Das Internet vergisst nicht – doch
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Was im Internet steht, bleibt im Internet und das Netz ist ein rechtsfreier Raum. Viele Menschen sind davon überzeugt, aber das ist falsch, sagt der Jurist Matthias Kettemann, der ein Buch dazu mitveröffentlicht hat.
Vera Linß: Wie sind Sie auf die Idee gekommen und wie haben Sie das zusammengetragen? Das haben Sie sich ja nicht alleine ausgedacht?
Matthias Kettemann: Gemeinsam mit einem Kollegen am Institut, Stephan Dreyer, beschäftige ich mich schon lange mit der großen Frage: Wie können wir das Internet zu einem Ort machen, wo die Leute sicher leben können, wo sie ihre Chancen verwirklichen können und wo sie ihre Rechte gebrauchen können? Und oft ist ein Hindernis, dass Menschen ganz falsche Vorstellungen davon haben, wie das Internet funktioniert, dass dort keine Rechte gelten zum Beispiel. Oder dass dort der Staat keine Rolle mehr hat oder dass Privatsphäre gänzlich tot ist. Wir haben zu vielen dieser Aspekte schon geforscht und haben uns gedacht, wir müssen versuchen, dieses Wissen ein bisschen zu den Menschen zu bringen.
Linß: Und nun haben sie das auf eine besondere Weise zusammengetragen. Diese 50 Mythen, da steckt einer größeren Aktion dahinter.
Kettemann: Wir sind hinausgegangen in die wissenschaftliche Community. Wir haben über Twitter einen großen Aufruf gestartet und gesagt: Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte bringt uns eure Mythen. Was sind die größten Fehlvorstellungen, über die ihr gestolpert seid? Einige davon hatten wir schon. Aber es sind unglaublich viele eingegangen. 200, 300 Mythen. Zum Schluss haben wir 50 ausgewählt und jeden dieser 50 Mythen haben wir einer Autorin oder einem Autor zugeteilt. Und dieser Experte, die Expertin, durfte diesen Mythos dann entzaubern.
"Natürlich gilt Recht im Internet"
Linß: Gab es denn da Überraschungen?
Kettemann: Auf jeden Fall. Zum Beispiel ein Autor entzaubert den Mythos, dass Cyber-Sicherheit extrem wichtig ist. Der meint eben, Cyber-Sicherheit ist ein Faktor, aber sicher nicht der wichtigste Faktor in der Art, wie wir unser Interneterlebnis gestalten. Ein ganz wichtiger Mythos ist der, dass im Internet kein Recht gilt. Natürlich gilt Recht im Internet oder der Mythos, dass Staaten im Internet gänzlich machtlos sind. Das sind sie nicht. Sie können sehr wohl ihr Recht durchsetzen. Wichtig ist auch, dass wir verstehen, dass die Privatsphäre nicht stirbt mit dem Internet. Wir haben immer noch die Möglichkeit, unsere Privatsphäre auch online zu schützen. Wir sind souverän in der Entscheidung, was wir online stellen. Mir persönlich hat auch sehr gut der Mythos gefallen, das Internet vergisst nicht. In Wirklichkeit ist es nämlich so, dass ein Großteil der Links schon nach ein paar Jahren nicht mehr funktionieren. Das Problem, vor dem wir stehen, ist eher, dass das Internet zu viel vergisst, nämlich wichtiges Wissen verschwindet einfach.
Linß: Wie erklären Sie sich, dass diese Mythen entstanden sind?
Kettemann: Mythen sind ganz wirkmächtige Instrumente, mit denen wir Menschen unsere Welt erklären. Die Welt ist schwierig, und wir behelfen uns dann damit, dass wir gewisse Vorstellungen entwickeln, die wir dann gemeinsam teilen. Wenn die schön kräftig werden in einer Gesellschaft, dann spricht man von Mythen. Der französische Philosoph Pierre Bourdieu hat es sehr schön vorgezeigt. Der hilft uns zu verstehen, dass wir Mythen überwinden können. Aber Mythen haben auch gute Seiten. Mythen machen unser Leben manchmal einfacher. Wir sind aber draufgekommen, dass gerade im Bereich des Internets Mythen sehr gefährlich sind. Weil Mythen auch Menschen dazu verleiten, dass sie nicht mehr weiterdenken. Ach, wenn Sie denken, dass wirklich die Privatsphäre tot ist. Dann kann man ja nichts mehr machen gegen die großen Unternehmen. Oder ein anderer entzauberter Mythos, dass Künstliche Intelligenz alles richten wird. Wenn das wirklich so wäre – klar, dann muss der Gesetzgeber nicht tätig werden. Aber es ist ja so nicht. Uns war es wichtig aufzuzeigen, welche Fehlvorstellungen herrschen, und auch die Kräfte dahinter anzudeuten. Weil jeder Mythos lässt sich erklären. Je mehr Gruppen einer Gesellschaft davon profitieren, desto wirkmächtiger wird er.
Linß: Das haben Sie ja auch hier überschrieben. Mythen sind verführerisch. Worin besteht die Verführung?
Kettemann: Die Verführung für uns Menschen besteht darin, dass wir nicht weiterdenken müssen. Natürlich ist es etwas schwieriger, auf seine Privatsphäre zu achten, wenn man weiß, dass man es noch kann. Da ist es einfacher zu sagen: Ach, Facebook und die anderen haben schon längst die Privatsphäre erobert. Da kann ich nichts mehr machen. Natürlich ist es sehr schwierig, auf seine eigene Sicherheit zu achten. Da ist es einfacher zu sagen, andere werden das schon tun. Es ist auch einfach auf den Staat zu schimpfen, dass er im Internet kein Recht durchsetzt. Wenn es in Wirklichkeit auch darum geht, dass man selbst darauf achtet, dass ein zivilisierter Diskursraum entsteht.
Kulturelle Unterschiede bei Internet-Mythen
Linß: Sie haben ja weltweit befragt. Gab es Unterschiede zwischen den Regionen, zwischen der westlichen und östlichen Welt, Nord-Süd, was solche Mythen betrifft?
Kettemann: Mit den 200 Mythen, die wir bekommen haben, haben wir jetzt kein ganz repräsentatives Bild. Aber das waren Mythen, die die wissenschaftliche Gemeinschaft bewegt. Ich bin auch in andere Projekten involviert, wo es um eine Bürgerbefragung geht: Wo Menschen in Japan, Ägypten, Norwegen gefragt werden, wie sie das Internet empfinden. Und da sieht man sehr wohl sehr große Unterschiede in der Art und Weise, wie das Internet genutzt wird. Man denke nur an die Rolle des Datenschutzes und der Privatsphäre im chinesischen Internet und im deutschen Internet. Das sieht man schon, dass Menschen bereit sind, für einen bestimmten Nutzen auf einen gewissen Datenschutz zu verzichten, was bei uns nicht der Fall wäre.
Linß: Gibt es auch einen Mythos, dem Sie verfallen sind, oder ist die Wissenschaftscommunity davor weitgehend gefeit?
Kettemann: Im Gegenteil. Alle Menschen verfallen sehr oft Mythen. Und gerade auch die Wissenschaft muss sich oft vorwerfen, dass sie Mythen eher fortschreibt, als diese auflöst. Ich persönlich habe wirklich lange gedacht, dass das Internet nicht vergisst. Ich habe das als großes Problem gesehen, gerade als Jurist. Ich meine das Recht auf Vergessen, die Urteile zu diesem Aspekt. Ich versuche in meiner Praxis jetzt einfach etwas mehr nachzudenken.