"Ich verstehe nicht, welche Angst sie vor uns hatten"
Sechs Jahre Berufsverbot musste der Grundschullehrer Udo Lammers erleiden − weil er für die DKP, die Deutsche Kommunistische Partei, in Ostfriesland aktiv vor. Er meint, dass der 1972 eingeführte Radikalenerlass für "immensen Schaden" gesorgt habe.
Der Radikalenerlass – 1972 unter Bundeskanzler Willy Brandt eingeführt, 1979 von der sozialliberalen Koalition in Bonn wieder abgeschafft, aber in den Bundesländern teilweise noch bis in die 1990er Jahre in Kraft – sollte sicherstellen, dass keine sogenannten "Verfassungsfeinde" im öffentlichen Dienst beschäftigt werden.
Auch in Niedersachsen nahm der Verfassungsschutz bis 1990 zahlreiche Bewerber für die Beamtenlaufbahn oder für Beschäftigungen als Angestellte bei Post und Bahn unter die Lupe und überprüfte auch bereits beim Land angestellte Beschäftigte – am Ende scheiterte die Anstellung häufig bzw. wurden Kündigungen ausgesprochen, weil die Betroffenen zum Beispiel Mitglieder der DKP oder anderer linker Gruppierungen waren.
Als erstes Bundesland hat Niedersachsen Anfang des Jahres begonnen, diese Praxis der faktischen Berufsverbote offiziell wissenschaftlich aufzuarbeiten und die Schicksale einzelner Betroffener zu dokumentieren. Einen von ihnen hat Dietrich Mohaupt in Ostfriesland getroffen.
"So – das hier sind alles Prozessakten."
In seinem Haus in der kleinen Gemeinde Moomerland bei Leer in Ostfriesland breitet Udo Lammers einen Stapel Aktenordner auf dem Wohnzimmertisch aus.
"Vier Ordner sind damit voll geworden und einige Sachen sind sicher auch noch woanders geblieben! Ein Ordner ist mit Solidaritätsschreiben – Telegramme zum Prozess beim Bundesarbeitsgericht in Kassel, und ansonsten wirklich Akten aus 13 Verfahren vor den Arbeitsgerichten."
Rückblick: Als angestellter Grundschullehrer ist er in Emden beschäftigt, im September 1981 kandidiert er für den Stadtrat – auf der Liste der DKP. Das bringt ihm eine offizielle Anhörung bei der Bezirksregierung Weser-Ems ein, bei der er mehr als 20 Fragen zu seinem politischen und gesellschaftlichen Engagement beantworten soll:
"Die erste war … das war sicherlich bezeichnend, die weiß ich auch noch auswendig: Ist es richtig, dass Sie am 1. September 1976 oder 77 einen Infostand für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, also VVN, beim Ordnungsamt der Stadt Hildesheim angemeldet haben?"
Seine Antworten kommen offenbar nicht allzu gut an – jedenfalls erhält er eine Abmahnung, in der ihm seine fristlose Kündigung angedroht wird:
"Falls ich jemals wieder für die DKP aktiv würde – dann …"
Lammers lässt sich nicht einschüchtern. Im Herbst 1983 zieht er als Nachrücker in den Emder Stadtrat ein. Das ist das vorläufige Ende seiner beruflichen Laufbahn als Lehrer.
"Montags war meine erste Ratssitzung und an dem Montag war auch mein erster Tag, an dem ich die Schule nicht mehr betreten durfte, weil ich am Freitag vorher die fristlose Kündigung erhalten hatte."
Dieser Freitag, diese Kündigung: Udo Lammers hat beides noch ganz genau vor Augen. Nach der sechsten Stunde habe er sich noch von den Kollegen im Lehrerzimmer ins Wochenende verabschiedet:
"Der Schulleiter sagte 'Auf Wiedersehen', und ich kam nach Hause und es lag eine Post-Zustellurkunde im Briefkasten – bzw. eine Benachrichtigung dafür, dieses Dokument konnte ich mir dann beim Postamt abholen. Und in dieser Urkunde stand dann … ja, die beinhaltete die fristlose Kündigung."
Nachdenklich blättert Udo Lammers weiter in den Ordnern – es wirkt fast, als suche er noch etwas. Aber in den Akten ist eben nicht alles zu finden, sie zeigen nicht, was damals in dem jungen Lehrer vorging. Berufsverbot!
"Ich habe mir immer gesagt, ich habe für eine legale Partei kandidiert, ich habe nichts Unrechtes getan und ich konnte dazu stehen – natürlich haut einen das erst mal, ja, von den Socken, oder wie man das sagen soll."
Aufgefangen wird er in dieser Situation von Partei und Gewerkschaft, von Freunden und von der eigenen Familie:
"Innerfamiliär – da hatte ich immer alle Unterstützung von meiner Frau, und auch von meinen Eltern ist nie der Vorwurf gekommen: Wie kannst Du bloß!"
Sechs Jahre Berufsverbot – was folgt, ist ein Prozessmarathon, der erst im September 1989 mit dem Sieg vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel und seiner Rückkehr in den Schuldienst endet. In den Jahren dazwischen versucht Udo Lammers, mit sporadischen Nachhilfestunden seinen Alltag als Hausmann mit zwei kleinen Kindern etwas aufzulockern. In der kleinen Ortschaft Moormerland gilt er damals ein bisschen als Exot – ein Vater mit Kleinkind in der Krabbelgruppe, das ist eine Premiere für das Dorf. Vor gut drei Jahren schließlich die Pension. Jetzt blättert er zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder in den alten Prozessakten:
"Die haben nicht jetzt den ersten Platz im Regal, dass ich jeden Tag drauf gucken muss. Ich habe gerade mein Arbeitszimmer entrümpelt nach drei Jahren. Die Akten bleiben da – das sind ganz einfach Zeitdokumente. Es ist ja manchmal so – wenn ich in den Akten lese, denke ich immer, ich verstehe das gar nicht mehr, was die da schreiben und welche Angst sie vor uns hatten."
Mehr als 130 Personen haben in Niedersachsen direkt die Folgen dieser Angst zu spüren bekommen – in Form von Berufsverboten. Noch viel mehr, nämlich etwa 1000 Personen, gerieten aber im Zusammenhang mit dem Radikalenerlass unmittelbar in den Fokus der Behörden und des Verfassungsschutzes. Im öffentlichen Bewusstsein schwindet die Erinnerung an diese Zeit – umso wichtiger sei jetzt der Versuch der Landesregierung, die Folgen des Radikalenerlasses in Niedersachsen wissenschaftlich aufzuarbeiten, meint Udo Lammers.
Er selbst habe diese Zeit des eigenen Berufsverbots inzwischen abgehakt, betont der heute 64-Jährige, der weiterhin in der DKP politisch aktiv ist. Erschreckend seien für ihn aber die tiefen Spuren, die der Radikalenerlass in der deutschen Gesellschaft hinterlassen habe:
"Was ich immer noch am schlimmsten finde als Auswirkung der Berufsverbote: Was es in den Köpfen der Leute angerichtet hat! Ich habe letztens erlebt, als es um Unterschriften ging für irgendeine Sache, dass Leute sagten, nee – ich kann das nicht unterschreiben, ich bin hier bei der Gemeinde beschäftigt, ich bin noch in der Probezeit. Der Schaden, der ist immens. Und das hat die Republik sicherlich sehr viel mehr verändert als die wenigen Berufsverbote – wenn es die nur gewesen wären."