"Shakespeare spricht etwas in uns an"
Shakespeares Werke sind deshalb noch heute so beliebt, weil sie noch immer aktuell sind, meint der Schauspieler Norbert Kentrup. Er habe alle Themen angesprochen, die uns als Mensch irgendwann begegnen.
Stephan Karkowsky: William Shakespeare muss schon als Baby faszinierend gewesen sein, wenn es stimmt, was eine Berliner Zeitung gestern schrieb: dass der geniale Brite das Publikum seit 450 Jahren in seinen Bann schlägt. Hamlet würde dazu sagen: Alles, was so übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspiels entgegen. Denn natürlich wurde Shakespeare erst vor 450 Jahren geboren, wahrscheinlich heute, aber so genau weiß man das nicht mehr. Über die Bedeutung Shakespeares wollen wir mit dem einzigen deutschen Schauspieler sprechen, der jemals eine ganze Saison am Londoner Globe Theatre mitspielen durfte, mit Norbert Kentrup. Guten Tag!
Norbert Kentrup: Guten Tag!
Karkowsky: Sie selbst sind sehr jung Schauspieler geworden. Gab es denn für Sie so eine Art Initialzündung, also den Moment, an dem Shakespeare in Ihr Leben trat?
Kentrup: Also ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe den erst mal ganz wenig verstanden, weil die 50er-Jahre waren natürlich auch sehr schwer zu begreifen, mit Schlegel-Tieck-Übersetzungen, mit sehr behäbigen Shakespeare-Inszenierungen. Ich für mich habe es eigentlich erst wirklich begriffen als Lebensalternative, wie ich selber den Othello spielte, wo ich plötzlich merkte: Was ist das für ein großartiger Autor! Und ab da hat mich das seit 30 Jahren nun nicht mehr losgelassen, wo ich merke: Bei jedem Lesen der Stücke entdecke ich neue Dinge, bei jeder Aufführung, die ich sehe, und sei sie noch so schlecht, kapiere ich neue Dinge oder ich werde wütend über Dinge, die da gemacht werden, wo ich dann plötzlich sage, ja, das war ja genau Sinn der Übung oder gerade nicht der Übung. Also das ist ein Paradies seit 30 Jahren.
Karkowsky: Was war das denn für eine Erfahrung mit dem Othello, die Sie als Lebensalternative beschreiben?
"Die Zuschauer sind existent"
Kentrup: Und zwar hatte ich von Professor Weimann ein Buch geschrieben, "Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters", und dann sah ich Dario Fo auf der Bühne, diesen italienischen Komiker, der zum ersten Mal für meine Wahrnehmung in Deutschland mit dem Publikum spielte. Und plötzlich machte ich diese Schaltung: Das gehört zusammen, diese Art, wie Robert Weimann diesen Autor und das Globe begreift, und dieses Lebendige, was Dario Fo praktizierte, nämlich mit dem Publikum, dem Text spielen. Und das war etwas, wo ich plötzlich begriff, wie ich diesen Othello dann spielte, mit Öffnung der vierten Wand, also die Zuschauer sind existent, der Zuschauerraum ist hell, wie da plötzlich die Post abging, wo ich sagte: Ja, das ist es doch! Meine Sehnsucht nach dem Publikum fand ich da plötzlich bestätigt, und das hat mich seit 30 Jahren nicht mehr losgelassen, nämlich das Publikum zu suchen. Man spielt und man sieht in Augen und empfindet Dinge, die man sonst vielleicht nur in der Liebe empfindet, weil einfach Leute einem zuhören, Leute was begreifen, Leute begeistert sind und man mit diesem Text, der eben im Vers geschrieben ist, eine Höhe an Emotion spielen kann, die man sonst nie im Leben herstellen kann.
Karkowsky: Das Londoner Globe Theatre ist ein schönes Stichwort, 1599 das erste Mal eröffnet, dann immer wieder abgebrannt, zugemacht, wieder eröffnet. 1993 dann haben die Londoner sich ein neues Globe Theatre gebaut. Stimmt es, dass Sie das erste Shakespeare-Stück überhaupt in diesem neuen Theater inszeniert haben, als das noch im Rohbau war?
Kentrup: Ich habe den Falstaff da gespielt. Ich hatte durch das Globe-Theater in Neuss, was ich initiiert hatte 1991 mit einigen Freunden zusammen, hatte ich den Sam Wanamaker kennengelernt, und das war Liebe auf den ersten Blick: Er baute das Theater, von dem ich träumte, ich spielte mit der Truppe, von der er träumte. Und er war sehr schwer krank gewesen und er wusste, er hat nicht mehr lange Zeit, und er hatte dann drauf gedrungen, dass 1993 in London, in der Rekonstruktion, im Rohbau die allererste Vorstellung stattfand, "Die lustigen Weiber von Windsor", die ich dann da auf deutsch spielte. Und Sam wollte dann, dass ich dann den Shylock spiele nach der Eröffnung. Er ist dann in dem Jahr schon gestorben im Dezember. Und ich hatte damals noch kein Wort Englisch gekonnt. Ich habe deswegen Englisch gelernt dann und habe dann 1998 eine Saison da den Shylock gespielt.
Karkowsky: Der britische Theaterkritiker Benedict Nightingale, der wies unlängst in einem Interview darauf hin, dass Shakespeare die ersten 100 Jahre nach seinem Tod als barbarisch und unverständlich verpönt war in seiner Heimat. Danach wurden seine Stücke immer wieder dem jeweiligen Zeitgeist angepasst und umgeschrieben, da gab es dann Happy Ends, wo im Original keine waren. Und erst deutsche Shakespeare-Fans – Sie haben ihn schon erwähnt – wie der große Romantiker August Wilhelm Schlegel machten die Originaldramen wieder berühmt und Shakespeare zum populärsten Bühnenautor auch der Deutschen. Wie erklären Sie sich das, dass Shakespeares Dramen weltweit verstanden und geliebt werden?
"Man entdeckt jedes Mal neue Dinge"
Kentrup: Shakespeare spricht irgendetwas in uns an, alle die Themen, die wir als Menschen irgendwann erleben werden, an Liebe, an Treue, an Verrat, an Mord, an Totschlag, an Gemeinheiten. Aus irgendeinem Grunde hat er das in seinen etwa 38 Stücken beschrieben oder dafür Dinge gesehen, wo man immer wieder verblüfft ist, wie das jemand vor 400 Jahren wissen konnte. Und wenn man diese Stücke dann zu verschiedenen Zeiten liest, als junger Mensch, als mittelalter und als alter Mensch – man entdeckt jedes Mal neue Dinge.
Karkowsky: Zum 450. Geburtstag William Shakespeares hören Sie den Schauspieler Norbert Kentrup. Herr Kentrup, aber Mord und Folter, Heimtücke, Sadismus, ja, bei Shakespeare geht es um Sein oder Totsein – das moderne Theater, so könnte man den Eindruck haben, hat das überwunden. Bei Shakespeare ist alles beim Alten. Warum werden die Leute nicht müde, immer wieder Hamlet sterben zu sehen, Romeo nimmt Gift, Julia erdolcht sich, Tod und Verderben überall?
Kentrup: Na ja, erst mal ist unsere Welt nicht viel besser geworden. Wenn man sich umschaut, wo einfach Ausgrenzung passiert, also zum Beispiel: Versuchen Sie mal, ein israelisches Mädchen mit einem palästinensischen Jungen zu verheiraten. Das wird kaum möglich sein. Man braucht nur zur Ukraine zu schauen, was da an politischen Intrigen passiert. All diese Dinge sind ja nicht überwunden, die sind in uns drin, oder Eifersucht, Othello und Jago, wo der beste Freund den Othello eifersüchtig macht, dass er wirklich den Verstand verliert – also wenn man die Zeitung aufschlägt, sind das alles die Themen, die weiterhin passieren, wo Menschen eben an ihre Grenzen, an ihre Abgründe geraten.
Und das Besondere ist nur, also dass es auf der einen Seite so wahr oder so realistisch ist oder so brutal ist, und gleichzeitig – und das hat man durch London herausgefunden – findet nach jeder Vorstellung ein Jig, ein Tanz statt. Also in "Titus Andronicus" – da sind eigentlich, glaube ich, 25 Tote am Schluss auf der Bühne – stehen die Menschen auf und tanzen. Also das bedeutet: Es ist ein Konstrukt, wir haben die Wahl. Muss die Welt so sein oder können wir sie anders machen? Und ich glaube, das ist ein Teil dieser Faszination bei ihm, dass er ununterbrochen Fragen ans Publikum stellt und nicht Meinungen über einen stülpt, was man ganz oft bei heutigen Autoren findet. Er fragt ununterbrochen, wo man selber denken muss – ja, will ich das so haben oder will ich es anders haben?
Karkowsky: Sie haben im Globe-Theater den jüdischen Geschäftsmann Shylock gespielt aus dem "Kaufmann von Venedig" mit den berühmten rhetorischen Fragen: Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Das ist ja eine grauenhafte Geschichte: Shylock will seinen Schuldschein einlösen beim Kaufmann von Venedig, der hatte ihm versprochen, du kriegst ein Pfund Fleisch aus meinem Körper, wenn ich dir mein Geld nicht geben kann. Sind das Metaphern gewesen oder hat Shakespeare das so gemeint?
"Er war nicht übel an der Stelle"
Kentrup: Erst mal war es zu der Zeit eine mögliche Wette, so wie es einen Film gibt, wo man sagt, okay, wenn ich die Wette gewinne, darf ich mit deiner Frau schlafen. Also es war sozusagen eine mögliche Wette, wo man etwas machen kann, um den anderen zu besiegen. Gleichzeitig war es etwas so, dass der Shylock sagt, the merry sport, also eine witzige Idee. Wenn du so sicher bist und Frieden machen willst – ich will hier Frieden machen, und nur einfach so als witzige Idee machen wir das. Er war nicht übel an der Stelle. Dann passierte es, dass seine Tochter von den Christen geraubt wurde, und dieses Problem, wie geht man mit Fremden um, wie geht man wirklich mit fremden Menschen um, die nicht in den Kreis passen, in dem man lebt, das war das Thema damals. Und in dem Falle war es dann Jude und die Christen.
Karkowsky: Herr Kentrup, aber ist es nicht auch aus Sicht junger Bühnenautoren so eine Art Fluch, dass viele Theater lieber immer wieder auf den Klassiker setzen als noch mehr den jungen Wilden eine Chance zu geben?
Kentrup: Ich denke, beides ist notwendig oder deswegen haben wir bei "Shakespeare und Partner" immer den Shakespeare gemacht und eine Dramatikerwerkstatt. Und man kann von diesem Altmeister unendlich viel lernen und gleichzeitig, das darf man auch nicht vergessen: Der Shakespeare hat ... Damals waren das alles Uraufführungen und er hat geklaut, wo er nur konnte. Also er hat modernstes Theater gemacht. Er hat nichts Klassisches gemacht, sondern er hat wirklich neue Stücke geschrieben. Und ich glaube, diese Balance muss man herstellen, nämlich die Shakespeare-Stücke so modern es nur irgendwie möglich ist zu inszenieren, zu begreifen, zu spielen, aber nicht modernistisch, das meine ich nicht, aber sozusagen mit einem ganz frischen Gedankengebäude, und umgekehrt die heutigen Stücke einfach immer wieder auf den Tiefgang, auf eine Unterhaltung zu überprüfen. Und der Shakespeare ist da einfach gnadenlos, weil er einfach die Komödie neben die Tragödie setzte, wo er gnadenlos unterhält, dass einem der Kopf wegfliegt vom Blödsinn, den er machen kann, und gleichzeitig eben einen Tiefgang herstellt, den man sich nur wünschen darf.
Karkowsky: William Shakespeare wurde womöglich heute vor 450 Jahren geboren, das genaue Datum ist nämlich nicht überliefert. Der Schauspieler Norbert Kentrup ist Mitbegründer des Theaters "Shakespeare und Partner" und hat uns von seiner persönlichen Beziehung zu Shakespeare erzählt, Ihnen danke für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.