"Dorf und Turm könnt ihr zerstören, aber nicht unsere Kraft, die es schuf!"
Das Wendland, ein dünn besiedelter Landstrich, damals in den 70ern unmittelbar an der Zonenrandgrenze: Ein idealer Ort für ein atomares Zwischenlager und vielleicht auch ein Endlager. Das dachten Politiker und Betreiber. Doch niemand hatte damit gerechnet, wie lange die Widerständler durchhalten würden - und was sie über Jahrzehnte hinweg erreichen würden.
Im Frühjahr 1978 ist Jürgen Rusche im Wendland unterwegs. Zum ersten Mal berichtet er ausführlich für den Deutschlandfunk über die Pläne, hier, im Zonenrandgebiet ein "Nukleares Entsorgungszentrum" zu bauen. Direkt über dem Salzstock Gorleben:
"Die mittlere Bevölkerungsdichte in der Umgebung des Standortes liegt mit etwa 50 Einwohnern pro Quadratkilometer weit unter dem Durchschnittswert der Bundesrepublik Deutschland von 249 Einwohnern pro Quadratkilometer. Größere Gemeinden befinden sich mit Lüchow, Dannenberg, Salzwedel (DDR) und Wittenberge (DDR) erst in einer Entfernung von 20 Kilometern."
Und Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern gibt es im Umkreis von 50 Kilometern auch nicht. Aus Sicht der niedersächsischen Landeregierung ist es der perfekte Standort für das "Nukleare Entsorgungszentrum". Errichtet werden soll eine Wiederaufbereitungsanlage für hochradioaktive abgebrannte Brennelemente, ein Zwischenlager, eine Brennelementefabrik und - tief unten im Salzstock Gorleben - ein atomares Endlager. Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht verhandelt darüber mit Bundeskanzler Helmut Schmidt. Auch die Bundesregierung macht Druck bei der Suche nach einem Atommüllendlager. Denn ohne den im Atomgesetz festgeschriebenen so genannten "Entsorgungsnachweis" müssten die deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Im Dezember 1978, nach einem Gespräch im Bonner Kanzleramt, verkündet Ministerpräsident Ernst Albrecht die Einigung mit dem Bund:
"Insbesondere freue ich mich, dass nun eine Einigung erfolgt ist hinsichtlich der Kosten einigt sich das Land Niedersachsen mit dem Bund über die Kostenverteilung. Und zwar jener Kosten, die außergewöhnliche Aufwendungen für das Projekt Gorleben darstellen. Wir haben ja ungewöhnlich hohe Prüfungskosten. Wir müssen eine ganz neue Abteilung Bereitschaftspolizei aufstellen, wir müssen Unterkünfte bauen, ähnliches mehr. Dies alles kostet sehr viel Geld."
Und der Bund, so hatte es ihm Bundeskanzler Helmut Schmidt versprochen, werde eine erste große Überweisung nach Niedersachsen schicken. Fürs erste 200 Millionen Euro. Viel Polizei werde nötig sein, um den Standort Gorleben durchzusetzen. Das ahnte Ministerpräsident Ernst Albrecht. Aber nicht, wie lange die linken Protestler durchhalten, und wie viel sie erreichen würden. Im nasskalten Februar 1978 fährt Reporter Jürgen Rusche durch die kahle Landschaft, durch die dichten Wälder des Grafen Andreas von Bernstorff. Ihm gehört der Gartower Forst und damit auch die Abbaurechte am Salz darunter.
Die Geologie des Salzstockes ist nicht optimal
Jürgen Rusche macht sich auf den Weg zu der Stelle, an der der wendländische Widerstand gegen die Atomanlagen zum ersten Mal die Staatsmacht zu spüren bekamen.
"Bundesstraße 493 von Lüchow nach Gartow führt an den Standort heran. Kurz hinter Trebel, linke Hand, eine Waldfläche von rund 12 Quadratkilometern. Doch was heißt 'Wald'? Der Großbrand vor zwei Jahren hat vieles davon vernichtet. Ein tristes Gelände, auf dem straßennah die Bürgerinitiative einen Spiel- und Kletterplatz für Kinder errichtet haben und mit großen, von Schnee und Regen inzwischen aufgeweichten Plakate für ihr Vorhaben werben: 'Wiederaufforsten statt Wiederaufbereiten!'"
Schon damals war klar: die Geologie des Salzstocks ist nicht optimal. Eine durchgehende Tonschicht, wie von Experten gefordert, gibt es nicht, der Salzstock hat auf großer Fläche Kontakt zu wasserführenden Schichten - nicht Geologen, sondern Politiker hatten den Standort in Niedersachsen an der innerdeutschen Grenze ausgesucht.
Genau diese Bohrungen wollten Rebecca Harms, Roswitha Ziegler und ihre Mitstreiter verhindern. Die beiden Frauen blicken auf die Filmbilder vom Juni 1980. "Der Traum von einer Sache" zeigt das Leben in der "Republik Freies Wendland". In dem Hüttendorf, dass dort entstand, wo die Tiefbohrung Nr. 1004 in den Untergrund getrieben werden sollte.
"Die Vorgeschichte dazu ging so, dass wir einfach in einer kleinen Gruppe zusammen gesessen haben und gesagt haben: Wenn wir immer erst dann da hin gehen, auf diese Tiefbohrstellen, wenn die schon mit ihrem Baugerät kommen, dann werden wir immer den Kürzeren ziehen. Schon bevor irgendwas losgeht, müssen wir dahin gehen und den Platz zu unserem machen. Und das haben wir dann ja auch geschafft. Das ist ja - lange bevor geplant war, die Tiefbohrung nieder zu bringen – ist dieser Platz besetzt worden."
Rebecca Harms sitzt heute als Abgeordnete der Grünen im Europaparlament. Ihr Zuhause im winzigen Dorf Dickfeitzen teilt sie sich mit Roswitha und Gerhard Ziegler. Auf dem Flachbildschirm im Produktionsraum der Wendländischen Filmkooperative läuft der "Der Traum von einer Sache". Einer der ersten Filme der Kooperative. Draußen klatscht der Regen in tiefe Pfützen. Luftlinie von hier bis nach Gorleben: 28 Kilometer.
In Zeitlupe fällt der Turm in der Dorfmitte
Über dem Hüttendorf kreisen mächtige olivgrüne Polizeihubschrauber, im Hintergrund wartet schon ein klobiger, graublauer Bulldozer. Stoßweise bläst das schwere Gerät Dieselrauch aus dem Schornstein. Alles in 16 mm, gefilmt mit einer Handkamera.
Rund 2000 Atomkraftgegnern sind von doppelt so vielen Polizisten umstellt. Weiße Helme, dunkelgrüne Overalls, Schlagstöcke. Gegen junge Männer, viele mit Vollbart, langem Haar, Frauen in Latzhosen, mit Zöpfen, Strickpullovern. Sie sind entschlossen, keine Gewalt anzuwenden. Die Polizei schlägt trotzdem zu, die Besetzer werden weggetragen, weggeschleift, in Gewahrsam genommen.
"Man konnte da gar nicht ruhig bleiben. - Und wir hatten ja auch Angst! Das war nicht angstfrei! Ich erinnere mich, dass wir zwar in der Lautsprechergruppe zwar immer die Parole ausgegeben haben: 'Bleibt ruhig!', 'Habt keine Angst!' Aber wir haben geschlottert! - [Ziegler:] Wir haben keine Angst, wir haben keine Angst!" - [Harms:] Gar nicht mal Angst um sich selbst, sondern davor, dass irgendjemandem was passiert in dieser völlig unkalkulierbaren Situation."
Am Ende der Republik Freies Wendland walzt der graublaue Bulldozzer die Hütten platt, langsam, fast in Zeitlupe fällt der zehn Meter Turm in der Dorfmitte, mit ihm ein Transparent: "Dorf und Turm könnt ihr zerstören, aber nicht unsere Kraft, die es schuf!". Im Film schaut die junge Rebecca Harms lange und still zu, in Jeans und T-Shirt, hinter ihr stehen Polizisten vor Absperrgittern und Stacheldraht:
"Es ist schon schwer, daran zu glauben, dass sie unsere Kraft wirklich nicht zerstören können. Denn hier haben sie wirklich alles zerstört..."
"Jetzt, wenn ich mir das so angucke, dachte ich, glaube ich immer: 'Hoffentlich sage ich jetzt nichts Falsches!' [lacht] Also, wir haben während dieser ganzen Wochen gedacht, wir können gewinnen. Und ich habe dann, nachdem die Räumung vorbei war und zwei Nächte geschlafen hatte, da habe zum ersten Mal gedacht: Vielleicht gewinnen wir doch nicht."
Draußen tropft immer noch Regen in die dunklen Pfützen. Die Fahrt geht weiter, raus aus Dickfeitzen, tiefer ins Wendland, durch dichte Wälder, über spiegelnasse Straßen.
Brücken geschlagen zwischen Anarchisten und dem Adel
Nach der brutalen Räumung der "Republik Freies Wendland" rücken die Menschen im Wendland enger zusammen. Nicht mehr nur die aus Hamburg und Berlin zugereisten linksökologischen Gruppen stellen sich gegen die Atompläne in Gorleben. Auch die Alteingesessenen, viele Bauern und Pastoren, Lehrer und Anwälte schließen sich dem Widerstand an. Allen voran Marianne Fritzen, die Gründerin der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. Die Aktivistin schlug Brücken zwischen Anarchisten und erzkonservativen Bauern, zwischen Gewerkschaftlern und dem wendländischen Adel.
Bis zu ihrem Tod vor einem Jahr wohnte sie in ihrem kleinen Haus im wendländischen Kolborn, umgeben von einem wilden, im Laufe der Jahre fast zugewachsenen Garten. Marianne Fritzen war damals, Anfang der 80er Jahre, schon 53 Jahre alt, aktiv in der katholischen Gemeinde. Sie bekam es – wie viele andere Aktivisten – gleich mit dem Verfassungsschutz zu tun, wurde observiert.
"Ich weiß noch: um sieben, frühmorgens, da kam ein Jungbauer und der sagte: 'Hast Du schon gesehen, wie gut Du bewacht wirst heute, morgen? Hast drei Autos um Dich rumstehen, kannst nicht raus!' Ich sage: 'Oh, ist ja nett…!' Sagt er: 'Eins steht oben am Berg, eins steht am Friedhof und das andere steht da.'"
Marianne Fritzen bekommt Drohbriefe, Anrufe, in denen sie beschimpft wird. Sie ist unterwegs auf den Treffen der Bürger-Initiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. Und hilft mit, das Netzwerk der Widerständler zu erweitern.
"Bis auf ein Adelsgeschlecht haben wir alle Adelsgeschlechter aus dem Landkreis in der BI. Oder im Widerstand. Das fing an mit Andreas von Bernstorff. Von Blottnitz, von dem Bussche, die alte Frau von dem Bussche. Und von daher konnte man uns auch nicht dann politisch so in eine Ecke stecken. Das sind die jungen Chaoten, die man aus der Stadt kennt. Weil es wirklich die gestandenen Leute des Landkreises, im wahrsten Sinne des Wortes: die Bürger, die da waren. Ich würde sagen, die anderen haben wir mitgenommen."
Der Konflikt schweißt zusammen. Und zerfrisst gleichzeitig langjährige Freundschaften, entzweit Familien. Vergiftet das Vereinsleben, zerbricht die Vertrautheit der Dorfgemeinschaft und stellt den Zusammenhalt in der Freiwilligen Feuerwehrtruppe in Frage. Überall, im Kegelclub und Kirchenchor, beim Plausch mit dem Bäcker und am Arbeitsplatz verlangt Albrechts Entscheidung für Gorleben von den Menschen, dass sie Stellung beziehen: für oder gegen das Zwischenlager, das Endlager. Für oder gegen Sitzblockaden, Barrikadenbau, Sabotageaktionen. Für oder gegen die Annahme der so genannten Gorleben-Gelder, die in dreistelligen Millionenbeträgen ins Wendland flossen und immer noch fließen. Akzeptanzgelder, Strukturhilfen aus den Kassen des Bundes und der Atomindustrie nennen es die einen. Schmiergeld sagen die anderen und organisieren ihren Protest.
"Gewalt gegen Menschen kommt überhaupt nicht in Frage. Gewalt gegen Sachen – da ist man ganz geteilter Meinung. Ich hätte nie einen Zaun aufgeschnippelt. Aber ich würde sagen, da tue ich keinem Gewalt an."
30 Millionen Euro für die Salzrechte unterhalb des Forstes
Die Wendländer halten sich an diese Devise. Blockieren Straßen, wühlen sich durch geophysikalische und geochemische Gutachten, lernen die Halbwertzeiten von Plutonium, Uran und Strontium, machen eigene Radioaktivitätsmessungen. Sie klagen gegen Demonstrationsverbote, lassen Übergriffe der Polizei von Gerichten überprüfen. Und sie finden einen starken Verbündeten: Andreas Graf von Bernstorff. Ende der 70er Jahre ist er Mitte 30, als ihm über 30 Millionen D-Mark für die Salzrechte unter seinem Forst geboten werden, damit die Lagerstätte im Untergrund vollständig untersucht werden kann. Ministerpräsidenten Ernst Albrecht zählt auf seinen christdemokratischen Parteikollegen. Aber der lehnt ab:
"Ich muss sagen, ich persönlich bin zutiefst erschüttert über die Möglichkeit, dass hier eine der schönsten Gegenden, die wir in Deutschland noch haben, dass die zum Ruhrgebiet der Atomindustrie werden soll. Und darüber hinaus es zur Schuttkuhle der gefährlichsten Abfälle unserer Zivilisation und ich persönlich finde das einfach katastrophal."
30 Jahre später, April 2010. In Gorleben gibt es das oberirdische Zwischenlager, eingelagert sind dort 113 Castorbehälter und nicht die geplanten 420. Das Endlager sollte ursprünglich schon 1999 seinen Betrieb aufnehmen. Stattdessen ist untertage erst ein einziger von neun geplanten Erkundungsbereichen erforscht. Und 2010 galt noch immer das zehnjährige Moratorium, das der grüne Umweltminister Jürgen Trittin dem Projekt verordnet hatte: Zehn Jahre lang wurden keine neuen Stollen ins Salz gesprengt.
Oben im Förderturm des Bergwerks warten Christian Isslinger und Tobias Schmidt vor den Gittertoren der Seilfahrtanlage: dieser Schwerlastfahrstuhl im Schacht 1 des Endlagererkundungsbergwerks befördert bis zu 60 Personen durch den Schacht, trägt 25 Tonnen.
Es geht nach unten. Tobias Schmidt arbeitet für das Bundesamt für Strahlenschutz, kurz BfS. Das Amt ist Betreiberin des Erkundungsbergwerks und untersteht dem Umweltministerium. Christian Islinger ist Geologe und Öffentlichkeitsarbeiter bei der DBE, der "Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern". Fast täglich führte der PR-Profi Besuchergruppen durch die Stollen: Feuerwehrgruppen, Parteienvertreter, Polizisten oder Studenten. Nur die ganz harten Gorleben-Gegner hatten Hausverbot.
"Wir sind jetzt hier in der Hauptseilfahrtanlage vom Schacht 1. Und wir fahren jetzt mit zehn Metern pro Sekunde nach unten auf die 840-Meter-Sohle. Da brauchen wir gut anderthalb Minuten, bis wir unten sind."
Unten angekommen schwenken die Tore auf. Die Luft schmeckt salzig, ist angenehm warm, konstante 28 Grad. Zu Fuß geht es durch den kathedralengroßen Eingangsbereich, die Decke gesichert mit Drahtnetzen, die Wände hellgrau mit einem rötlichen Schimmer.
Schmidt und Islinger besteigen einen schmutzig-gelben, offenen Mercedes-Jeep, brechen auf zu einer Rundfahrt durch den ersten Erkundungsbereich, den "EB eins". Die Scheinwerfer des Jeeps durchleuchten die graue Dunkelheit, Salzstaub wirbelt auf, das Dröhnen schwerer Maschinen erfüllt die Stollen.
Schon 1,5 Milliarden hineingepumpt
Mit dem Moratorium sollte der Kampf um Gorleben befriedet werden. Experten sollten nach gangbaren, konsensfähigen Wegen der Endlagerung suchen. Unter Wahrung des sozialen Friedens, ohne schwere Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Ergebnis dieses "Arbeitskreises Endlager": ein von vornherein transparenter Standortvergleichs soll die Bürger einbinden. Neben Gorleben sollen auch andere Lagerstätten erkundet werden. Christian Islinger bremst den Jeep und hält an. Hinten auf der Pritsche erklärt Tobias Schmidt vom Bundesamt für Strahlenschutz:
"Das war ja ein Ziel des Moratoriums: die Arbeiten hier in Gorleben zunächst einmal zu unterbrechen für mindestens drei, maximal zehn Jahre. Da ging es unter anderem um die Frage: Gibt es denn ein bestimmtes Wirtsgestein, das grundsätzlich besser geeignet ist als andere Wirtsgesteine? Und das Ergebnis ist: Nein, es gibt kein Wirtsgestein, das prinzipiell den anderen Wirtsgesteinen überlegen ist. Das heißt: es könnte durchaus sinnvoll sein, verschiedene Standorte mit verschiedenen Wirtsgesteinen zu vergleichen..."
An einem der Orte, die den Salzstock aus Sicht der Kritiker als Atommülllager disqualifizieren, parkt Isslinger den Wagen, steigt ab, schaltet die Helmlampe an. Da, wo sonst die Stollenwände aus rohem Salz bestehen, ist der Stollen an dieser Stelle mit braungrünen Stahlbögen befestigt. Hier ist er zu sehen, der so genannte Hauptanhydrit: ein brüchiges Gestein, durch das – so die Kritiker – Wasser eindringen könnte.
"Hier an dieser Grenze steht der so genannte Hauptanhydrit, also ein Sulfatgestein. Das hier eine Mächtigkeit hat von rund 50 Metern. Und um hier die Sicherheit zu gewährleisten, haben wir diese Stelle mit Stahlbögen und armiertem Spritzbeton ausgekleidet."
Islinger leuchtet mit der Helmlampe durch den Stollen: die dunklen, rissigen Brocken durchziehen die Salzwände. Liegt hier die Achillesferse des bisher schon 1,5 Milliarden Euro teuren Projekts? Kann hier Wasser eindringen? Geologe Islinger blickt ruhig durch die Gläser seiner randlosen Brille:
"Dieser Hauptanhydrit könnte aufgrund seiner Klüftigkeit eine Wegsamkeit darstellen für Lösungen aus dem Deckgebirge in diese tiefen Bereiche. Das funktioniert aber nicht mehr, weil diese Blöcke nicht mehr zusammenhängend vorliegen!"
Christian Islinger versichert: Hier kann kein Wasser eindringen. Der Geologe klettert zusammen mit Tobias Schmidt zurück in den Jeep, gibt Gas. Gorleben-kritische Geologen beurteilen den Salzstock anders: Demnach gibt es auch an anderen Stellen im Salzstock einen mächtigen Hauptanhydrit, durchlässig für Grundwasser durchzieht er den Salzstock von oben bis in den geplanten Endlagerbereich.
Dazu kommt: Die wasserundurchlässige Tonschicht über dem Salzstock fiel der Elstereiszeit zum Opfer. Vor 350.000 Jahren durchpflügte ein dreitausend Meter hoher Gletscher das Wendland, zerreißt die Tonschicht.
Der Salzstock wird derzeit "eingemottet"
Anderthalb Minuten dauert die Fahrt zurück ans Tageslicht. Mittlerweile gibt es keine Besucher- oder Pressefahrten mehr. Heute laufen im Salzstock die letzten Arbeiten vor dem so genannten Offenhaltungsbetrieb. Der Salzstock wird eingemottet. Und auch an anderen Orten in der Republik soll nach geeigneten Endlagerstandorten gesucht werden. Und neue Castortransporte ins oberirdische Zwischenlager soll es auch nicht mehr geben.
Wie sehr der Widerstand gegen die Atomanlagen die Gegend geprägt hat, erklärt Andreas Graf Bernstorff auf dem breiten Sofa im Kaminzimmer im Gartower Schloss. Neben ihm sitzt sein Sohn Fried.
"Dass ich mich dann verweigert habe – ich habe weder Land verkauft noch die Salzrechte – wurde mir zum Teil auch übelgenommen. Erstmal wurde es mir nicht geglaubt. Die haben gesagt: 'Naja, der Graf, der wartet ab bis er noch mehr Geld kriegt!' Und das hat eigentlich sehr lange gedauert bis das Vertrauen da war, dass ich bei meiner Haltung bleibe. Und andere Kreise hier im Lande, in unserer Samtgemeinde vor allem, die haben mir sehr übelgenommen, dass ich sozusagen den Fortschritt behindere. Die Möglichkeiten mit dem Endlager oder der Wiederaufbereitung. Damit wäre ja sehr viel Geld in die Region gekommen. Das war für mich sehr schmerzlich. Aber diese Art Riss ging ja durch die ganze Gesellschaft. Auch innerhalb von Familien: die Eltern waren dafür, hatten ihre Grundstücke gut verkauft. Und die Kinder waren zum Teil damit gar nicht einverstanden. Das war schon eine sehr, sehr harte Auseinandersetzung!"
Vor zwei Jahren hat Fried Graf Bernstorff die Verantwortung für den Besitz der Familie von seinem Vater übernommen.
"Natürlich ist es eine Bürde. Aber es ist eine Verantwortung, mit der ich aufgewachsen bin. Und das werden wir hier auch nie außer acht lassen. "Was passiert mit Gorleben?" – diese Frage wird immer da sein. Aber ich finde es sehr erfrischend, dass man den Kopf mal ein bisschen freier kriegt, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Ich finde immer die Frage wichtig, was aus den ländlichen Räumen in Deutschland wird. Und wenn uns nicht aktiv da reinknien und gute Vorschläge machen, dann wird das ein Museum. Das, finde ich, ist eine grauenhafte Vorstellung. Deswegen fände ich es total spannend, wenn wir uns Konzepte einfallen lassen, wie man kreative junge Leute aufs Land kriegt. Umso besser, wenn man dafür kein Gorleben braucht!"
Im letzten Jahr rückten in Gorleben die Bagger an. Der Rückbau des Endlagererkundungsbergwerks hat begonnen. Auf den weiten Parkplätzen wächst längst grüner Rasen und auch die fünf Meter hohe, stacheldrahtbewehrte Betonmauer soll fallen. Das Bergwerk wird eingemottet, nicht verfüllt. Deshalb bleibt Wolfgang Ehmke, der langjährige Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg skeptisch. Vor sich einen Cappuccino, Baskenmütze auf dem fast kahlgeschorenen Kopf erklärt er, warum.
"Auf der Oberfläche werden die Anlagen zurückgebaut. Es sollen keine Castoren mehr nach Gorleben rollen. Und dahinter steckt sicherlich auch der Plan, dass man die politische Lage hier beruhigen will. Dass es unglaublich störend war, wenn wir in der Castor-Zeit die Chance hatten, auf das Atommüll-Dilemma insgesamt aufmerksam zu machen und immer wieder sagen zu können, warum Gorleben nicht geht. Und wenn man uns diese Bühne nimmt – so sehen das viele – dann, um im Stillen Gorleben dann doch zu realisieren."
Kein anderer Standort ist in der Diskussion
Zwar hat der Bundestag 2013 mit breiter Mehrheit ein Endlagersuchgesetz beschlossen, dass die Suche nach anderen potentiellen Atommüll-Lagern ebnen soll. Aber dieses Gesetz, so Ehmkes Mitstreiter Mathias Edler, markiert das Gesetz eben keinen Neustart bei der Endlagersuche. Die vielbeschworene "weiße Landkarte" gebe es dabei nicht. Immerhin ist Gorleben trotz der heute schon bekannten Mängel am Salzstock nicht aus dem Rennen genommen worden.
"Paradoxerweise hat man sich nicht einmal darauf einigen können, dass man eine Mindestanzahl an anderen zu untersuchenden Standorten gesetzlich vorschreibt. Das Ende vom Lied ist: bis heute gibt es keinen anderen Standort, der auch nur ansatzweise in der Diskussion wäre. Und die Weichen sind nach wie vor, hinter den Kulissen auf Gorleben gestellt."
Die Beratungen der Endlagerkommission empfanden die Aktivisten aus dem Wendland als Alibi-Veranstaltung, als Nebelkerze – auch wenn viele ihrer Mitglieder gute Arbeit machten und tatsächlich eine neue, offene Endlagersuche anstrebten. Am Ende, so Mathias Edler, verschaffe sich die Bundesregierung auf diese Weise nur Zeit. Daran, dass sie es ernst meint mit einem Neustart der Endlagersuche, glaube er erst, so Edler, wenn tatsächlich die ersten Probebohrungen auf der schwäbischen Alb, in Bayern oder einem der vielen anderen Salzstöcke in Norddeutschland stattfinden. Bis dahin werden die Aktivisten im Wendland weitermachen mit ihrem Kampf gegen die Atomanlagen vor der eigenen Haustür, erklärt BI-Sprecher Wolfgang Ehmke:
"Die Arbeit ist so schwierig geworden, viel schwieriger geworden. Weil es dieses Plakative, Ostentative – "Wenn der Castor rollt!" – nicht mehr gibt. Und trotzdem ist die Bedrohung nicht weg. Wir nehmen das so wahr, dass wir uns tatsächlich jetzt konzentrieren können auf die Dauer-Zwischenlagerung. Ein großes Thema! Man hat das konzipiert so ein Zwischenlager für die Castoren für 35 Jahre. Und wahrscheinlich werden 50, 60, 70 Jahre draus. Das gibt Probleme. Nicht nur hier in Gorleben, sondern das ist bundesweit ein Thema. Und natürlich die Endlagersuche: wir müssen die Endlagerkommission-Sitzungen kritisch und intensiv verfolgen. Aber wir sind auch weiter auf die Straße gegangen. Und wir haben ja nicht zuletzt während der Kulturellen Landpartie mit 8.000 Menschen in Gorleben demonstriert!"
Ein Konflikt, der viel Gutes gebracht hat
Diese alljährlich über Pfingsten stattfindende "Kulturelle Landpartie" ist ein Beispiel für das Konstruktive, das der Konflikt um die Atomkraft im Wendland hervorgebracht hat. Im gesamten Landkreis finden dann Ausstellungen statt, Theateraufführungen, Konzerte oder Kunst-Märkte. Zentren für politische Bildung sind entstanden und auch die Lokalzeitung, die Elbe-Jeetzel-Zeitung, ist spannender zu lesen als die Lokalpresse der Nachbarkreise. Und natürlich wird der Strombedarf des gesamten Landkreises mittlerweile durch regenerative Energien gedeckt.
"Und wir haben hier natürlich Szenetreffs und Theater und Kino. Wir haben eine unglaubliche politkulturelle Dichte im Wendland. Dann gibt es auch Initiativen, die sich um die Integration von Flüchtlingen intensiv kümmern. Und von daher habe ich noch nicht erfahren, dass Leute sich politisch langweilen hier."
"Die Schulauswahl ist größer! Es gibt hier Freie Schulen. Es ist hier wirklich was gewachsen, was unser Leben wirklich so bereichert – wir brauchen keine Castortransporte, um hier glücklich zu leben."
Und wenn in zehn, 15 Jahren, nach einer erfolglosen Suche an anderen Standorten, doch wieder der Salzstock Gorleben ins Visier der Endlagersucher gerät? Wird es dann einfacher werden, diesen Standort durchzusetzen? Ist die widerständische Kultur des Wendlands dann längst vergessen? Der Atomkraftgegner und Bierbrauer Mathias Edler glaubt das nicht:
"Hier hat die dritte Generation seit 1977 auf dem Trecker gesessen und demonstriert. Das ging nahtlos ineinander über. Ich glaube, dass das in der ganzen Bundesrepublik so sein wird. Und vielleicht in Landstrichen weiter im Süden, wo die Mentalität noch ein bisschen – wie soll ich sagen? – kräftiger ausgebildet ist - wenn wir uns an Wackersdorf in Bayern erinnern – da wird das überall auf Knopfdruck so sein, wenn die Leute kein Vertrauen in die Entscheidungen der Politik haben!"