"Eine neue Konzeption, was Menschen sind"
Ob Shakespeare und Cervantes wirklich am selben Tag gestorben sind, ist umstritten. Fest steht: Beide haben die europäische Literatur entscheidend geprägt. Was den besonderen Reiz der Autoren ausmacht, erläutert der Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht.
Miguel de Cervantes und William Shakespeare, deren Tod vor 400 Jahren heute, am Welttag des Buches, gedacht wird, haben die europäische Literatur nach Meinung des Literaturwissenschaftlers Hans-Ulrich Gumbrecht in besonderer Weise beeinflusst. So sehr, dass sie uns heute noch viel zu sagen haben und fest verankert sind im Literaturkanon.
Fast so frisch wie am ersten Tag
Der Kampf des Cervantes-Helden Don Quijote gegen Windmühlenflügel wurde zum geflügelten Wort mit tieferer Bedeutung, und Cervantes selbst gilt als Vater des europäischen Romans. Und Shakespeares Stücke sind auch aus den modernen Theatern nicht wegzudenken, bekannte Zitate aus seinen Stücken sind im Alltag präsent. Was beiden gemeinsam ist, beschreibt Gumbrecht, der an der US-Universität Stanford lehrt, so:
"Die beiden stehen am Beginn einer neuen Konzeption dessen, was Menschen sind - also das, was man Subjekt, Subjektivität nennt. Menschen, die sich sozusagen als Beobachter außerhalb der Welt befinden und dieser Welt Sinn geben: authentisch und in individueller Weise. Das ist, glaube ich, der Grund, warum man sich mit zwei Autoren, die rein zeitlich so weit von uns entfernt sind, doch weitgehend indentifizieren kann."
Zeitlose Werke
So sei auch zu erklären, warum sowohl Shakespears Werke als auch Cervantes "Don Quijote" auch auf heutige Leser so zeitlos wirkten. Haben die beiden die Werke des jeweils anderen gekannt?
Verbürgt sei, dass Shakespeare Cervantes Texte gekannt und rezipiert habe, sagt Gumbrecht. Umgekehrt sei dies nicht der Fall gewesen - was wohl vor allem mit den sehr unterschiedlichen Lebensumständen der beiden Weltliteraten zusammenhänge: Während Shakespeare sein halbes Leben am Theater verbracht habe und stets durch andere Texte und Autoren inspiriert worden sei, sei Cervantes beim Militär gewesen und habe zudem einige Jahre in Gefangenschaft verbracht.
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Es ist zugegebenermaßen ein ambitioniertes Unterfangen, das wir in den nächsten Minuten versuchen umzusetzen, denn es soll nicht nur um einen der ganz Großen der Weltliteratur gehen, sondern gleich um zwei der ganz Großen der Weltliteratur, um William Shakespeare und um Miguel de Cervantes.
Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass die beiden exakt heute vor 400 Jahren gestorben sind, aber inzwischen belegen Forschungen diverse kalendarische Verschiebungen. Tatsache ist aber nach wie vor, die beiden waren Zeitgenossen, und die beiden prägen Literatur bis heute. Grund genug also, sich am Welttag des Buches Zeit zu nehmen für ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der an der renommierten Universität von Standford lehrt. Ich grüße Sie!
Hans Ulrich Gumbrecht: Guten Morgen!
Welty: Shakespeare und Cervantes am selben Tag gestorben – welche Gemeinsamkeit hat denn zu dieser Mythenbildung beigetragen?
Gumbrecht: Ich meine, man könnte natürlich sagen, dass die beiden vielleicht zusammen mit Dante in der europäischen und in der westlichen Tradition eigentlich die ganz großen symbolischen Gestalten sind, die eigentlich auch für Literatur an sich stehen. Ich denke, vor allem in allen englischsprachigen Ländern, wenn man an Literatur denkt, denkt man an Shakespeare, und das ist in den spanischsprachigen Kulturen, also auf der iberischen Halbinsel und in Südamerika ähnlich mit Cervantes, obwohl ich denke, dass die Popularität von Shakespeare unter den Englischsprechenden noch intensiver ist.
Zwei wichtige Figuren der europäischen Literaturgeschichte
Welty: Das heißt, wenn man den gemeinsamen Todestag abzieht, dann bleibt nach wie vor genug an Verbindung?
Gumbrecht: Ja, da ist sehr viel Verbindung. Es ist ja auch ganz interessant, dass zwei Figuren, die so relativ früh in der nationalen und in der europäischen Literaturgeschichte stehen, die also im frühen 17. Jahrhundert gestorben sind, eigentlich bis heute zentral symbolisch für das geblieben sind, was wir immer noch Literatur nennen. Kein Autor aus dem 18. oder aus dem 19. oder aus dem 20. Jahrhundert hat diesen Stellenwert.
Welty: Tatsache ist wohl, dass Shakespeare Cervantes gelesen hat. Aber weniger wahrscheinlich ist, dass auch Cervantes Shakespeare gelesen hat. Wie hat der eine vom anderen überhaupt erfahren? Wie muss ich mir einen solchen Informationsfluss von vor 400 Jahren vorstellen?
Gumbrecht: Das ist schwer zu erklären. Diese Asymmetrie ist belegt. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Shakespeare zumindest ein Dramenfragment geschrieben hat, was auf eine Novelle von Cervantes Bezug nimmt, während wir auf der anderen Seite keinerlei auch nur Anhaltspunkt oder Verdacht haben, dass Cervantes von Shakespeare gewusst hat. Das hat natürlich mit der Intensität des Drucks und der Zirkulation von Büchern in verschiedenen Kulturen zu tun, und die war sicher in England höher als in Spanien. Es mag auch mit dem Leben der beiden zu tun gehabt haben.
Unterschiedliche Lebensläufe
Ich meine, Shakespeare hat zumindest in den Londoner Zeiten seines Lebens eben immer am Theater gewirkt und hat Sonette geschrieben, war insofern mehr im Zentrum dessen, was man heute literarische Kommunikation nennen würde, während Cervantes lange Jahre seines Lebens als Militär und dann auch in Gefangenschaft verbracht hat und auch immer wieder sich um seinen Lebensunterhalt kümmern musste. Also, Literatur konnte aus biografischen Gründen nicht so zentral im Leben von Cervantes stehen, wie das wohl mit Shakespeare der Fall war.
Welty: Über diese 400 Jahre hinweg erscheinen beide Autoren nahezu zeitlos. Warum ist das so?
Gumbrecht: Schwierig – vielleicht sagt man das immer so leicht. Wenn man den zweiten Teil von "Don Quijote" liest, und auch, wenn man die Historiendramen zum Beispiel von Shakespeare liest, weil wir diese Dramen lesen, ohne dass sie in einer Inszenierung immer schon aufbereitet sind, dann merkt man schon einige historische Differenz.
Aber vielleicht ist das Zentrale, und das ist ein Argument, was oft gemacht worden ist, dass die beiden stehen am Beginn einer neuen Konzeption dessen, was Menschen sind, also dessen, was man Subjekt, Subjektivität nennt. Menschen, die sich sozusagen als Beobachter außerhalb der Welt befinden und dieser Welt Sinn geben, also authentisch und in individueller Weise Sinn geben. Das ist, glaube ich, der Grund, warum man sich mit zwei Autoren, die rein zeitlich so weit von uns entfernt sind, doch weitgehend identifizieren können.
Welty: Welche Gesetzmäßigkeiten lassen sich dadurch für Themen, Sujets und auch für literarische Helden überhaupt bis heute ableiten?
Gumbrecht: Es ist oft gesagt worden, dass der "Don Quijote" der erste Roman in der europäischen Tradition ist. Ich meine, solche Slogans sind immer etwas problematisch, aber vielleicht könnte man so sagen: Es geht ja, wenn man den ganzen "Don Quijote" liest, um eine Gestalt, die zunächst ganz exzentrisch ist, die auch sicher von Cervantes zunächst ganz einfach gemeint war als Parodie auf einen Leser, der nicht richtig weiß, was er mit Literatur anfangen soll.
Don Quijote – eine komplexe Gestalt
Aber dann über den Roman, also über die vielen Hundert Seiten von "Don Quijote" entwickelt sich eine komplexere Gestalt, entwickelt sich die Einsicht für den Leser, dass diese zunächst ganz verrückt erscheinende Gestalt bestimmte ethische Qualitäten und eine bestimmte Sympathie hat. Und dann auf dem Todesbett legt ja Quijote sozusagen vor sich selbst die Maske ab und sagt, dass er nicht mehr der verrückte Don Quijote ist, der sich verhalten will wie ein mittelalterlicher Ritter, sondern Alonso Quijano el Bueno. Das ist wohl so gemeint, dass das sein eigentlicher, nicht sein selbstgegebener Name war, also jemand, der imstande war, sich mit den Ausgestoßenen, mit den Unterdrückten zu identifizieren, der, wie es heißt, Alonso Quijano el Bueno, ein guter Mensch war.
Welty: Gretchenfrage zum Schluss: Wen lesen Sie lieber?
Gumbrecht: Ich bin Romanist und Altromanist, vor allem Hispanist. Vielleicht schon Cervantes. Aber auf der anderen Seite würde ich sagen, dass Shakespeare eine Gewalt hat, also nicht Gewalt im physischen Sinn, aber einfach overwhelming, überwältigend ist in einer Weise, mit einer Energie, die Cervantes noch überbietet. Also unentschieden, wie Sie sehen.
Welty: Shakespeare oder Cervantes, das ist keine Frage an diesem Welttag des Buches. Wir nehmen einfach beide. Und darüber habe ich gesprochen mit dem Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht. Herzlichen Dank für dieses "Studio 9"-Interview, das wir aufgezeichnet haben. Schönen Tag noch!
Gumbrecht: Danke Ihnen, tschüß!
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