abzeichnet, dann sind es natürlich als Erstes die Minderheitenrechte, die dann in Gefahr geraten. Und dass solchen Leuten irgendwie auf dem CSD keine Plattform geboten werden sollte, finde ich absolut korrekt.
Keine Plattform für die Partei AfD
Rahmlow: Aber wäre das nicht auch eine Bestärkung zum Beispiel der Schwulen und Lesben innerhalb der AfD, da gibt es ja auch Arbeitskreise und Menschen, die sagen, ich bin schwul oder lesbisch und trotzdem vertrete ich die Position der Partei.
Noll: Also in dem Moment, wo diese Menschen aber auf dem CSD als AfD-Vertreter*innen sichtbar, die können ja als Privatperson da gerne hingehen und sich für LGBTI-Rechte stark machen, was irgendwie an sich schon so ein bisschen absurd ist, aber sollen sie gerne tun. Aber die AfD als Partei dort irgendwie, der eine Plattform zu bieten, um zu suggerieren, sie wäre eine gute Partei, die Schwule, Lesben, Trans- und Inter-Menschen gut und gerne wählen können, weil sie ja so LGBTI-freundlich ist, das halte ich für pervers, ehrlich gesagt, und deswegen sollte diese Partei dort einfach nicht vertreten sein.
Rahmlow: Kommen wir noch mal zurück auf den Zustand der Diskriminierung in Deutschland im Jahr 2018. Wie genau findet denn heute Diskriminierung statt? Ich könnte mir vorstellen, es ist nicht mehr so offensichtlich wie früher, aber wie genau merkt man das?
Noll: Es ist eben die Diskriminierung, die Schwule, Lesben, Trans- und Inter-Menschen im Alltag erleben, also das heißt, natürlich kann man heute nicht mehr abgelehnt werden bei der Bundeswehr oder so, wenn man schwul oder lesbisch ist, also diese institutionalisierte Diskriminierung wird ja sukzessive abgebaut, aber das hilft mir jetzt grundsätzlich auf der Straße nicht.
Wenn ich meinetwegen mit meinem Freund in der Berliner U-Bahn unterwegs bin, bevor ich ihn an die Hand nehme oder bevor ich ihn in der U-Bahn küsse, gehört es wie zu so einer Art verinnerlichtem Reflex, dass man irgendwie einmal mit dem Blick kurz durchs Abteil schweift, um zu gucken, ob da vielleicht jemand rumsitzt, der nach Stress aussieht. Also diese verinnerlichte Habachtstellung, die Schwule, Lesben, Trans- und Inter*innen im öffentlichen Raum internalisiert haben, die weist für mich ganz stark darauf hin, dass sie sich noch nicht vollständig sicher fühlen können im Alltag, und das ist für mich ein existenzieller Punkt, der für mich ganz klar mit Diskriminierung, Alltagsdiskriminierung zu tun hat.
Rahmlow: Glauben Sie, das wird irgendwann anders sein, wenn Sie mit Ihrem Freund in der U-Bahn unterwegs sind?
Noll: Na ja, also angesichts des politischen Klimas in diesem Land würde ich sagen nein. Ich bin 1976 geboren, und was die Emanzipation von LGBTI betrifft, ging es seitdem eigentlich immer sukzessive bergauf, und jetzt erleben wir eine Zeit, wo zum ersten Mal eben das Gefühl dafür entsteht, dass das, was wir erreicht haben, auch sehr brüchig sein kann, weil eine Gesellschaft eben sich doch auch verändern kann. Und deswegen befürchte ich, dass die Tendenz da eher rückläufig sein wird und ich auch in den nächsten 15 Jahren erst recht nicht mehr mit meinem Freund in der U-Bahn knutschen kann.
Rahmlow: Jan Noll, Chefredakteur der "Siegessäule" über den CSD, der heute zum 40. Mal stattfindet in Berlin, der Christopher Street Day. Herzlichen Dank für das Gespräch!