50 Jahre Auroville in Indien

Eine Stadt ohne Besitz, Geld und Regierung

Von Gerhard Richter |
Ein "Labor der Menschheit", das sollte die vor 50 Jahren gegründete Kleinstadt Auroville in Südindien werden: Grundeinkommen für alle, keine Hierarchien, Entscheidungen werden im Konsens gefällt. Frederick Schulze-Buxloh war von Anfang an dabei.
Gerade hat Frederick ein Rührei im Café gefrühstückt, und geht zurück zu seiner Wohnung. Er ist groß, schlank. Seine Haltung wirkt irgendwie aristokratisch. Die Haare grau und kurz, seine Augen blicken milde auf sein Lebenswerk.
"In den Pionierzeiten war es ja so, dass wir 95 Prozent unserer Zeit damit verbracht haben zu überleben, das Wasser zu kriegen, Strom zu kriegen, das Brot zu kriegen, Unterkunft zu finden, den Transport zu haben, du hast fast keine Zeit gehabt was für den Aufbau der Stadt zu machen."
Aus den Bambushütten von damals rund um den einzigen Baum inmitten einer Halbwüste ist in den letzten 50 Jahren ein ansehnlicher Ort geworden. Es sind zwar nicht die 50.000 Einwohner, wie in der Vision angepeilt, aber immerhin 3.500. Die meisten Häuser sind verstreut zwischen den Millionen Bäumen, die mittlerweile angepflanzt wurden. Auroville ist kein Dorf mehr, schon eher eine kleine Stadt. Frederick wohnt in einem der neuen Mehrfamilienhäuser. Seine Wohnung ist ein Geschenk der Gemeinschaft an ihn. Zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon.
"Das wurde total ausgestattet, ich meine ein paar wenige Sachen sind meine persönlichen Sachen, und wenn ich die Tür aufmache, dann denke ich: thank you, thank you!"
Premierminsiter Shri Narendra Modi und Frederick Schulze Buxloh in Auroville
Frederick Schulze Buxloh (r.) mit dem indischem Premierminister Modi in Auroville© Auroville

Dankbarkeit ist ein wertvolles Gefühl

Dankbarkeit ist ein viel wertvolleres Gefühl, sagt Frederick, als viel Geld zu haben und sich alles leisten zu können. Er war früher einmal reich, sehr reich sogar, er hätte sich ein paar Dutzend solcher Wohnungen leisten können.
Fredericks Vater hat ein Vermögen im Bergbau gemacht. Die Familie verschlägt es nach dem Krieg nach München. Aber das Nachkriegsdeutschland bietet dem jungen Feingeist keine Orientierung.
"Damals in der Entnazifizierungszeit von den Amerikanern wurden wir als Kinder jeden Monat mindestens einmal nach Dachau geschickt, um zu sehen was da alles geschehen ist. Und das hatte schon auch eine Wirkung gehabt."
Um die innere Leere zu füllen, liest er östliche Philosophen wie Sri Aurobindo. Der sanfte Gelehrte und Yogameister lockt mit seinen Lehren vom höheren Bewusstsein. Nach dem Abitur fährt Frederick mit einem Frachter von Genua nach Bombay. Das war 1959. Ein Jahr später trifft er Aurobindo persönlich und lebt in dessen Ashram. Dort trifft er Mutter Alfassa, seine Partnerin.
"...und hat das mein Leben verändert."
Inderinnen mit Saris auf Fahrrädern laufen einen Weg entlang, im Vordergrund der Schriftzug "Auroville"
Inderinnen mit Saris auf Fahrrädern laufen einen Weg entlang, im Vordergrund der Schriftzug "Auroville"© imago stock&people / Hans Blossey

Sein Vermögen steckt in der gemeinsame Vision

Mutter Alfassa gibt Frederick eine Richtung. Er schenkt ihr dafür sein ganzes Vermögen und stellt sein Leben in den Dienst ihrer gemeinsamen Vision. Und die heißt Auroville - eine Stadt, die niemandem gehört, in der Menschen aus allen Nationen zusammen leben, ohne Besitz, ohne Geld und ohne Regierung. Frederick ist mit Leib und Seele dabei, gründet eine Familie, und baut auf Mutter Alfassas Wunsch das erste feste Haus.
"Die wollte einfach mal was Solides haben, nicht nur Bambus, sondern ein richtiges Steinhaus, um der Welt zu zeigen, dass wir hier für immer sind. Und dann wurde das für die nächsten 20 Jahre hier mein Marschbefehl: 'Garantiere mal, dass da eine Kontinuität ist.'"
Zum Mittagessen geht Frederick in die Solar-Kitchen, eine Kantine, in der jeden Tag 1000 vegetarische Gerichte mit Sonnenenergie gekocht werden. Er trägt ein leichtes Hemd, Shorts und Flip-Flops. Hier trifft er Bekannte, tauscht Informationen aus. Wie alle anderen hier bekommt er eine Art monatliches Grundeinkommen, das ganz passabel zum Leben reicht. Dafür soll jeder vier Stunden täglich etwas für die Gemeinschaft leisten. Frederick kümmert sich um die sensiblen Beziehungen zwischen der indischen Regierung, der Unesco und den Gremien Aurovilles. Das indische Bildungsministerium unterstützt Auroville, gibt etwas Geld, hat aber kaum was zu sagen. Die Aurovillianer pflegen eine Selbstverwaltung, beruhend auf dem Konsensprinzip. Ein ständiges Experiment.
"Die können nicht kommen und sagen: 'Das geht jetzt so. Wir treffen die Entscheidung.' Weil wir dann sagen, nein das könnt ihr nicht. Das ist nicht eure Entscheidung, es ist unsere."

Was hilft der Menschheit zukünftig?

Wie in der Entwicklungsabteilung eines Unternehmens, testen die Aurovillianer auf ihrem weitläufigen Gelände, was der Menschheit künftig helfen kann. Aufforstung, alternative Energien, sanfte Heilverfahren, Kleinkläranlagen, Schulformen, Bautechnik, organischer Landbau, Integration und Musik. Und das solidarische Zusammenleben.
Wie lebt und plant man miteinander, wie löst man Konflikte? Was hier in Auroville im Kleinen funktioniert, hat eine Ausstrahlung auf das große Ganze, glaubt Frederick:
"Wenn du zum Beispiel eine Art von Selbstverwaltung im kleinen Rahmen entwickeln kannst, wo jeder Einzelne individuell wahrgenommen wird und sich zu Wort melden kann, ohne dass jemand wertet, dann hat das sicher seine Bedeutung auf einer größeren Ebene. Die ganze Welt sucht nach einer wirklich bewussten Selbstverwaltung."

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