Zirkus als Gesamtkunstwerk
Eine zeitgemäße Mischung aus traditionellen Zirkuselementen und poetischen Einfällen: Am 18. Mai 1976 gab der Circus Roncalli auf der Hofgartenwiese in Bonn seine erste Vorstellung – und ist inzwischen weltberühmt. Doch der Weg zum Erfolg war steinig.
"Da waren Menschen, die man nie gesehen hat, und es gab Pferde, die haben schwarze und weiße Streifen gehabt. Und ich habe einen Elefanten gesehen, Äffchen, und ich habe die ersten geschminkten Frauen meines Lebens gesehen und habe mir gedacht, die haben so eine schöne Haut, wie gibt‘s denn das, und so schöne Haarfarben, na da waren’s gefärbt. Das war wirklich ein Kulturschock für mich. Und da hab ich mir gedacht: So muss das Leben sein. Nicht so schwarz-weiß. Das ist es!"
Als Bernhard Paul in Wilhelmsburg in Niederösterreich zum ersten Mal in seinem Leben eine Zirkusvorstellung besucht, ist er so überwältigt, dass er das Ankündigungsplakat von der Wand reißt und über sein Bett hängt. Es ist das Jahr 1953 und der Sechsjährige weiß: Ich werde Clown! Doch die Eltern, Handwerker mit Bodenhaftung, verlangen mehr Realitätssinn. So studiert der Sohn erst Hoch- und Tiefbau, dann Grafikdesign und macht Karriere als Artdirector, bis er mit Mitte 20 alles hinschmeißt, um sich ganz dem Zirkusleben zu verschreiben.
"Eine Hülle für das Ungewöhnliche"
In dem Wiener Chansonnier und späteren Aktionskünstler André Heller findet er einen "Verrückten", der mitzieht. Beide leeren ihre Konten, erbetteln Spenden und Kredite, kaufen Zirkuswagen, Trecker und ein Zelt für 1.500 Menschen. Erst dann rekrutieren sie Artisten. Auf der ersten Pressekonferenz, im Oktober 1975 beim "Steirischen Herbst", klopfen sie große Sprüche: Ihr Zirkuszelt sei "eine Hülle für das Ungewöhnliche", die "eine Intensivstation der Fantasie" berge. Großspurig ist auch der Name für den Zirkus:"Roncallli". So lautet nämlich der Familienname von Papst Johannes XXIII. Und der "sei immer so clownesk gewesen".
Am 18. Mai 1976 ist es so weit. Circus Roncallli zeigt seine erste Vorstellung als Auftakt des "Bonner Sommers". "Die größte Poesie des Universums", so das Motto, beginnt: Seifenblasen schweben von der Kuppel, der Conférencier befiehlt: "Es werde Zirkus!", Turner aus Marokko bauen Pyramiden, Feuerschlucker befeuern sich um die Wette, und Hsing Tap, ein Zauberer aus China, in Wirklichkeit ein Wiener, holt Enten, Hasen, Blumen und zwei Mädchen im Bikini aus einer Wundervase. Die Akrobaten tragen ungewöhnlich geschmackvolle, aber auch groteske Kostüme und werden wie Märchenfiguren angekündigt: "Der Flammenadjutant des Maharadschas" oder "der Präraffaelitische Wolkenschieber". Alle Kunststücke bilden ein theatralisches Gesamtkunstwerk, bei dem Baudelaire ebenso zitiert wird wie die Bibel. Auch sitzen die Zuschauer bequem wie nie, auf Holzbänken mit teurem Samtbezug und hören endlich wieder richtige Zirkusmusik von einem Live-Orchester.
Die zwei Vorstellungen pro Tag sind ausverkauft, doch auf der anschließenden Deutschlandtournee werden die Zuschauer immer weniger. Als man in Wiesbaden vor fast leeren Bänken spielt, droht der Konkurs. Bernhard Paul überwirft sich mit André Heller und macht alleine weiter. Noch einige Wochen tourt er durch Österreich, dann löst er den Zirkus auf.
Neustart auf dem Kölner Neumarkt
Doch er gibt sich noch nicht geschlagen. In Köln bastelt er zwei Jahre weiter an seinem Traum und erweckt Circus Roncallli am 4. Juni 1980 auf dem Kölner Neumarkt mit der "Reise zum Regenbogen" erneut zum Leben. Diesmal hält der Erfolg an. Roncalli wird zum Inbegriff für eine Erneuerung der Zirkuskunst mit immer neuen Publikumslieblingen, wie dem legendären Clown Pic, der riesengroße Seifenblasen durchs Zelt schweben lässt. Außer einer Pferdedressur zeigt man keine Tiernummern. Zirkusdirektor Bernhard Paul, der als Clown Zippo auch selbst auf der Bühne steht, misstraut dem Zeitgeist:
"Der Zeitgeist ist eigentlich eine Pest. Zeitgeist ist zum Beispiel künstlicher Busen und aufgespritzte Lippen. Zeitgeist ist schlechte Comedy. Man sollte überhaupt dem nicht hinterherhecheln, was angeblich Zeitgeist ist."
Seinen Job als Zirkusdirektor könnte der 69-Jährige an den Nagel hängen. Seine drei Kinder stehen schon zur Nachfolge bereit. Doch noch macht er weiter.
"Die Leute erwarten sich ja Roncalli, und da ist ein Drahtseilakt jedes Mal dabei. Also, ich muss Roncalli bleiben und trotzdem etwas Neues machen. Aber nur besser sein wie beim letzten Mal. Also ein schwieriges Ding, und das jedes Jahr wird’s schwerer."