50. Historikertag

Geschichte der Sieger hinterfragen

Eine beleuchtete Weltkugel (Globus) mit Blick auf Afrika und Europa.
Modernisierung und Globalisierung sind ein Thema auf dem diesjährigen Historikertag. © picture alliance / dpa - Caroline Seidel
Von Alexander Budde |
Auch die Geschichte der Unterdrückten zu erzählen, fordert Bundespräsident Gauck in seiner Eröffnungsrede. Der Historikertag schlägt einen Bogen von der Antike über den Ersten Weltkrieg, die DDR-Diktatur bis zur Globalisierung. Mehr erfährt man auch über "Tiere als Verlierer der Moderne".
Offenbar bemüht, die Wogen zu glätten, wählt Joachim Gauck seine Worte mit Bedacht. Die Zukunft kommt nicht von selbst, bemerkt er in seiner Festrede zur Eröffnung des Historikertages in Göttingen. Seine eigene Lebenserfahrung habe ihn gelehrt, dass Geschichte selbst in Situationen, die unabänderlich erscheinen, beeinflussbar und gestaltbar sei:
"Wer sich für Freiheit und Menschenwürde eingesetzt hat, für das Recht und die Gerechtigkeit, für Anstand und Menschlichkeit, der mag vielleicht für eine Zeit auf der verlorenen Seite gewesen sein – auf der falschen war er nicht."
Keine Rezepte für die Gegenwart
Die Geschichte stellt keine Rezepte für die Gegenwart aus, sagt Gauck. Doch die großen Gedenktage des Geschichtsjahres, insbesondere des 100 Jahre zurückliegenden Beginns des Ersten Weltkrieges, mahnen zur Skepsis und zur Wachsamkeit:
"Heute sehen wir eine Unfähigkeit, Folgen bestimmter Entscheidungen in den Blick zu nehmen. Oder wir erkennen heute eine zynische Einstellung der Herrschenden oder Befehlenden gegenüber dem Leid der Untertanen. Auch erblicken wir eine maßlose Selbstüberschätzung und eine unbedachte Bereitwilligkeit, die Katastrophe in Kauf zu nehmen und das alte Europa eine "Welt von gestern" werden, also untergehen zu lassen."
Gauck spricht von der Verantwortung der Deutschen, sich in "Wort und Tat" für Freiheit und Menschenwürde starkzumachen. An die versammelten Historiker appelliert er, sich auch mit der Geschichte der Verlierer zu beschäftigen:
"Auch wenn die Geschichte, wie man sagt, von den Siegern geschrieben wird, ist doch immer auch die Geschichte der Marginalisierten zu erzählen, der Unterdrückten, der Geschlagenen. Geschichtsschreibung kann ihnen keinen Sinn zusprechen, aber Geschichtsschreibung kann ihnen ihre Würde lassen oder wiedergeben, wenn sie ihre Stimmen zu Wort kommen lässt oder wenn sie die zum Schweigen Gebrachten in Forschung und Lehre in die Erinnerung einbringt."
Wer ist Gewinner, wer Verlierer?
Wer ist Gewinner, wer ist Verlierer? Das lässt sich im Augenblick des Geschehens so schwer erkennen wie in der historischen Reflexion. Darin erkennt Martin Schulze Wessel, Vorsitzender vom Verband der Historiker Deutschlands, den besonderen Reiz des diesjährigen Oberthemas:
"Mit Niederlagen können Erfahrungsschübe verbunden sein, die sich aus Siegen nicht so ergeben. Dass es ganz anders kommen kann, als man denkt und plant. Eine solche Erfahrung kann man aus der Niederlage gewinnen, aber nicht aus dem Sieg."
Das integrative Oberthema wird sämtliche Fachsektionen beschäftigen. Dabei geht es nicht nur um Sieg und Niederlage in der Antike, sondern auch in historischen Prozessen wie der Modernisierung und Globalisierung. Internationale Experten diskutieren in insgesamt 70 Themenblöcken unter anderem über die Folgen des Ersten Weltkrieges und das Erbe der DDR-Diktatur. Programm-Exoten gibt es auch: So wollen die Wissenschaftler unter anderem über die Popgeschichte sprechen, über die Sexualität im 20. Jahrhundert und über Tiere als Verlierer der Moderne. Diskutiert wird aber auch über brandaktuelle Themen wie die Ukraine-Krise und die jüngste Entscheidung der Schotten, dem Bund mit Großbritannien treu zu bleiben.
"Was wir in diesem Jahr erleben, ist, dass Geschichte nicht nur erinnert wird, sondern Geschichte als Vergleich immer wieder in politische Diskussionen eingespeist wird. Geschichte ist in diesem Jahr sehr lebendig und greift tatsächlich in die politische Meinungsbildung ein."
... bemerkt Schulze Wessel – und der Verbandsvorsitzende der Historiker verspricht sich besondere Spannung vom Streitgespräch mit dem australischen Historiker Christopher Clark. Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkrieges trug. Die sogenannte Fischer-Kontroverse darüber zählt zu den großen leidenschaftlichen Kämpfen um die Deutungshoheit. Doch Clark kommt in seiner Studie "Die Schlafwandler" zu einer anderen Einschätzung:
"Dass er nämlich sehr stark auf die internationale Politik fokussiert und die Fragen, die bei Fritz Fischer im Vordergrund standen nämlich die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Krieg ausblendet. Aber eine Rolle für den Verkaufserfolg spielt sicher auch die Tatsache, dass viele Leser in dem Buch etwas sehen, was Christopher Clark möglicherweise gar nicht impliziert hat, nämlich eine Entschuldung Deutschlands für die Verantwortung am Ersten Weltkrieg."
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