50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen

Geschichten von Liebe und Finsternis

Der israelische Schriftsteller Amos Oz im Heinrich Heine Institut in Düsseldorf 2008.
Der israelische Schriftsteller Amos Oz © picture-alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Moderation: Shelly Kupferberg und Jochanan Shelliem |
"Wer morgens lacht" und "Who the fuck is Kafka" - manche Titel aktueller Neuerscheinungen verweisen auf das in 50 Jahren gewachsene Spektrum der deutsch-israelischen Literatur. Das Lebensthema vieler Autorinnen und Autoren präsentiert sich im Spagat in dieser Langen Nacht zwischen Shoah und Zionismus, Judentum, Diaspora und Schuld.
Die Sujets reichen von der jüdischen Emanzipation in den Nationalstaaten zu Beginn des Ersten Weltkrieges bis hin zu Misstrauen und Erotik im Umfeld nahöstlicher Konferenzen als Katalysator einer Romanze. Auch in seinem neuesten Roman "Judas" leuchtet der große Charakterschriftsteller Amos Oz die Leitideen des Zionismus und deren Widersprüche und Tragödie aus - eingekleidet in eine Liebesgeschichte. Liebe, dieser Stoff aus dem die Träume sind, beschreibt Meir Shalev, dessen Frauen in "Zwei Bärinnen" macchiavellihaften Machos im Moshaw Paroli bieten, als Katalysator über mehrere Generationen hinweg.
Von alten Seilschaften und frischer Korruption berichtet Gila Lustiger in ihrem Thriller aus Paris "Die Schule der Anderen" und Mirjam Pressler weicht ins märchenhafte Grauen aus. Avi Primor, eloquenter Übersetzer des nahöstlichen Konflikts, verfolgt das leidenschaftliche Engagement zweier jüdischer Familien im Ersten Weltkrieg und das tragische Scheitern ihrer nationalen Emanzipation. Beobachtungen aus dem israelischen Alltag von heute komplettieren diese Lange Nacht, interpretiert von dem israelischen Psychoanalytiker Carlos Strenger, während Dan Diner, Gründungsdirektor der Simon Dubnow Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, seine kalten, differenzierten Analysen der aktueller Entwicklung in Nahost in den Kontext gegenläufiger Gründungsgeschichten setzt.
Aufzeichnung der Veranstaltung vom 12.03.2015 aus dem Schauspiel Leipzig

Das Programm:
19:00 Uhr Lesung und Gespräch mit Amos Oz, Christian Brückner liest ´Judas'
21:00 Uhr Lesungen und Gespräche mit:
  • Dan Diner: Rituelle Distanz
  • Lizzie Doron: Who the Fuck Is Kafka?
  • Gila Lustiger: Die Schuld der anderen
  • Mirjam Pressler: Dt.-israelische Beziehungen einer Übersetzerin und Autorin
  • Avi Primor: Nichts ist jemals vollendet. Autobiografie
  • Meir Shalev: Zwei Bärinnen
  • Carlo Strenger: Israel. Einführung in ein schwieriges Land
Shelly Kupferberg und Jochanan Shelliem führen durch den Abend.
Lesung: Hendrikje Fitz und Reiner Schöne
Musik: Itamar Erez Trio (Itamar Erez, Gitarre, Piano, Yshai Afterman, Percussion und Jean-Louis Matinier, Akkordeon)

50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen - Programmschwerpunkt im Deutschlandradio

Die Leipziger Buchmesse widmet ihren Messeschwerpunkt 2015 dem deutsch-israelischen Dialog. In diesem Jahr begehen Deutschland und Israel ein besonderes Jubiläum: 50 Jahre deutsch-israelische diplomatische Beziehungen. Zwanzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur und dem Völkermord an etwa sechs Millionen Juden und siebzehn Jahre nach der Staatsgründung Israels war die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen am 12. Mai 1965 eine historische Leistung. Mit ihrem Messeschwerpunkt "1965 bis 2015. Deutschland - Israel" würdigt die Leipziger Buchmesse 2015 das einzigartige Verhältnis beider Staaten.

Das Auswärtige Amt fördert den deutsch-israelischen Literaturaustausch auf Leipziger Buchmesse.
Amos Oz
Judas
Roman.
Übersetzung: Pressler, Mirjam
2015 Suhrkamp
Das Leben des jungen Schmuel Asch ändert sich im Winter 1959 von Grund auf: Seine Freundin verlässt ihn, seine Eltern melden Konkurs an, und er muss sein Universitätsstudium abbrechen. Verzweifelt findet er Unterschlupf und Arbeit in einem alten Jerusalemer Haus als Gesellschafter für einen behinderten, rhetorisch gewandten Mann. Als Schmuel sein neues Domizil bezieht, begegnet er der schönen und aufregenden Atalja Abrabanel, die beinah doppelt so alt ist wie er. Sie macht ihm unumwunden klar, dass es besser wäre, sich nicht in sie zu verlieben, andernfalls würde er seinen Arbeitsplatz sofort verlieren, wie alle seine Vorgänger.
Die drei Protagonisten des Romans wohnen zurückgezogen in dem Steinhaus am Rand der Stadt, und zunächst scheint es, als führten sie ein ruhiges Leben. Im Innern des schüchternen und sensiblen Schmuel bricht ein Sturm los. Die Begierde nach Atalja und seine Neugier wandeln sich langsam in eine verzweifelte Verliebtheit. Er beginnt wieder sich mit seiner Forschungsarbeit über "Jesus in der Perspektive der Juden" zu beschäftigen und verliert sich in dem geheimnisvollen Sog, den Judas Ischariot, die Verkörperung des Verrats und der Niedertracht, auf ihn ausübt. Und allmählich entschlüsselt er die Geheimnisse, die in diesem dunklen und einsamen Haus geistern und in die seine Bewohner auf dunkle Art verstrickt sind.
In diesem Roman kehrt Amos Oz zum Milieu einiger seiner bekanntesten Bücher wie "Mein Michael" und "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" zurück, in das geteilte Jerusalem der fünfziger Jahre. Die zarte, wilde Liebesgeschichte ist eingebettet in die Landschaft der winterlichen Stadt und in die Ereignisse am Ende der Regierung Ben Gurion. Gemeinsam mit seinem Protagonisten prüft Oz mutig die Entscheidung, einen Judenstaat zu errichten, samt den Kriegen, die sie zur Folge hatte, und stellt die Frage, ob man einen anderen Weg hätte gehen können, den Weg derer, die als Verräter gelten.
Avi Primor
Nichts ist jemals vollendet.
Die Autobiografie
2015 Quadriga
Dass Avi Primor 2013 gemeinsam mit dem Palästinenser Abdallah Frangi mit dem Friedenspreis der Stadt Osnabrück ausgezeichnet wurde, ist kein Zufall. Längst ist Primor für sein Engagement für die Aussöhnung zwischen Israel und Deutschland
bekannt. Sein Einsatz ist nicht selbstverständlich: Nur durch Zufall entging seine Mutter dem Holocaust. Aussöhnung auch zwischen Israelis und Palästinensern: Mit seiner Art, Missstände im Umgang mit den Palästinensern offen anzusprechen,
machte er sich in seiner Heimat Israel nicht nur Freunde. Hier erzählt Avi Primor von seiner Arbeit als Botschafter Israels und davon, was ihn zu dem Brückenbauer machte, als der er heute gewürdigt wird.
Dan Diner
Rituelle Distanz
Israels deutsche Frage
DVA 2015
Vor 50 Jahren haben die Bundesrepublik Deutschland und der Staat Israel diplomatische Beziehungen aufgenommen - vorläufiger Endpunkt einer dramatischen Vorgeschichte, die im Luxemburger Abkommen zur sogenannten Wiedergutmachung von 1952 ihren Ausgang nahm. In dichter Erzählung sucht der Historiker Dan Diner die Tiefenschichten jener zwiespältigen deutsch-israelischen Annäherung auszuleuchten, vor allem die politisch-theologischen Aspekte der Diskussion auf israelischer Seite nur wenige Jahre nach dem Mord an den europäischen Juden. Es geht ihm dabei um Sprache und Habitus, Fluch und Bann, um Erinnern und Vergessen, Anerkennung und Nichtanerkennung - schließlich um die Entscheidung zwischen jüdischer Tradition und israelischer Staatsraison: Durfte man mit dem Land der Mörder in Verhandlungen treten und materielle Entschädigung annehmen?
Lizzie Doron
Who the Fuck Is Kafka?
Roman
DTV 2015
Zuerst: Ein Hotel in Rom. Eine israelischpalästinensische Konferenz: Aber ist der Mann, der mit Lizzie auf dem Podium sitzt, nicht vielleicht doch ein arabischer Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürtel? Nein, Nadim pflegt nur seine Reiseunterlagen mit schwarzem Klebeband am Hosenbund zu befestigen, und dafür gibt es Gründe ...
Dann: High Heels in Ost-Jerusalem? Ein Palästinenser im vornehmen Tel Aviver Apartmentgebäude? Von Anfang an ist es eine wechselvolle Freundschaft, die sich zwischen der israelischen Schriftstellerin Lizzie Doron und dem arabisch-palästinensischen Journalisten Nadim entwickelt, begleitet von Vorurteilen und Unverständnis. Es gibt Grenzen der Verständigung. Lizzie hat den Holocaust im Gepäck, Nadim die Nakba - die große Katastrophe -, wie die Palästinenser die Folgen des 48er-Krieges nennen. Sie begreifen, dass sie dieselbe Irrenanstalt bewohnen, nur in verschiedenen geschlossenen Abteilungen. Nadims Frau ist aus Gaza, hat aber keinen Ort, an dem sie bleiben kann
Gila Lustiger
Die Schuld der anderen
Romans
Berlin Verlag 2015
Ein paar Zeilen, mehr hat der Journalist Marc Rappaport einem siebenundzwanzig Jahre zurückliegenden Mord, der jetzt durch DNA-Abgleich gelöst sein soll, eigentlich nicht zugedacht. Und doch will er mehr über die Geschichte der jungen Frau erfahren, die mit achtzehn aus der stickigen Enge ihrer französischen Industriekleinstadt nach Paris floh, um zu studieren, und dort in die Prostitution schlitterte. Dabei stößt er auf einen Skandal von schockierendem Ausmaß, der die unlösbaren Verstrickungen von Wirtschaft, Geld und Politik durchscheinen lässt. Was als klassische Ermittlungsgeschichte beginnt, entpuppt sich bald als ein atmosphärisch dichter und mit souveräner Leichtigkeit erzählter Gesellschaftsroman über ein ganzes Land und unsere Gegenwart.
"Mit großem Gespür taucht Gila Lustiger ein in die Abgründe der französischen Gesellschaft und deckt schonungslos die bleibend brüchigen Seiten des Landes auf. Gelungen ist ihr das mit Stil, Eleganz und einer dichten Sprache."
NDR Kultur.
Mirjam Pressler
Dt.-israelische Beziehungen einer Übersetzerin und Autorin
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Meir Shalev
Zwei Bärinnen
Roman
Diogenes 2014
Auge um Auge, Zahn um Zahn - ein Roman über Leidenschaft und Untreue, über Verlust, Rache und deren Sühne. Die Familie Tavori betreibt im Norden Israels in der dritten Generation eine Gärtnerei. Sie sind Menschen, die ihren Instinkten und Emotionen folgen: ihrer Liebe ebenso wie ihrem Hass. Eine erschütternde Familiensaga und ein unkonventioneller literarischer Thriller von archaischer Wucht.
Carlo Strenger
Israel.
Einführung in ein schwieriges Land
Jüdischer Verlag 2011
Staat der Juden, Land der Rätsel: Einerseits eine hochmoderne Gesellschaft mit einer lebensfreudigen, liberalen Kultur, geht Israel derzeit durch eine der schwersten Krisen seit seiner Gründung. Der Friedensprozeß liegt auf Eis, das Land ist isoliert, im Alltag leben Juden und Araber mit wechselseitiger Verachtung nebeneinander her, und der eskalierende Kampf zwischen religiösen und säkularen Juden bedroht die Grundfesten der israelischen Gesellschaft.
Ausgehend von Beobachtungen und Szenen des Alltags, eröffnet uns Carlo Strenger Einsichten in den Alltag und die Mentalität Israels - engagiert und mit wacher Beobachtungsgabe, doch ohne Idealisierung und Dämonisierung. Strenger zeigt Israel als zerrissene Gesellschaft, die grundlegende Probleme der Identität noch nicht gelöst hat. Er versucht neue, zeitgemäße Antworten auf drängende Fragen des jungen Staates zu geben: Wie soll das Verhältnis von Staat und Religion, zwischen westlicher Weltoffenheit und nahöstlicher Tradition gestaltet werden? Wie können die Spannungen zwischen Einwanderungsgruppen aus grundverschiedenen Kulturen gelöst werden? Seine Betrachtung, die zugleich ein essayistischer Reisebegleiter ist, eröffnet einen umfassenden Blick auf die Widersprüchlichkeit Israels - aber auch auf die Möglichkeit einer Wahrnehmung des Landes jenseits von Schuld, Gegenschuld und dem Kampf der Monotheismen.