50 Jahre Disco

Emanzipation auf dem Dancefloor

Ein Club mit der Aufschrift Studio 54, davor eine Menschenmenge.
Ein Club, der Geschichte schrieb: das Studio 54 in Midtown Manhattan, New York. © Sygma via Getty Images / antoinette norcia
Als 1974 der erste Disco-Hit erschien, war es der Beginn einer Revolution. Unter der Discokugel waren alle gleich – Männer, Frauen, Hetero- und Homosexuelle. Doch kurz nach dem kommerziellen Durchbruch kam auch das Ende der Szene.
Anfang der 1970er macht in den USA ein neuer Sound die Runde. Songs wie "The Love I Lost" von Harold Melvin & The Blue Notes verbinden tanzbaren Rhythm & Blues mit einem durchgehenden 4-to-the-floor-Beat.
Im Juli 1974 veröffentlicht George McCrae sein Stück "Rock Your Baby", das heute als erster großer internationaler Disco-Hit gesehen wird. Zu diesem Zeitpunkt tanzt zu Disco noch eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft. Das wird sich schon bald ändern.
Einer der Pioniere der neuen Bewegung ist der New Yorker Partyveranstalter David Mancuso. Von 1970 bis Juni 1974 finden im zweiten Stock des alten Lagerhauses, das er illegal bewohnt, die "Loft"-Partys statt.
Ein junger Mann mit Bart steht mit verschränkten Armen da.
Wird mit seinen Loft-Partys zum Mitbegründer der Disco-Bewegung: David Mancuso.© Getty Images / Allan Tannenbaum

Fruchtsaft und LSD: Der Underground tanzt

Vorbild für die Loft-Partys sind die in der New Yorker Black Community bewährten House Rent-Partys. Die Besucher zahlen lediglich einen kleinen Beitrag, Türsteher gibt es ebenso wenig wie einen Dresscode. Statt Alkohol, für den Mancuso eine Ausschanklizenz benötigt hätte, gibt es Obst, Fruchtsaft und LSD. Mit dem Erlös aus den Loft-Partys kann Mancuso seine Ausgaben decken.
Die erste Loft-Party findet am 14. Februar 1970 statt, laut der britischen Tageszeitung The Guardian die "erste Underground-Tanzparty in New York" überhaupt. Mancuso sagt später über seine Anfänge: "Geld oder Ruhm interessierten mich nicht. Ich wollte Party machen."
Mancusos Freundeskreis besteht aus Menschen jeder Herkunft und sexuellen Orientierung. Er schafft das, was man heute einen safe space nennen würde: einen egalitären Raum für Musik und Tanz mit einer inklusiven und diversen Mischung an Gästen. Sein Loft ist eine Alternative zur kommerziellen Nachtclubszene der Stadt und Blaupause für zukünftige LGBT- und Hetero-Partys und -Clubs.
Frauen und Männer tanzen in Leder-Unterwäsche, eine Frau ist bemalt und als Fabeltier verkleidet.
Anfangs sind Discos geschützte Räume für Unangepasste. Hier das "Copacabana" in New York.© Getty Images / Allan Tannenbaum

Die Macht der DJs

Anfangs dürfen sich die Leute Songs wünschen und ihre eigenen Platten mitbringen. Doch mit der Zeit gewinnen die DJs an Bedeutung und Einfluss. Sie entwickeln Techniken wie Mixing und Beatmatching, um die Menge zum Tanzen zu bringen.
Einer, der bei Mancuso seine Sporen verdient, ist der blutjunge Nicky Siano, der später neben David Rodriguez und Larry Levan zu einem der wichtigsten Disco-DJs avanciert. Was bei ihnen in der Heavy Rotation läuft, ist angesagt.
So wird die Plattenindustrie auf den neuen Sound aufmerksam: "Ohne das Radio lief gar nichts. Wir boten die Alternative, konnten eine Platte über Verkäufe in die Charts hieven, weil wir sie ununterbrochen in den zehn oder elf Klubs spielten, die es damals gab."
Das DJ-Pult einer Disco thront hoch über dem Dancefloor.
Wuchtige Kanzel: Das DJ-Pult des Studio 54.© Bettmann Archive via Getty Image / Bettmann

Ein Land im Samstagnachtfieber

Ab Mitte der Siebziger ist das ganze Land im Disco-Fieber. 1977 eröffnet Steve Rubell das legendäre Studio 54. Schon im selben Jahr mischen sich die Reichen und Schönen unters tanzende Volk. Jeder Promi, der etwas auf sich hält, ist da: Andy Warhol, Rod Stewart, Liza Minelli, Jerry Hall, Sylvester Stallone … Die Liste ließe sich endlos weiterführen. Rubell entscheidet höchstpersönlich an der Tür, wer rein darf und wer nicht.
Lächelnde Menschen in Partystimmung, eine Frau trinkt Champagner aus der Flasche.
Andy Warhol (Mitte links) und Jerry Hall (Mitte rechts) waren Dauergäste im Studio 54.© picture alliance / United Archives / KPA
Der lebensbejahende Sound und die exzessiven Partys der Disco-Szene sind eine willkommene Abwechslung von der Krisenstimmung in den USA. Denn das Land ist so gut wie pleite, die Kriminalität nimmt drastisch zu. Der Glamour der Disco-Divas steht im krassen Gegensatz zur Lebensrealität vieler Amerikanerinnen und Amerikaner.
Eine Frau und spärlich bekleidete Tänzer sind auf der Bühne ineinander verschlungen.
Grace Jones performt 1977 im Studio 54.© Getty Images / Sonia Moskowitz
Der unerwartete Mega-Erfolg des Tanzfilms „Saturday Night Fever“ mit dem Soundtrack der Bee Gees katapultiert Disco-Musik endgültig in den internationalen Mainstream. Alle wollen tanzen wie John Travolta und Karen Lynn Gorney.
Disco-Tanzkurse sind ausgebucht, etablierte Rockbands wie die Rolling Stones versuchen sich in dem neuen Sound, selbst der fast 70-jährige Frank Sinatra nimmt eine Disco-Version des Golden Age-Klassikers „Night And Day“ auf.
Ein Mann und eine Frau tanzen miteinander unter einer Discokugel.
Tanzpaar der Stunde: John Travolta und Karen Lynn Gorney in "Saturday Night Fever".© imago images / Mary Evans
Pioniere wie Earl Young, der den 4-to-the-floor-Beat entwickelt hat, geraten immer weiter in den Hintergrund. Harry Wayne Casey von KC & The Sunshine Band sagt über diese Zeit: „Saturday Night Fever sorgte dafür, dass Disco über Nacht in aller Munde war. Alle sprachen von der Disco-Revolution, und plötzlich wurde alles, was wir erfunden hatten, mit anderen Leuten in Verbindung gebracht. Und ja, das tat schon ein bisschen weh.“
Jetzt reicht allein das Wörtchen „Disco“ auf einem Plattencover, um hunderttausende Alben über den Ladentresen wandern zu lassen. Nicky Siano beschreibt den Ausverkauf so: „So viel Kokain, so viele Drogen hatte ich noch nie gesehen. Überall wurde wild gevögelt. (…) In den frühen Seventies war alles so gelaufen: Sei offen für alles, genieße, feiere das Leben. Aber das hier war das genaue Gegenteil: Missbrauche dich, missbrauche das Leben, missbrauche alle, die nicht bei drei auf den Bäumen sind.“

Disco international

In Europa entwickelt sich der Disco-Sound nahezu zeitgleich. In Schweden gewinnt 1974 eine junge Band namens ABBA mit ihrem Song „Waterloo“ den Eurovision Song Contest. 1975 tüftelt in München der findige Südtiroler Giorgio Moroder an einer Maxi-Version von Donna Summers „Love To Love You Baby“ herum, einer Auftragsproduktion des US-Plattenmoguls Neil Bogart.  
Ein Pianist, zwei Sängerinnen und ein Gitarrist gemeinsam auf der Bühne.
ABBA 1974 beim Eurovision Song Contest.© imago / TT / Olle Lindeborg
Moroders Version, bei der Summer immer wieder einen Orgasmus simuliert, ist ein Skandal, ein Dancefloor-Banger und ein Riesenhit. „Ein im besten Sinne schamloser, mehr noch: feministischer Song über weibliche Wünsche, weibliche Lust“, beschreibt es Sky Nonhoff bei Deutschlandfunk Kultur. „Ich musste nur Love To Love You Baby auflegen, so der legendäre DJ Ron Hardy, und schon trieben es die Leute auf den Gängen.“
Moroders „Multi-Orgasmus-Hymne“ ist es auch, die die sogenannte Eurodisco-Welle auslöst. Kurze Zeit später sorgen neben ABBA auch die Österreicher Supermax oder Frank Farians Gruppe Boney M. für Furore auf den Dancefloors vom Nordkap bis Sizilien.
Ein Mann mit Schnurrbart und Sonnenbrille und eine Frau lächelnd auf einem Sofa.
Den Schnurrbart trägt er immer noch: Giorgio Moroder mit der 2012 verstorbenen Disco-Queen Donna Summer.© Redferns / Echoes

Von der Industrie überrollt

Bei den international erfolgreichen Village People, einer in New York zusammengecasteten Gruppe des französischen Produzenten-Duos Jacques Morali und Henri Belolo, ist auch schon die Persiflage von Disco mit angelegt.
Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre übersättigt die Musikindustrie schließlich den Markt mit lieblos und billig produzierten Tracks. Disco verkümmert zur Pose und verliert seine subversive Kraft. Aus dem Sound der Ausgegrenzten ist die Hitmaschine der Mehrheit geworden.

Disco ist tot! Es lebe Disco!

1979 sagt eine Gegenbewegung, angeführt von Rockfans um den Radiomoderator Steve Dahl, Disco schließlich den Kampf an. Für Dahls Truppe ist Disco ein allzu aufreizender afroamerikanischer Groove, der die „ehrliche weiße Rockmusik“ abschaffen will.
Am 12. Juli 1979 sprengt er im Chicagoer Sportstadion vor 70.000 grölenden Zuschauern einen gigantischen Stapel Disco-Platten in die Luft. Das Ganze wird medienwirksam live im Fernsehen übertragen.
Als die Disco-Szene schließlich stirbt, wandern junge DJs wie der New Yorker Frankie Knuckles ab nach Chicago. Dort entwickeln sie – wieder in leerstehenden Lagerhäusern – einen völlig neuen Underground-Sound, der das Erbe von Disco antreten wird: House Music. Die Gemeinsamkeit ist der durchgehende 4-to-the-floor-Beat, der von der Bassdrum auf jeder Zählzeit betonte 4⁄4-Takt.
Ein Mann steht an einem DJ-Pult und legt den Arm mit der Nadel auf eine Platte.
House Music-Pionier in Chicago: Frankie Knuckles.© Getty Images / Steve Eichner
Auch heute, im Jahr 2024, lebt Disco weiter – nicht nur in Retro-Disco-Popsongs wie „Dance The Night“ von Dua Lipa, sondern auch in innovativer Electronic Dance Music und zahlreichen weiteren Genres.  
pj
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