"Ich staunte, wie man so leben kann"
Nun wird die Kohleförderung auf der letzten verbliebenen Zeche in Bottrop (NRW) eingestellt. Vor 50 Jahren machte sich Erika Runge für ihre Reportage "Bottroper Protokolle" dorthin auf den Weg. Zunächst interessierte sie aber gar nicht der Bergbau.
Die Stadt Bottrop, Kern des Ruhrgebiets, ist mit der Kohle großgeworden. Mit der letzten Zechenschließung am 21. Dezember 2018 gibt es auch hier keine Kumpel mehr. Als vor 50 Jahren die Radioreportage "Bottroper Protokolle - Gespräche aus dem Ruhrgebiet" (WDR) von Erika Runge erschien, ging es mit der Kohleförderung auch schon bergab.
Die Autorin und Filmemacherin hat damals Bewohner von Bottrop sprechen lassen – hier bekam sie ungeschminkte Meinungen zum Wandel in der Arbeit, im Frauenbild, in der Musik, im Sex oder in der Politik. Die Interviews von 1968 wurden berühmt. Sie sind bis heute Stoff für Seminare an der Universität - sie sind aber auch zu einem legendären Hörfunk-Feature geworden.
Zeit der Ostermärsche
Dabei war es zunächst nicht der Kohlebergbau, der Erika Runge nach Bottrop führte, sondern die Ostermärsche gegen Atombewaffnung und Aufrüstung: "In Bottrop waren die Protestmärsche gegen die Aufrüstung enorm groß." Sie fügt hinzu: "Ich war begeistert, welche Kraft, welches Selbstgefühl, welche Möglichkeit für die Zukunft in diesem Kohlebergbau, aber vor allen Dingen den Menschen, die damit zu tun hatten, steckt."
Sie interviewte unterschiedliche Menschen wie eine Hebamme, eine Büroangestellte, einen Fußballer, eine Putzfrau, einen Kohlearbeiter und Betriebsrat und einen arbeitslosen Elektriker, der in einer Band singt und montierte ihre Antworten zu einem Zeitpanorama. An den singenden Elektriker erinnert sie sich besonders gern: "Dafür habe ich die 'Bottroper Protokolle' gemacht, dass man singt! Mitten in dem Elend, wo man nicht mehr weiter weiß, sagt, wir schaffen das: Wir singen!"
Äußerungen könnten auch heute noch gelten
Die Leute äußern sehr verschiedene, aber auch widersprüchliche Ansichten zum Beispiel über ihr Frauenbild. Das Ganze ist 50 Jahre her – aber, was geäußert wird, könnte auch heute noch gelten, gerade in Bezug auf die Gleichberechtigung. Nicht alles konnte der überzeugten Linken gefallen. Dazu sagt Erika Runge: "Ich sah nicht meine Aufgabe darin, dass zu kritisieren, sondern ich staunte, wie man so leben kann."
(cosa)