Erfinder der Selbstbeobachtung
Mit seinen "Essais" hat Michel de Montaigne eine gleichnamige literarische Gattung geschaffen. Darin sinniert er nicht nur über Freundschaft und Einsamkeit, sondern gibt auch Details seines Liebeslebens und seiner Verdauung bekannt - ein Blogger des 16. Jahrhunderts. Heute vor 425 Jahren ist der Schriftsteller und Philosoph gestorben.
Am 28. Februar 1571 gab der Jurist Michel de Montaigne, ein würdiger, kahlköpfiger Herr mit Bart und Halskrause, überraschend alle politischen Ämter auf und zog sich in das Turmzimmer seines Schlosses bei Bordeaux zurück. Es war sein 38. Geburtstag. Die mit über tausend Bänden glänzend bestückte Bibliothek war sein "Schoß der gelehrten Musen", wie die Inschrift eines Deckenbalkens lautete. Er begann mit der Niederschrift einer philosophischen Abhandlung. Einer äußerst Ungewöhnlichen:
"Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Sei gleich am Anfang gewarnt, dass ich mir damit kein anderes Ziel als ein rein häusliches und privates gesetzt habe."
Das Ergebnis war ein bahnbrechendes Werk über das Wesen des Menschen, noch dazu in einem klangvollen Französisch und nicht wie üblich auf Latein. Montaigne erfand eine eigene Gattung, die er Essai nannte, also "Probe", "Versuch" oder "Übung".
Widerspruchsgeist und Selbstkritik
"Ich will jedoch, dass man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs."
In loser Folge reihte Montaigne Anekdoten aneinander, ließ gelehrsame Beispiele einfließen, dachte über Traurigkeit, Muße, Freundschaft, Standhaftigkeit und Ruhm nach und verlor über seine Verdauung ebenso viele Worte wie über sein Liebesleben.
Michel de Montaigne, 1533 als Sohn eines adligen Kaufmanns geboren, hatte eine humanistische Erziehung genossen, Jura studiert, geheiratet, war Richter geworden und später Parlamentsrat. Nach dem Tod seines Vaters erbte er das Schloss der Familie. 1569 veröffentlichte Montaigne die Übersetzung der Theologia naturalis des katalanischen Philosophen Raimundus Sabundus. Sabundus, entzündete seinen Widerspruchsgeist und regte ihn zur Selbstkritik an.
Bürgermeister von Bordeaux
"Was mich betrifft, habe ich eine andre Angewohnheit, und die ist schlimmer: Wann immer mir ein Schuh schief geschnürt ist, lasse ich auch Hemd und Mantel schief sitzen. Ich verschmähe es, mich nur halb zu bessern. Geht es mir schlecht, verbeiße ich mich darein; ich gebe mich der Verzweiflung hin und lasse mich fallen - ich werfe, wie man sagt, der Axt den Stiel hinterher. Starrköpfig leiste ich der Verschlimmerung Vorschub und finde mich keiner Sorge für mich mehr wert: Entweder ganz gesund oder ganz krank!"
Während Montaigne sich selbst erkundete, spitzten sich die Glaubenskämpfe zwischen Katholiken und Protestanten erneut zu: 1572 kam es zur Bartholomäusnacht. Trotz seines Bekenntnisses zum Katholizismus schien sich der Philosoph in einen Skeptiker zu wandeln. 1576 ließ Montaigne eine Medaille mit der griechischen Inschrift "Epecho", "ich halte inne", prägen, was er später mit "was weiß ich", übersetzte und zu einem Schlüsselbegriff machte.
Vier Jahre später erschien die erste Ausgabe der Essais, in denen immer wieder von seinem Nierenleiden die Rede ist, was ihn 1581 eine Bäderreise Richtung Italien antreten ließ. In Lucca erreichte ihn die Nachricht von seiner Wahl als Bürgermeister von Bordeaux. In den Folgejahren bemühte sich Montaigne, zwischen der protestantischen und katholischen Fraktion zu vermitteln und wurde mit geheimen Missionen betraut.
Erweiterte Ausgaben seiner Essais erschienen. Immer wieder beschäftigte ihn die Frage nach dem richtigen Leben.
Selbstanalyse - ein unabgeschlossener Prozess
"Es ist die höchste, fast göttergleiche Vollendung, wenn man das eigene Sein auf rechte Weise zu genießen weiß. Wir suchen andere Lebensformen, weil wir unsere nicht zu nutzen verstehen; wir wollen über uns hinaus, weil wir nicht erkennen, was in uns ist. Doch wir mögen auf noch so hohe Stelzen steigen - auch auf ihnen müssen wir mit unseren Beinen gehen; und selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserem Hintern."
Montaignes Selbstanalyse war ein unabgeschlossener Prozess - er trug immer ein Exemplar seines Buches für handschriftliche Ergänzungen mit sich herum. 1588 fand er in der jungen Philosophin Marie de Gournay eine Gesprächspartnerin und, wie er es nannte, eine "Wahltochter".
Am 13. September 1592 starb Michel de Montaigne mit 59 Jahren an den Folgen einer Mandelentzündung. 1595 erschien die letzte Ausgabe der "Essais", besorgt von Marie de Gournay. Man solle ihn lesen, um zu leben, empfahl Flaubert knapp drei Jahrhunderte später.