"Für viele Kubaner ein Fenster in die Welt"
Das Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films Havanna ist für Filmfans in Kuba ein Pflichttermin. In diesem Jahr begeht Kuba den 60. Jahrestag seiner Revolution. Passend dazu war auch das Festival diesmal ein sehr politisches, meint Kritiker Wolfgang Martin Hamdorf.
Als vor 40 Jahren das Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films Havanna gegründet wurde, sei es den jungen Filmemachern darum gegangen, eine Gegenposition zu Hollywood zu entwickeln, sagt unser Filmkritiker Wolfgang Martin Hamdorf: "Man wollte dem standardisierten effektreichen Kino lebensnahe Geschichten entgegensetzen."
Beschwörung der gemeinsamen lateinamerikanischen Identität
Hilfe für das Festival kam in 80ern etwa vom Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez, der das Preisgeld für seinen Literatur-Nobelpreis für die Gründung des Festivals stiftete, weil er ein großer Fan des lateinamerikanischen Kinos war. Damals habe man von der "Kolonialisierung der Bilder" gesprochen, so Hamdorf. Dieser "Kolonialisierung der Bilder" habe man etwas entgegensetzen wollen, so Harmdorf. "Ziel war ein unperfektes, poetisches Kino, das die soziale und politische Realität widerspiegelt. Deswegen waren das sehr politische und sozialkritische Filme, die immer auch die gemeinsame lateinamerikanische Identität beschworen haben."
Das Festival sei dann mit der Gründung zu einer Art Fenster in die Welt für die Kubaner geworden, sagt Hamdorf. "Es gibt Leute in Kuba, die nehmen ihren Jahresurlaub, um zu dem Festival zu fahren. Außer lateinamerikanischen Filmen laufen auch Filme aus anderen Teilen der Welt. Auch die werden von den Leuten gern gesehen."
Drama über sexuelle Identität und individuelle Freiheit
Drei kubanische Filme waren in diesem Jahr im Wettbewerb. Einer davon war "Insumisas" (Rebellinnen), sagt Hamdorf: "Das ist die Geschichte einer jungen Frau, Enriqueta Faber, einer Schweizerin, die 1819 als Mann verkleidet nach Kuba einschifft, und dort als Arzt arbeitet."
Fernando Pérez, einer der Altmeister des kubanischen Films, und seine Co-Regisseurin Laura Cazador erzählen in ihrem historischen Drama von sexueller Identität und individueller Freiheit: "Es ist ein wichtiges Thema, auch wenn viele denken mögen, dass die Frauen doch alle Rechte bekommen haben, steckt die Diskriminierung und das Rollenverhalten doch oft tiefer. Ein anderer aktueller Bezug ist die gleichgeschlechtliche Ehe, die jetzt in die Verfassung aufgenommen werden soll und wo sich plötzlich auch heftiger Widerstand regt. Viele Themen aus der Zeit unseres Films sind nach wie vor aktuell, auch wenn man dachte, man hätte sie längst überwunden."
Hauptpreis für ein Drogen- und Familiendrama
Die "Koralle", der Preis für den besten lateinamerikanischen Film des Jahres, ging an "Pajaros de verano" (Zugvögel) von Ciro Guerra und Cristina Gallego. "Das ist ein sehr atmosphärischer Film. Er geht zurück in die 60er und 70er Jahre, er geht ganz stark auf die indigenen Traditionen Kolumbiens ein und ist ein ungewöhnliches Drogen- und Familiendrama über eine indigene Gemeinschaft, die mit dem Drogenhandel groß wird, aber dann immer mehr die eigenen Traditionen verliert und sich am Ende in einer blutigen Familienfehde selbst auslöscht.", so Hamdorf.
Für Cristina Gallego, Co-Regisseurin und Produzentin des Films ist die Geschichte Kolumbiens und Lateinamerikas ein wunderbarer Stoff um die Gegenwart besser zu verstehen: "Es gibt viele Punkte in der Geschichte, die in mir einfach viele Fragen und Zweifel provozieren. Und wenn man sich damit nicht auseinandersetzen will, dann ist das für mich so, als würde man nicht in den Spiegel schauen und nur weil man nicht in den Spiegel schaut, ist man nicht weniger hässlich. Filme, die sich mit der Geschichte auseinandersetzen, zeigen doch dem Zuschauer auch all die Dinge, die man nicht mehr erleben möchte."
Kubanische Filme erhalten Sonderpreis der Jury
Der Publikumspreis des Festivals ging an "Inocencia" (Unschuld) von Alejandro Gil. "Er erzählt eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, die in Kuba sehr bekannt ist: die Hinrichtung von acht Medizinstudenten durch die spanischen Kolonialtruppen am 27. November 1871. Die kubanischen Studenten gelten in Kuba als Märtyrer der Unabhängigkeit, aber zwischen den Zeilen ist der Film auch eine Kritik an ungerechten Haftbedingungen und Justizwillkür schlechthin, die bei den Vorführungen immer wieder zu spontanem Applaus führte und zu standing ovations am Ende des Films, wenn im Abspann noch einmal die Grabplatten der ermordeten Studenten zu sehen sind. Der Film erhielt den Publikumspreis und alle drei kubanischen Filme erhielten gemeinsam einen Sonderpreis der Internationalen Jury", so Hamdorf über den Film.