40 Tage lang nicht lügen
In der Fastenzeit wollte "SZ"-Journalist Jürgen Schmieder auf etwas Ungewöhnliches verzichten. Er wollte 40 Tage weder seine Frau noch seine Kollegen belügen. Er habe das Projekt total unterschätzt, bekennt Schmieder und schrieb über seine Erfahrung ein Buch.
Jürgen König: Studien zufolge lügt jeder Mensch etwa 200 mal am Tag. Dagegen 40 Tage lang, 40 Nächte lang nicht lügen, 40 Tage, 40 Nächte immer die Wahrheit sagen, immer ehrlich sein, das hat sich der Journalist Jürgen Schmieder vorgenommen und auch in die Tat umgesetzt. Das Ergebnis ist jetzt nachzulesen: "Du sollst nicht lügen! Von einem, der auszog, ehrlich zu sein", erschienen bei Bertelsmann. Guten Tag, Herr Schmieder!
Jürgen Schmieder: Guten Morgen, Herr König!
König: Wie schwer ist es Ihnen gefallen, 40 Tage lang radikal ehrlich zu sein?
Schmieder: Sehr schwer, sehr schwer, weil ich dieses Projekt total unterschätzt habe. Ich dachte, ich würde 40 Tage ein bisschen durch die Welt laufen und meine Meinung verbreiten und muss dann schon nach vier, fünf Tagen meine Grenzen erfahren.
König: Gut, über die Grenzen reden wir gleich. Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, 40 Tage lang ehrlich sein zu wollen?
Schmieder: Die "Süddeutsche Zeitung" ist ja mittlerweile so eine Selbsterfahrungszeitung, also der eine schreibt über Bandscheibenvorfälle, der andere übers Hausbauen ...
König: ... und ist Ihr Arbeitgeber.
Schmieder: Genau. Und so ging es in der Redaktionskonferenz über Fastenzeit und Verzicht und wir wollten eben nicht auf die üblichen Verdächtigen, Schokolade und Zigaretten, ausweichen, sondern das Ganze mal einen Schritt weiter, eine Stufe weiter treiben, und irgendwann kamen wir dann auf das Thema Lügen, und da wurde mir gleich deutlich gesagt, das wäre ein Schritt zu weit. Aber ich wollte es dennoch ausprobieren und bin nach Hause zu meiner Frau gelaufen.
König: Und haben ihr das wie verklickert? Schatz, ich lüge jetzt nicht mehr!
Schmieder: Ich habe gesagt, ja, Schatz, ich will in der Fastenzeit nicht lügen. Und sie war alles andere als begeistert, weil sie mir direkt klargemacht hat, dass zu Ehrlichsein ja auch gehören würde, dass ich Teile unseres Privatlebens ausplaudern würde. Und sie hat mir ganz deutlich gemacht, dass wenn ich das tue, kein Privatleben mehr zu haben.
König: Aha, aber Sie sind dennoch drauflosgegangen.
Schmieder: Ja, wie Männer halt so sind, also die Warnungen der Frauen werden eindeutig ignoriert und die Projekte dennoch durchgezogen.
König: Wo fängt für Sie eine Lüge an?
Schmieder: Es fängt schon beim Guten Morgen an, bei einem Menschen, dem man eigentlich Fußpilz wünschen würde. Es geht weiter, wenn man Kollegen trifft und sagt, ich freu mich aufs Meeting, auch wenn man denkt, oh mein Gott, jetzt muss ich mit dir Idiot in dieses Meeting. Aber auch Schweigen kann eine Lüge sein.
König: Also wenn ich etwas, was ich denke, nicht sage, ist das schon gelogen, sagen Sie?
Schmieder: Auf jeden Fall! Also wenn Sie gefragt werden und weichen aus oder sagen nichts dazu oder sich denken, Mensch, dem müsste jetzt mal einer die Meinung geigen, und sagen nichts, dann ist das gelogen.
König: Sie unterscheiden sehr fein zwischen Die-Wahrheit-sagen und Ehrlichsein. Worin liegt da der Unterschied?
Schmieder: Wenn ich sage, Schnee ist weiß, dann ist es ehrlich und ist auch wahr. Auf der anderen Seite, wenn ich sage, Bayern München hat gestern ein gutes Fußballspiel gemacht, dann mag das ehrlich sein, aber ich weiß nicht, ob es wahr ist. Also vielleicht haben sie auch schlecht gespielt, also Ehrlichkeit ist was sehr Subjektives, während Wahrheit objektiv ist.
König: Erzählen Sie doch mal, wie Sie an Ihr Experiment herangegangen sind, also die Anordnung dieses Selbstversuches!
Schmieder: Ich hatte eigentlich keinen Plan, ich habe einfach versucht, 40 Tage drauflos in die Arbeit zu gehen, immer ehrlich zu sein, zu meiner Frau immer ehrlich zu sein, und dachte, das würde dann ein lustiger Text am Ende rauskommen, und habe dann schon nach vier, fünf Tagen festgestellt, dass es sehr schlimm wird, weil ich wurde von meinem besten Freund verprügelt, musste auf der Couch schlafen und habe ans Finanzamt 1700 Euro überwiesen.
König: Weil Sie ehrlich waren bei der Steuererklärung.
Schmieder: Ja.
König: Sie haben jetzt schon zweimal Ihre Frau erwähnt, wie war denn das da? Also ich meine, wenn man sagt, wenn man sich vornimmt, ich lüge jetzt nicht mehr, gesteht man sich damit ja zunächst erst mal ein, dass man bisher auch gelogen hat in Ihrer harten Definition. Wie war das praktisch?
Schmieder: Klar, wir lügen uns gegenseitig täglich an, in jeder Beziehung.
König: Inwiefern, Beispiel?
Schmieder: Das einfachste Beispiel: Findest du meinen Hintern zu dick oder steht mir dieses Kleid? Meistens sagen wir dann, nee, alles in Ordnung, ach super das Kleid, auch wenn wir denken ...
König: Nur um schnell aus dem Geschäft wieder rauszukommen.
Schmieder: Ja eben, und einfach seine Ruhe zu haben. Natürlich, wenn ich anfangen würde und sagen würde, also dein Hintern sieht in diesem Kleid aber nicht besonders toll aus, dann kann ich mich auf einen schrecklichen Abend gefasst machen. Also einfach, man lügt, um seine Ruhe zu haben, um die Beziehung harmonisch verlaufen zu lassen.
König: Und das haben Sie jetzt alles nicht mehr getan?
Schmieder: Ich habe das alles nicht mehr getan, ich habe ihr ehrlich meine Meinung gesagt ...
König: Erzählen Sie mal ein Beispiel dafür!
Schmieder: Wir waren Bikini kaufen.
König: Oh!
Schmieder: Und meine Frau fragte mich, wie sie denn aussieht in diesem Bikini und ich ...
König: Und da haben Sie bitte was gesagt, ich bitte um ein genaues Zitat?
Schmieder: Ich habe gesagt, mit dem Teil willst du wirklich durchs Schwimmbad laufen?
König: Wobei ja die Kritik in diesem Fall am Bikini eher eine Kritik am Inhalt des Bikinis ist.
Schmieder: Ja, das war ja das Schlimme. Also, ich dachte, ich würde den Bikini kritisieren und meine Frau hat das nicht so aufgefasst. Und ich war ja noch fälschlicherweise der Meinung, meine Frau müsste mir dankbar sein, wenn ich ihr abrate, diesen schrecklichen Bikini zu kaufen.
König: War sie aber nicht?
Schmieder: War sie ganz im Gegenteil, also sie war stinksauer und hat den ganzen Einkauf nichts mehr mit mir geredet.
König: Sie schreiben aber auch in Ihrem Buch, Herr Schmieder, dass Ihre Frau von dem Projekt zunächst nicht so begeistert gewesen sei. Das habe sich dann aber mit der Zeit gelegt, auch weil Sie beide durch Ihre Ehrlichkeit einiges über Ihre Beziehung gelernt hätten. Was denn zum Beispiel?
Schmieder: Wir haben gelernt, dass man viele Geheimnisse gar nicht haben müsste. Also, das erste Mal, als ich den Bikini kritisiert habe, war schrecklich für sie. Dann hat sie meine Frisur kritisiert und auch Dinge, die ich falsch mache in der Beziehung. Dann war ich gekränkt. Und mittlerweile sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir erkannt haben, dass Ehrlichkeit uns weiterbringt. Also wir waren auf der Buchmesse, ich habe gesagt, ihr Outfit sieht aus, als käme sie gerade von der Hausfrauengymnastik, und da sagte sie, deine Frisur schaut aus, als würdest du im Prinz-Eisenherz-Film mitspielen. Wir ...
König: Reizende Konversation!
Schmieder: Ja, aber wir waren beide nicht sauer, sondern haben was dagegen getan und sind als glückliches Paar auf die Buchmesse gegangen. Also es war wunderbar.
König: Ja, ist doch toll! Also das heißt, was haben Sie gewonnen für sich selber durch diesen Versuch?
Schmieder: Ehrlichkeit zu sehr viel Menschen in meinem näheren Umfeld. Also dieses berühmte reinigende Gewitter oder dieses Reinen-Tisch-Machen gab es nicht nur mit meiner Frau, sondern mit Kollegen, Freunden, meiner Familie. Wir haben sehr viel ehrliche Gespräche geführt, in denen ich sehr viel über mich erfahren habe, was andere Menschen von mir denken, und die haben auch erfahren, was ich von ihnen denke. Und nachdem dieser erste Ärger, dieses erste Gekränktsein gelegt war, haben sich all diese Beziehungen meiner Meinung nach sehr vertieft.
König: Aber einmal haben Sie auf dem Sofa geschlafen, haben Sie gesagt.
Schmieder: Ja, mehrere Male.
König: Weil es so einen Streit gegeben hatte?
Schmieder: Ja. Also natürlich, keiner hört gern, dass er nicht so hübsch ist, wie er denkt, dass er nicht so toll ist, wie er denkt, dass er nicht so intelligent ist, wie man sich hält. Aber wenn diese erste Kränkung mal gelegt ist, erkennt man von sich selber: Mensch, es stimmt, ich habe echt eine Prinz-Eisenherz-Frisur oder ich bin doch nicht so gut wie der Kollege. Und wenn man diesen ersten Ärger mal verdaut hat, dann wird es besser.
König: Das klingt jetzt aber so, als ob Sie, was anfangs ein beruflicher, ja Gag war, kann man ja schon fast sagen, als ob Sie durch dieses ganze Unternehmen letztlich doch, ich will nicht gleich sagen ein völlig anderer Mensch geworden sind, aber schon etwas Grundlegendes erfahren haben dabei?
Schmieder: Auf jeden Fall. Also wie gesagt, ich lüge natürlich wieder und ich finde manche Lügen ganz formidabel, aber ich ...
König: Das klingt so, als würden Sie jetzt beschreiben, Sie hätten mit dem Rauchen wieder angefangen: Jetzt lügen Sie wieder. Warum?
Schmieder: Weil ich manche Lügen ganz, ganz toll finde. Also die Lüge zum Beispiel heute Morgen, als ich in den Spiegel sah und mir sagte, Schmieder, du siehst gut aus, finde ich eine ganz tolle Lüge.
König: Sind das nicht mehr so Selbstbetrügereien?
Schmieder: Die gehören aber zum Leben dazu. Auch der Betrug, wenn ich meiner Nichte sage, klar schaffst du die Führerscheinprüfung, obwohl ich mir eigentlich denke, oh mein Gott, das wird ganz hart!
König: Besser wäre es, wenn nicht.
Schmieder: Ja, also wenn ich ihr aber sage, na du fällst sowieso durch, was erreiche ich denn damit? Die arme Nichte ist vollkommen am Boden zerstört und fällt wahrscheinlich wirklich durch. Also solche Lügen, die keinem schaden und einem anderen Menschen nützen, finde ich ganz, ganz toll, aber auf der anderen ...
König: Und innerhalb der Beziehung, innerhalb der Kollegenschaft, sind Sie da auch wieder zum Lügen übergegangen?
Schmieder: Ja, auf jeden Fall. Ich habe ja von einer Kollegin eine Liste mit Fragen bekommen, die so harmlos begannen wie: Wie ist dein Jahresverdienst? Die aber dann auch endeten: Welchen Kollegen würdest du gern entlassen?
König: Ja gut, damit hält man sich vielleicht schon zurück. Aber in Ihrer Ehe würde ich doch hoffen, dass Sie die Selbstveränderung, die Sie nun erlebt haben, nun auch weiterführen?
Schmieder: Auf jeden Fall. Also wie gesagt, wir führen glaube ich eine ehrlichere Beziehung als vorher und wir haben gemerkt, dass wir auch eine glücklichere Beziehung führen als vorher.
König: Ja. Was haben denn die Kollegen bei der "Süddeutschen Zeitung" dazu gesagt und gleich noch eine Frage hintendran: Sehen Ältere vielleicht Ihre Erfahrungen genau so oder ganz anders?
Schmieder: Die Kollegen waren am Anfang sehr, sehr negativ. Als ich verkündet habe, ich würde das Experiment gern durchziehen, haben sie gesagt, na dann komm am besten nicht ins Büro. Ich habe es dann dennoch durchgezogen. Manche Kollegen waren pikiert, gekränkt, sind mir aus dem Weg gegangen. Andere Kollegen dagegen kamen explizit zu mir, um eine ehrliche Meinung zu bekommen, weil sie wussten, der Typ ist jetzt ehrlich und der schleimt mich nicht an. Zu den älteren Menschen weiß ich nicht, also ältere Menschen haben natürlich mehr Lebenserfahrung als ich ...
König: Ältere Kollegen, meinte ich jetzt.
Schmieder: Tut man sich sehr schwer, weil jemand, der 20 Jahre älter ist, 20 Jahre länger in diesem Beruf, der lässt sich natürlich nicht von einem 30-jährigen Frischling gerne kritisieren. Deshalb gab es da schon die härteren Momente als vielleicht mit Kollegen, die genauso alt sind wie ich, mit denen man sich eher kumpelhaft unterhaltet als kollegial.
König: Ja. Gut, also alles zusammen ein Experiment, von dem ich glaube, dass man es weiterempfehlen kann?
Schmieder: Also ich würde jetzt keinem empfehlen, 40 Tage radikal ehrlich zu sein.
König: Würden Sie doch nicht empfehlen? Warum nicht?
Schmieder: Weil bei mir ging alles gut, ich bin noch verheiratet, ich darf noch ins Elternhaus, aber es war oftmals doch ein sehr, sehr schmaler Grat. Und noch einen Schritt weiter und vielleicht wäre die Beziehung zu meinem Vater total gestört gewesen. Das muss jeder für sich selber entscheiden. Aber ich würde es jedem empfehlen, zumindest mal vielleicht eine Woche zu probieren oder ein paar Tage und zu sehen, wo er an die Grenzen stößt.
König: Vielen Dank! "Du sollst nicht lügen! Von einem, der auszog, ehrlich zu sein". Das Buch von Jürgen Schmieder ist im Verlag C. Bertelsmann erschienen. Wenn Sie Jürgen Schmieder erleben wollen, er liest. Er ist auf Lesereise, liest heute Abend im Literaturbüro Hannover. Herr Schmieder, alles Gute für Sie und für Ihr Buch!
Schmieder: Vielen Dank!
Jürgen Schmieder: Guten Morgen, Herr König!
König: Wie schwer ist es Ihnen gefallen, 40 Tage lang radikal ehrlich zu sein?
Schmieder: Sehr schwer, sehr schwer, weil ich dieses Projekt total unterschätzt habe. Ich dachte, ich würde 40 Tage ein bisschen durch die Welt laufen und meine Meinung verbreiten und muss dann schon nach vier, fünf Tagen meine Grenzen erfahren.
König: Gut, über die Grenzen reden wir gleich. Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, 40 Tage lang ehrlich sein zu wollen?
Schmieder: Die "Süddeutsche Zeitung" ist ja mittlerweile so eine Selbsterfahrungszeitung, also der eine schreibt über Bandscheibenvorfälle, der andere übers Hausbauen ...
König: ... und ist Ihr Arbeitgeber.
Schmieder: Genau. Und so ging es in der Redaktionskonferenz über Fastenzeit und Verzicht und wir wollten eben nicht auf die üblichen Verdächtigen, Schokolade und Zigaretten, ausweichen, sondern das Ganze mal einen Schritt weiter, eine Stufe weiter treiben, und irgendwann kamen wir dann auf das Thema Lügen, und da wurde mir gleich deutlich gesagt, das wäre ein Schritt zu weit. Aber ich wollte es dennoch ausprobieren und bin nach Hause zu meiner Frau gelaufen.
König: Und haben ihr das wie verklickert? Schatz, ich lüge jetzt nicht mehr!
Schmieder: Ich habe gesagt, ja, Schatz, ich will in der Fastenzeit nicht lügen. Und sie war alles andere als begeistert, weil sie mir direkt klargemacht hat, dass zu Ehrlichsein ja auch gehören würde, dass ich Teile unseres Privatlebens ausplaudern würde. Und sie hat mir ganz deutlich gemacht, dass wenn ich das tue, kein Privatleben mehr zu haben.
König: Aha, aber Sie sind dennoch drauflosgegangen.
Schmieder: Ja, wie Männer halt so sind, also die Warnungen der Frauen werden eindeutig ignoriert und die Projekte dennoch durchgezogen.
König: Wo fängt für Sie eine Lüge an?
Schmieder: Es fängt schon beim Guten Morgen an, bei einem Menschen, dem man eigentlich Fußpilz wünschen würde. Es geht weiter, wenn man Kollegen trifft und sagt, ich freu mich aufs Meeting, auch wenn man denkt, oh mein Gott, jetzt muss ich mit dir Idiot in dieses Meeting. Aber auch Schweigen kann eine Lüge sein.
König: Also wenn ich etwas, was ich denke, nicht sage, ist das schon gelogen, sagen Sie?
Schmieder: Auf jeden Fall! Also wenn Sie gefragt werden und weichen aus oder sagen nichts dazu oder sich denken, Mensch, dem müsste jetzt mal einer die Meinung geigen, und sagen nichts, dann ist das gelogen.
König: Sie unterscheiden sehr fein zwischen Die-Wahrheit-sagen und Ehrlichsein. Worin liegt da der Unterschied?
Schmieder: Wenn ich sage, Schnee ist weiß, dann ist es ehrlich und ist auch wahr. Auf der anderen Seite, wenn ich sage, Bayern München hat gestern ein gutes Fußballspiel gemacht, dann mag das ehrlich sein, aber ich weiß nicht, ob es wahr ist. Also vielleicht haben sie auch schlecht gespielt, also Ehrlichkeit ist was sehr Subjektives, während Wahrheit objektiv ist.
König: Erzählen Sie doch mal, wie Sie an Ihr Experiment herangegangen sind, also die Anordnung dieses Selbstversuches!
Schmieder: Ich hatte eigentlich keinen Plan, ich habe einfach versucht, 40 Tage drauflos in die Arbeit zu gehen, immer ehrlich zu sein, zu meiner Frau immer ehrlich zu sein, und dachte, das würde dann ein lustiger Text am Ende rauskommen, und habe dann schon nach vier, fünf Tagen festgestellt, dass es sehr schlimm wird, weil ich wurde von meinem besten Freund verprügelt, musste auf der Couch schlafen und habe ans Finanzamt 1700 Euro überwiesen.
König: Weil Sie ehrlich waren bei der Steuererklärung.
Schmieder: Ja.
König: Sie haben jetzt schon zweimal Ihre Frau erwähnt, wie war denn das da? Also ich meine, wenn man sagt, wenn man sich vornimmt, ich lüge jetzt nicht mehr, gesteht man sich damit ja zunächst erst mal ein, dass man bisher auch gelogen hat in Ihrer harten Definition. Wie war das praktisch?
Schmieder: Klar, wir lügen uns gegenseitig täglich an, in jeder Beziehung.
König: Inwiefern, Beispiel?
Schmieder: Das einfachste Beispiel: Findest du meinen Hintern zu dick oder steht mir dieses Kleid? Meistens sagen wir dann, nee, alles in Ordnung, ach super das Kleid, auch wenn wir denken ...
König: Nur um schnell aus dem Geschäft wieder rauszukommen.
Schmieder: Ja eben, und einfach seine Ruhe zu haben. Natürlich, wenn ich anfangen würde und sagen würde, also dein Hintern sieht in diesem Kleid aber nicht besonders toll aus, dann kann ich mich auf einen schrecklichen Abend gefasst machen. Also einfach, man lügt, um seine Ruhe zu haben, um die Beziehung harmonisch verlaufen zu lassen.
König: Und das haben Sie jetzt alles nicht mehr getan?
Schmieder: Ich habe das alles nicht mehr getan, ich habe ihr ehrlich meine Meinung gesagt ...
König: Erzählen Sie mal ein Beispiel dafür!
Schmieder: Wir waren Bikini kaufen.
König: Oh!
Schmieder: Und meine Frau fragte mich, wie sie denn aussieht in diesem Bikini und ich ...
König: Und da haben Sie bitte was gesagt, ich bitte um ein genaues Zitat?
Schmieder: Ich habe gesagt, mit dem Teil willst du wirklich durchs Schwimmbad laufen?
König: Wobei ja die Kritik in diesem Fall am Bikini eher eine Kritik am Inhalt des Bikinis ist.
Schmieder: Ja, das war ja das Schlimme. Also, ich dachte, ich würde den Bikini kritisieren und meine Frau hat das nicht so aufgefasst. Und ich war ja noch fälschlicherweise der Meinung, meine Frau müsste mir dankbar sein, wenn ich ihr abrate, diesen schrecklichen Bikini zu kaufen.
König: War sie aber nicht?
Schmieder: War sie ganz im Gegenteil, also sie war stinksauer und hat den ganzen Einkauf nichts mehr mit mir geredet.
König: Sie schreiben aber auch in Ihrem Buch, Herr Schmieder, dass Ihre Frau von dem Projekt zunächst nicht so begeistert gewesen sei. Das habe sich dann aber mit der Zeit gelegt, auch weil Sie beide durch Ihre Ehrlichkeit einiges über Ihre Beziehung gelernt hätten. Was denn zum Beispiel?
Schmieder: Wir haben gelernt, dass man viele Geheimnisse gar nicht haben müsste. Also, das erste Mal, als ich den Bikini kritisiert habe, war schrecklich für sie. Dann hat sie meine Frisur kritisiert und auch Dinge, die ich falsch mache in der Beziehung. Dann war ich gekränkt. Und mittlerweile sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir erkannt haben, dass Ehrlichkeit uns weiterbringt. Also wir waren auf der Buchmesse, ich habe gesagt, ihr Outfit sieht aus, als käme sie gerade von der Hausfrauengymnastik, und da sagte sie, deine Frisur schaut aus, als würdest du im Prinz-Eisenherz-Film mitspielen. Wir ...
König: Reizende Konversation!
Schmieder: Ja, aber wir waren beide nicht sauer, sondern haben was dagegen getan und sind als glückliches Paar auf die Buchmesse gegangen. Also es war wunderbar.
König: Ja, ist doch toll! Also das heißt, was haben Sie gewonnen für sich selber durch diesen Versuch?
Schmieder: Ehrlichkeit zu sehr viel Menschen in meinem näheren Umfeld. Also dieses berühmte reinigende Gewitter oder dieses Reinen-Tisch-Machen gab es nicht nur mit meiner Frau, sondern mit Kollegen, Freunden, meiner Familie. Wir haben sehr viel ehrliche Gespräche geführt, in denen ich sehr viel über mich erfahren habe, was andere Menschen von mir denken, und die haben auch erfahren, was ich von ihnen denke. Und nachdem dieser erste Ärger, dieses erste Gekränktsein gelegt war, haben sich all diese Beziehungen meiner Meinung nach sehr vertieft.
König: Aber einmal haben Sie auf dem Sofa geschlafen, haben Sie gesagt.
Schmieder: Ja, mehrere Male.
König: Weil es so einen Streit gegeben hatte?
Schmieder: Ja. Also natürlich, keiner hört gern, dass er nicht so hübsch ist, wie er denkt, dass er nicht so toll ist, wie er denkt, dass er nicht so intelligent ist, wie man sich hält. Aber wenn diese erste Kränkung mal gelegt ist, erkennt man von sich selber: Mensch, es stimmt, ich habe echt eine Prinz-Eisenherz-Frisur oder ich bin doch nicht so gut wie der Kollege. Und wenn man diesen ersten Ärger mal verdaut hat, dann wird es besser.
König: Das klingt jetzt aber so, als ob Sie, was anfangs ein beruflicher, ja Gag war, kann man ja schon fast sagen, als ob Sie durch dieses ganze Unternehmen letztlich doch, ich will nicht gleich sagen ein völlig anderer Mensch geworden sind, aber schon etwas Grundlegendes erfahren haben dabei?
Schmieder: Auf jeden Fall. Also wie gesagt, ich lüge natürlich wieder und ich finde manche Lügen ganz formidabel, aber ich ...
König: Das klingt so, als würden Sie jetzt beschreiben, Sie hätten mit dem Rauchen wieder angefangen: Jetzt lügen Sie wieder. Warum?
Schmieder: Weil ich manche Lügen ganz, ganz toll finde. Also die Lüge zum Beispiel heute Morgen, als ich in den Spiegel sah und mir sagte, Schmieder, du siehst gut aus, finde ich eine ganz tolle Lüge.
König: Sind das nicht mehr so Selbstbetrügereien?
Schmieder: Die gehören aber zum Leben dazu. Auch der Betrug, wenn ich meiner Nichte sage, klar schaffst du die Führerscheinprüfung, obwohl ich mir eigentlich denke, oh mein Gott, das wird ganz hart!
König: Besser wäre es, wenn nicht.
Schmieder: Ja, also wenn ich ihr aber sage, na du fällst sowieso durch, was erreiche ich denn damit? Die arme Nichte ist vollkommen am Boden zerstört und fällt wahrscheinlich wirklich durch. Also solche Lügen, die keinem schaden und einem anderen Menschen nützen, finde ich ganz, ganz toll, aber auf der anderen ...
König: Und innerhalb der Beziehung, innerhalb der Kollegenschaft, sind Sie da auch wieder zum Lügen übergegangen?
Schmieder: Ja, auf jeden Fall. Ich habe ja von einer Kollegin eine Liste mit Fragen bekommen, die so harmlos begannen wie: Wie ist dein Jahresverdienst? Die aber dann auch endeten: Welchen Kollegen würdest du gern entlassen?
König: Ja gut, damit hält man sich vielleicht schon zurück. Aber in Ihrer Ehe würde ich doch hoffen, dass Sie die Selbstveränderung, die Sie nun erlebt haben, nun auch weiterführen?
Schmieder: Auf jeden Fall. Also wie gesagt, wir führen glaube ich eine ehrlichere Beziehung als vorher und wir haben gemerkt, dass wir auch eine glücklichere Beziehung führen als vorher.
König: Ja. Was haben denn die Kollegen bei der "Süddeutschen Zeitung" dazu gesagt und gleich noch eine Frage hintendran: Sehen Ältere vielleicht Ihre Erfahrungen genau so oder ganz anders?
Schmieder: Die Kollegen waren am Anfang sehr, sehr negativ. Als ich verkündet habe, ich würde das Experiment gern durchziehen, haben sie gesagt, na dann komm am besten nicht ins Büro. Ich habe es dann dennoch durchgezogen. Manche Kollegen waren pikiert, gekränkt, sind mir aus dem Weg gegangen. Andere Kollegen dagegen kamen explizit zu mir, um eine ehrliche Meinung zu bekommen, weil sie wussten, der Typ ist jetzt ehrlich und der schleimt mich nicht an. Zu den älteren Menschen weiß ich nicht, also ältere Menschen haben natürlich mehr Lebenserfahrung als ich ...
König: Ältere Kollegen, meinte ich jetzt.
Schmieder: Tut man sich sehr schwer, weil jemand, der 20 Jahre älter ist, 20 Jahre länger in diesem Beruf, der lässt sich natürlich nicht von einem 30-jährigen Frischling gerne kritisieren. Deshalb gab es da schon die härteren Momente als vielleicht mit Kollegen, die genauso alt sind wie ich, mit denen man sich eher kumpelhaft unterhaltet als kollegial.
König: Ja. Gut, also alles zusammen ein Experiment, von dem ich glaube, dass man es weiterempfehlen kann?
Schmieder: Also ich würde jetzt keinem empfehlen, 40 Tage radikal ehrlich zu sein.
König: Würden Sie doch nicht empfehlen? Warum nicht?
Schmieder: Weil bei mir ging alles gut, ich bin noch verheiratet, ich darf noch ins Elternhaus, aber es war oftmals doch ein sehr, sehr schmaler Grat. Und noch einen Schritt weiter und vielleicht wäre die Beziehung zu meinem Vater total gestört gewesen. Das muss jeder für sich selber entscheiden. Aber ich würde es jedem empfehlen, zumindest mal vielleicht eine Woche zu probieren oder ein paar Tage und zu sehen, wo er an die Grenzen stößt.
König: Vielen Dank! "Du sollst nicht lügen! Von einem, der auszog, ehrlich zu sein". Das Buch von Jürgen Schmieder ist im Verlag C. Bertelsmann erschienen. Wenn Sie Jürgen Schmieder erleben wollen, er liest. Er ist auf Lesereise, liest heute Abend im Literaturbüro Hannover. Herr Schmieder, alles Gute für Sie und für Ihr Buch!
Schmieder: Vielen Dank!