50 Jahre "Imagine"

Friedenshymne mit menschlichem Abgrund

08:31 Minuten
Schwarzweiß Aufnahme von John Lennon mit Kopfhörern und am Mikrofon
Gegen Nationalstaat und Kapitalismus: Der Song "Imagine" war auch eine deutliche weltanschauliche Wende von John Lennon. © picture alliance / KPA / United Archives
Jens Balzer im Gespräch mit Mascha Drost · 09.09.2021
Audio herunterladen
Ode an den Idealismus oder schlimmer Kitsch: Die Meinungen zu John Lennons Song "Imagine" gehen auseinander. Für den Journalisten Jens Balzer zeugt das Lied auch von politischer Radikalisierung. Und von der Zerrissenheit des Menschen und der Kunst.
Am 9. September 1971 – vor genau 50 Jahren – erschien das Album "Imagine" von John Lennon. Das Titelstück wurde zu seinem bekanntesten Song. Für die einen ist es die ultimative Friedenshymne und eine Ode an den Idealismus. Für die anderen ist es der schlimmste Kitsch, den es gibt.
"Idealismus und Kitsch müssen einander nicht ausschließen, schon gar nicht in der Popmusik", sagt Musikjournalist Jens Balzer. Das bei vielen schlechte Image von "Imagine" liege aber auch an der "nicht endenden Flut von schlechten Coverversionen, die davon existieren".
Als das Album mit dem Song 1971 erscheint, wird es als Statement gegen den Vietnamkrieg gewertet. "Imagine all the people / Livin’ life in peace" heißt es darin. "Die Menschen sollen sich erstmal vorstellen, wie es wäre, wenn alles wegfällt, weswegen man Kriege führt."
Der Song beginnt mit "Imagine there’s no heaven", das bedeute, so Balzer: "Stell Dir vor, es gibt keinen Himmel, also: keine Religion, keine Götter, nichts Transzendentales." Dann geht es weiter: "Imagine there's no countries" – also: "Keine Nationen, keine Grenzen". Und: "Imagine no possessions" – "Stell dir vor, es gibt kein Eigentum mehr."
Man könne das "als naive Friedenshymne hören, aber auch als konkretes politisches Programm: gegen Religion, gegen die nationalstaatliche Ordnung der Welt, gegen den Kapitalismus". Das sei eine deutliche weltanschauliche Wende, die man da hört, erklärt Balzer:
"Zum Beispiel Religion: Die fand Lennon gerade mal drei Jahre vorher noch ganz prima. Da waren die Beatles alle miteinander nach Indien gereist. Zu einem Guru der Transzendentalen Meditation. Von dem Antikapitalismus, den er hier jetzt predigt, war damals auch noch keine Rede."

Dokument einer politischen Radikalisierung

In "Revolution No.1" vom "White Album" habe Lennon sich noch ausdrücklich von den radikalen Teilen der Studentenbewegung distanziert. Man solle lieber das Bewusstsein befreien, statt Plakate des Großen Vorsitzenden Mao herumzutragen, hieß es da.
Allerdings habe er bei diesem Thema inzwischen eine Kehrtwende vollzogen gehabt. Zu hören sei diese auf der nicht so bekannten Single "Power to the People", die im März 1971 direkt vor "Imagine" herauskam.
"Nach der Trennung der Beatles hat Lennon ausdrücklich die Nähe der radikalen Linken gesucht", sagt Balzer. Davon sei auch schon sein erstes Soloalbum danach geprägt gewesen. Auf "John Lennon / Plastic Ono Band" gab es auch den Song "Working Class Hero".
"Imagine" sei das Dokument einer politischen Radikalisierung, auch wenn man das nicht sofort hört. Es sollte "so überzuckert und eingängig wirken, wie es jetzt klingt", so Balzer. "Es war geradezu das ausdrückliche Ziel auf ‚Imagine‘, diese neuen, politisch radikalen Botschaften in einer angenehmeren, publikumsfreundlicheren Form unter die Leute zu bringen."

"Zerrissenheit der menschlichen Existenz und der Kunst"

Dass dieses Ziel verwirklicht wurde, sei zu einem Großteil dem Produzenten des Stücks zu verdanken: Phil Spector. "Er war der Mann, der wesentlichen Anteil daran hatte, dass ‚Imagine‘ zu dieser schwülstigen, herzergreifenden Großhymne für den Frieden wurde."
Gleichzeitig habe Spector seine Ehefrau Veronica Bennett jahrelang sexuell missbraucht und in der gemeinsamen Wohnung eingesperrt. Außerdem habe er 2003 eine Frau erschossen, die ihm sexuell nicht gefügig sein wollte. Bis zu seinem Tod Anfang dieses Jahres saß Phil Spector im Gefängnis. "Das hat bei den ganzen Huldigungen von ‚Imagine‘, soweit ich sehe, bisher kaum eine Rolle gespielt", sagt Jens Balzer.
Man sollte den Song mit dem Wissen darum hören, so Balzer. "Dann hört man nämlich ein Stück, das nicht nur irgendwie zwischen Friedensbewegungshymne und Kitsch oszilliert, sondern unter dem sich auch ein menschlicher Abgrund auftut."
Das bedeutet: "In diesem scheinbar so einfachen Lied spiegelt sich, wohlwollend ausgedrückt, die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der menschlichen Existenz und der Kunst. Oder, wenn man es schärfer formulieren möchte: Die Verlogenheit, die zum Pop schon immer dazugehört hat."
(abr)
Mehr zum Thema